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# taz.de -- Ballkultur: "Zidane bin ich"
> "Die Geste" - nennt der Autor Jean-Philippe Toussaint den Kopfstoß, den
> Zidane dem Italiener Materazzi beim WM-Endspiel 2006 verpasst hat. Nun
> hat er den Moment literarisch verarbeitet.
Bild: Der Stoß, den es laut Toussaint so nie gegeben hat
taz: Herr Toussaint, Zidanes Geste, so schreiben Sie, habe niemals
stattgefunden. Sie selbst waren im Berliner Olympiastadion an jenem 9. Juli
2006, vor fast genau einem Jahr also. Wann haben Sie die Szene zum ersten
Mal gesehen? Bereits vor Ort? Auf einem Monitor? Oder erst später?
Jean-Philippe Toussaint: Nun, das ist möglicherweise das große Paradoxon,
das mich erst dazu gebracht hat, dieses Buch überhaupt zu schreiben: Die
ganze Welt vor dem Fernseher hat Zidanes Kopfstoß gesehen - im Stadion aber
hat ihn niemand wahrnehmen können; der Ball war ja an einer ganz anderen
Stelle, das Spiel ging weiter, dorthin schauten alle: Schiedsrichter,
Spieler, Zuschauer. Es gab keinen Grund dafür, in diesem Moment ein
Foulspiel oder Ähnliches zu vermuten. Für uns alle war die Rote Karte
zunächst eine große Ungerechtigkeit. Genau hier liegt mein Ansatzpunkt. Ich
habe vor einigen Jahren ein Buch geschrieben, das "Fernsehen" heißt und in
dem ich mich sehr kritisch gegenüber diesem Medium geäußert habe. Ich war
immer der Ansicht, dass das Fernsehen lügt. In diesem Fall muss ich das
zurücknehmen - man konnte nicht seinen eigenen Sinnen vertrauen, sondern
nur dem Medium. In der Realität hat tatsächlich nichts stattgefunden. Erst
am nächsten Tag habe ich erfahren, dass es einen Kopfstoß gab. Zu dieser
Realitätsverschiebung passt ja, dass auch die Schiedsrichter die Szene
angeblich nur am Monitor gesehen und daraufhin eine Entscheidung getroffen
haben sollen.
Bei Zidanes Tat ging es Ihrer Ansicht nach um Form und Melancholie. Was
meinen Sie damit?
Ich muss dazu etwas Grundsätzliches sagen: Ich habe einen rein
literarischen Text geschrieben, der sich jedes Urteils enthält, der nichts
mit den Kategorien "Gut" oder "Böse" zu tun hat, sondern der auf Zidanes
Geste, wie ich sie nenne, mit der Geste des Schriftstellers antwortet, der
sich in seine Figur hineinversetzt.
Sie begreifen Zidanes Geste als eine Weigerung, den Kreis zur Legende hin
zu schließen und sich selbst unsterblich zu machen. Kann man diesen
Kopfstoß als einen aggressiven Akt gegen das eigene Verschwinden
bezeichnen?
Ja, möglicherweise. Jedenfalls begreife ich Zidanes Handlung nicht als
dezidiert aggressiven Akt gegen seinen Gegenspieler. Sie werden ja
sicherlich bemerkt haben, dass dieser in meinem Buch keinen Namen hat; das
ist entscheidend. Zidane ist allein in meinem Text. Und die Aggressivität
richtet sich in dieser Einsamkeit zwangsläufig letztendlich gegen sich
selbst.
Schwingt dabei aber nicht auch der Gedanke mit, dass Zidane mit Ende des
Spiels seine Karriere beendet hat und im Normalfall still und leise in der
Halle der Helden auf einem Sockel verschwunden wäre?
Ja, ganz sicher. Zidanes Abgang ist, literarisch gesprochen, ein offenes
Ende, weil er sich unmissverständlich einem glücklichen Ausgang, einem
Happy End verweigert. Ich versuche, in meinem Buch die unterschiedlichsten
Genres miteinander zu vermischen, um Zidanes Handlung verständlich zu
machen - es ist, auf wenigen Seiten, eine literarische Erzählung, es ist
gleichzeitig ein Essay und auch eine Psychoanalyse. Mir kam auch sofort der
Gedanke an meinen ersten Roman, "Das Badezimmer", in dem der Held sich,
ebenfalls aus einer Haltung der Verweigerung, in seinem Badezimmer
verschanzt. Auch das kommt mir, gerade im Nachhinein, als eine aggressive
Haltung vor, aggressiv zumindest gegenüber seiner Umwelt.
Es gibt die von Ihnen angesprochene Ambivalenz zwischen dem Verschwinden
als Geste und dem konkreten Verschwinden, dem Abgang vom Fußballplatz. Ist
Zidane ein Fliehender und mithin eine typische Toussaint-Figur?
Absolut. Wenn es Zidane nicht gäbe, würde ich ihn gerne in einen meiner
Romane hineinerfinden. Ich habe verstanden und nachvollziehen können, was
er getan hat. Es gibt den berühmten Satz von Flaubert, "Madame Bovary, cest
moi." Analog dazu kann ich sagen: "Zidane, cest moi." Wenn ich genau
überlege, ist das eigentlich die wichtigste Aussage meines Textes.
Sie sagen, die Geste sei "jenseits der moralischen Kategorien von Gut und
Böse angesiedelt." Zidane ist doch nicht ein außerhalb aller Kategorien
stehendes Opfer, sondern das genaue Gegenteil. Oder nicht?
Ich habe natürlich die Diskussionen in den Tagen nach dem Finale verfolgt,
aber all das hatte einen anderen Zugang als den, den ich gewählt habe. Ich
bin kein Journalist, ich bin Schriftsteller. Und als solcher erkläre ich
nicht und richte auch nicht. Man kann Zidanes Geste selbstverständlich aus
den unterschiedlichsten Blickwinkeln beurteilen, auch aus dem des Juristen
zum Beispiel. Aber das interessiert mich als Autor nicht.
Es gibt in Ihrem Buch eine sehr schöne Szene, die wiederum nicht im
Fernsehen, sondern nur in der Realität zu sehen war: Buffon, der
italienische Torhüter, geht, während alle auf eine Entscheidung warten, zu
Zidane und streicht ihm über Schädel und Nacken.
Es sah aus wie die Salbung eines Neugeborenen. Ich glaube, dass ich diese
Szene nicht erfunden habe. Aber ich bin nicht ganz sicher. In meiner
Erinnerung habe ich diese Situation mit meinem Fernglas erkannt. Vielleicht
habe ich sie aber auch erfunden, weil sie so schön ist, dass sie nur wahr
sein kann. Im Nachhinein wäre es mir fast lieber, ich hätte sie erfunden.
Aber letztendlich ist es vollkommen unwichtig. In dem Augenblick, in dem
ein solcher Moment literarisiert wird, wird er ohnehin in eine andere,
weitreichendere Aussage verwandelt.
Ist Zidane heute, ein Jahr später, noch ein Thema? Und hat er sich
irgendwann einmal zu dieser Situation geäußert?
Er ist immer weniger ein Thema. Unmittelbar nach dem Spiel war die Hysterie
groß; es gab im Internet Spiele, in denen man den Kopfstoß an Materazzi
nachstellen konnte, aber all das hat sich mittlerweile gelegt. Zidane hat
ein Interview gegeben, in dem er sich entschuldigt hat, vor allem deshalb,
weil er ein schlechtes Beispiel für die Jugend gewesen sei, aber was die
näheren Umstände betrifft, hat er sich äußerst bedeckt gehalten. Materazzi
hat ein Buch herausgebracht, in dem er ankündigte, er werde enthüllen, was
er wirklich zu Zidane gesagt habe. Darin standen dann Sätze wie "Mein
Ferrari ist schöner als deiner" oder "Deine Achsel stinkt nach Roquefort"
oder auch "Die französische Philosophie ist seit Sartre tot".
Ist Zidane für Sie ein Held? Eine tragische Figur? Oder beides zugleich?
Er ist in erster Linie eine literarische Figur. Bis zum Zeitpunkt des
Finales war er ein großartiger Fußballer, aber noch keine Ikone im Sinne
Warhols. Dadurch, dass Zidane jetzt zu einem Gegenstand der Kunst geworden
ist, ist er auch zu einer Ikone geworden. Oder, wie es im Buch heißt:
"Unfähig, sich mit einem weiteren Tor zu verewigen, verewigte er sich in
unserer Erinnerung."
INTERVIEW: CHRISTOPH SCHRÖDER
6 Jul 2007
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