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# taz.de -- Aufbruch in einzelkämpferische Zeiten
> FILM Eine Langzeit-Doku von Andreas Voigt dokumentiert die Ernüchterung
> und Migration Leipziger Bürger_innen nach 1989
Bild: Die kämpferisch hochgegelte Frisur ist geblieben: Die ehemalige Hausbese…
von Silvia Hallensleben
New York hat Woody Allen. Ein kleines Dorf im Oderbruch wurde in zwanzig
Folgen von „Die Kinder von Golzow“ verewigt. Und die Stadt Leipzig fand
gleich zwei großartige Dokumentaristen, die hier seit den Wendejahren immer
wieder gefilmt haben. Verdient hat sich die Stadt das mit ihrer zentralen
Rolle beim Aufbruch im Herbst 1989, die damals auch die beiden
Defa-Dokumentaristen Gerd Kroske und Andreas Voigt aus Berlin anlockte, um
den Dokumentarfilm „Leipzig im Herbst“ zu drehen.
Danach hatten beide Feuer gefangen und machten mit ihren Soloprojekten
weiter. Kroske mit seiner im VEB Stadtreinigung wurzelnden
„Kehraus“-Trilogie von 1990. Andreas Voigt und Kameramann Sebastian Richter
mit einer Serie von Filmen, die einige Leipziger mit zunehmender
Ernüchterung durch die Zeitläufte und dann auch bei ihrer Migration nach
Westen begleiten. Dabei sind die Titel wie „Glaube Liebe Hoffnung“ (1994)
oder „Große Weite Welt“ (1997) viel sarkastischer als die Filme selbst, die
ihre Helden und Heldinnen mit empathischer Neugier begleiten. Der
Filmemacher selbst ist mit seinen Fragen nie sichtbar, präsent hingegen
aber oft.
Drei der alten Helden kommen nun in „Alles andere zeigt die Zeit – In
Leipzig und anderswo 1989–2015“ für eine Filmlaufzeit wieder zusammen. Aber
das stimmt nicht ganz: Denn die einst mit der Staatssicherheit verstrickte
und viele Jahre mit Depressionen ringende Journalistin Renate Florstedt
schied 2001 durch Suizid aus dem Leben und wird im Film durch ihre Tochter
Jenny vertreten, die auf den Spuren der Familiengeschichte bei der
Stasi-Unterlagen-Behörde recherchiert.
Ein Wiedersehen aber gibt es mit Sven, dem politisch wankelmütigen
Tattoo-Afficionado. Der war zur Wendezeit frisch verheiratet und ging
schon Anfang der Neunziger erst zur Bundeswehr und dann zur Arbeit ins
Rheinland, wo er nun allein von Hartz IV lebt. Und die ehemalige
Hausbesetzerin Isabel hat es etwas später ins Schwäbische verschlagen, wo
sie dann ausgerechnet zur sportlich Audi-fahrenden selbstständigen
Insolvenzberaterin aufstieg. Nur die kämpferisch hochgegelte Frisur ist aus
den Punkerjahren geblieben. Und irgendwo weit, weit drinnen wohl auch die
wehmütige Erinnerung an eine weniger einzelkämpferische Zeit.
Als sie 1996 frisch im Häuslebauerland angekommen war, formulierte sie
dieses Leiden am kapitalistischen Prinzip von Leistung und Gegenleistung
als schwerste Lernerfahrung in der neuen Heimat noch deutlich: Eine
Erfahrung, die sie mit Sven (und faktisch auch dem Filmemacher Andreas
Voigt, der ebenfalls nach der Abwicklung der Defa auf den freien Markt
geworfen wurde) verbindet. Doch während Isabel mit ihren neuer Identität
als Unternehmerin (“eine Art, Verantwortung zu übernehmen“) in alleiniger
Gesellschaft einer „pflegeleichten“ eingesperrten Vogelspinne (“die redet
nicht“) schon früh die Flucht nach vorne angetreten hat, hofft Sven nach
vielen fremd und selbst verschuldeten Rückschlägen in Wuppertal noch einmal
auf einen Neuanfang. Auch er würde gern gesellschaftliche Verantwortung
übernehmen, wird bei seinen Bewerbungen als Wachmann aber von seinem
Vorstrafenregister blockiert.
Im Oktober hatte „Alles andere zeigt die Zeit“ DOK Leipzig eröffnet, unter
anderem mit einer öffentlichen Vorführung in der überfüllten Osthalle des
Hauptbahnhofs, während draußen vor dem Gebäude die Legida paradierte. Jetzt
hat der Dokumentarfilm seine Kinopremiere. Bewegend die differenziert
festgehaltenen Hoffnungen und Enttäuschungen der Geschichte(n).
Beeindruckend aber auch die Bändigung des komplexen, quer durch Zeiten und
Orte reichenden Materials durch eine Montage, die immer wieder neue Pfade
und Bezüge von den unmöbliert kargen Straßen des Noch-DDR-Leipzigs ins
Heute findet und sich dabei niemals verliert. Am Ende, so viel sei hier
vorgegriffen, geht Sven zurück in seine Heimatstadt, um dort den
verwitweten Großvater zu betreuen. Dafür hat er dann sogar eine Umschulung
sausen lassen. Ein fast trotziges (vielleicht letztes) Eintreten für die
seit dem jugendbewegten Aufbruch gepflegten Werte von Gemeinschaft und
Solidarität. Bitter, dass diese aktuell fast nur noch im privaten Rahmen
von Familie (oder etwa in einem Ehrenamt) lebbar zu sein scheinen.
„Alles andere zeigt die Zeit“: fsk Kino, Segitzdamm 2, 31. 1. um 15. 30 Uhr
& 7. 2 um 16 Uhr, am 31. 1. mit anschließendem Filmgespräch mit dem
Regisseur Andreas Voigt
28 Jan 2016
## AUTOREN
Silvia Hallensleben
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