# taz.de -- Aus der Verdrängungshölle | |
> GESELLSCHAFTSDRAMA Die Norweger Vegard Vinge und Ida Müller inszenieren | |
> in der Volksbühne im Prater den vierten Teil ihrer Ibsen-Saga. „John | |
> Gabriel Borkman“ ist das radikalste Theaterereignis seit langer Zeit | |
VON ANNE PETER | |
Kastanienallee, nachts um halb zwei. Ich wanke, erschöpft und begeistert | |
zugleich, aus dem Prater. Hinter mir liegen fünfeinhalb pausenlose, mit | |
„John Gabriel Borkman“ überschriebene Stunden Extremtheater. Es soll dem | |
Vernehmen nach noch bis sieben Uhr morgens weitergewütet haben. | |
Genialisches Berserkertum, lärmende Oper, expressionistischer | |
Geisterbahnhorror. In diesem sinnenverstörenden Ibsen-Marathon krakeelen | |
sich, unter Anleitung des norwegischen Duos Vegard Vinge und Ida Müller, | |
maskierte Zombiefiguren in einem treppenverwinkelten Papppuppenhaus die | |
Obsessionen aus dem Leib. | |
Diese Untoten blähen die Ibsen’schen Figuren ins zeichenhaft Monströse, | |
ihre Konflikte ins Archetypische auf. Ihre Schritte und Gesten werden vom | |
Technikpult aus mit Knirschen und sonstigen Kunstgeräuschen synchronisiert, | |
die Stimmen sind mikrofonverzerrt. | |
Das Team betreibt jede Menge Spontanaktionismus, zerhaut Teile der Bühne | |
und den „Borkman“ in tausend Szenenstückchen. Manische Wiederholung | |
einzelner Sätze zerdehnt diese bis ins Nervtötende, Zeichen werden | |
hineingemanscht und die Chronologie des Stückes verwirbelt, ohne dass es | |
jedoch zur Unkenntlichkeit entstellt würde. Eine Zusammenfassung der | |
Handlung wird zwischendurch auf den Vorhang projiziert. | |
Musikalische Leitmotive tragen die Figuren, ein furioser Soundtrack | |
zwischen unerträglicher Dröhnung und zarter Klassik, Wagner und Techno. | |
Leitmotivisch funktionieren auch die Textfetzen. „Mir ist so kalt“ und | |
„Acht Jahre“, zetert Gunhild immer wieder. Womit schon die Anfangsszene die | |
ganze Einsamkeit und Schmach jener Jahre umreißt, in denen der | |
Ex-Banker-Gatte wegen Veruntreuung im Gefängnis saß, inklusive der eisigen | |
Ehehölle, in der man hernach nebeneinander her vegetiert. „Liebe, Liebe, | |
Liebe“, singt hingegen Schwester Ella, Borkmans große Liebe, auf die er | |
einst aus Karrierekalkül verzichtete. | |
## Nicht ganz jugendfrei | |
Vinge/Müllers „Nora“ holte vor zwei Jahren das (auch diesmal kooperierende) | |
Nordwind-Festival ans HAU, ihre „Wildente“ lief als Tagelang-Performance an | |
der Volksbühne. „Borkman“ ist der vierte Teil dieser „Ibsen Saga“. Und… | |
er ist kaum darauf angelegt, in Gänze rezipiert zu werden. Pausen und Ende | |
müssen wir uns selbst suchen. Einige flüchten schnell, andere kommen mit | |
Bier oder Hotdogs zurück, die im Unterbau der Zuschauertribüne angeboten | |
werden. Zu später Stunde schleudert Vinge Chipstüten ins Publikum. | |
Ansonsten treibt er auf der Bühne diverse nicht ganz jugendfreie Dinge. | |
Unter 18 kommt man hier nicht rein. „Das perverseste Theater-Stück | |
Berlins“, titelte reflexhaft die Bild-Zeitung. Dabei ist dieses | |
hochkomplexe, technisch ausgeklügelte Gesamtkunstwerk weit mehr als die | |
Summe jener Skandalmomente, in denen sich der Regisseur in den Mund | |
uriniert, sich live seiner Schamhaare entledigt oder sich zu besonderem | |
Action-Painting einen Pinsel in den Anus schiebt. | |
Nein – das ist nicht bloß zweckfreie Provokation. So tritt in dieser | |
„Borkman“-Version das Inzestuöse der Mutter-Sohn-Ersatzliebe zwischen | |
Gunhild und Erhart, die das Vakuum zwischen den Eheleuten füllen muss, | |
genauso klar zutage wie die Gewaltsamkeit des Borkman’schen Liebesverrats | |
an beiden Frauen. | |
Die hoch aufgetürmten Assoziationen und Deutungsangebote lassen sich | |
keineswegs alle auf einen roten Faden fädeln. Es sind Schlaglichter auf die | |
Verdrängungshölle Ibsens, die uns nicht selten direkt aus der Gegenwart | |
entgegenblenden. Sprössling Erhart, mit dem die drei Alten ihre jeweils | |
eigenen Pläne haben, hockt einmal in seinem Jugendzimmer und ruft „Ich will | |
nicht arbeiten!“, während die Mutter-Vampire ihn von beiden Seiten durch | |
die Tür bedrängen. Hier keift Gunhild, dort wimmert die krepierende Ella, | |
die Erhart einst aufgezogen hat. Was für ein gruselig treffliches Bild auch | |
für unser demografisches Dilemma! | |
Ein andermal streckt Vinge als Amokläufer im Wagner-T-Shirt ein ganzes | |
Bataillon Senioren nieder – eine drastische Spiegelung der Erhart’schen | |
Emanzipationsbestrebungen? Später rennt er im Embryo-Outfit gegen eine | |
mannshohe Vagina an, während Gunhild nebenan in Geburtswehen stöhnt – der | |
Mutterschoß als Verließ, in dem Geburt und Abnabelung kläglich scheitern. | |
Das alles passt bestens in die Volksbühne. Es ist das merkwürdigste, | |
radikalste, krasseste, durchleidenswerteste Theaterereignis, das seit | |
Langem zu erleben war. Und schlägt in diesen eher faden Berliner | |
Saisonauftakt ein wie eine Bombe. | |
■ Nächste Termine: 4., 6., 11., 13., 18., 20., 25. und 27. November, | |
Beginn: 16 oder 19 Uhr, Volksbühne im Prater | |
31 Oct 2011 | |
## AUTOREN | |
ANNE PETER | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |