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# taz.de -- Athletica aeterna im Zwielicht
> ■ Die moralische Entwicklung der Leichtathletik konnte mit der
> technischen nie Schritt halten / Ein Gespräch mit dem Bonner
> Sporthistoriker Professor Hajo Bernett (72)
Rund 2.000 Athleten und 1.000 Betreuer aus 180 Nationen haben sich in
Stuttgart eingefunden. In der schwäbischen Landeshauptstadt geht die vierte
Weltmeisterschaft der Leichtathletikgeschichte über die Bühne. Wegen
Einnahme unerlaubter Mittelchen fehlen von 20 Titelverteidigerinnen fünf:
Katrin Krabbe (100m und 200m), Zwetanka Christowa (Diskus), Tatjana
Dorowskitsch (3.000m) und Ludmilla Naroschilenko (100m Hürden). Die Männer
waren entweder sauberer oder cleverer, jedenfalls bleibt keiner der 24
Weltmeister von 1991 Stuttgart wegen Dopings fern. Manipuliert wurde
bereits Anfang des Jahrhunderts, als die junge Sportart noch in den
Kinderschuhen steckte. Sponsoren gab es auch schon. Vereinnahmung auch.
Also: Alles schon einmal dagewesen?
taz: Was fasziniert Sie bei der historischen Betrachtung der Leichtathletik
am meisten? Der „Rennkorken“, den die Läufer einst zwecks vermeintlicher
Leistungssteigerung in der Hand trugen?
Hajo Bernett: Die kontinuierliche Verbesserung der Bewegungsabläufe hat die
Leichtathletik, die anfangs lediglich ein reizvoller Zeitvertreib war, erst
zur modernen Sportart gemacht. Der Rennkorken in der Faust der Wettläufer
war ein Hilfsmittel, wenn auch ein psychologisches, dessen Funktion noch
nicht eindeutig nachgewiesen werden konnte.
Kann man Leichtathletik verstehen ohne die Auseinandersetzung mit der
Turnerschaft?
Wohl kaum. Bis in die dreißiger Jahre konkurrierten in Deutschland beide
Verbände. Die Turner schätzten Laufen, Springen, Werfen und Stoßen als
Erziehungsmittel. Die Leichtathleten aber waren Spezialisten, die planmäßig
trainierten, um Bestleistungen zu erreichen. Heute hat sich das sportliche
Prinzip durchgesetzt.
Um die Jahrhundertwende machten die Athleten vor dem wilhelminischen Hof
eine tiefe Verbeugung. Hat die Politik diesen Sport von den Kinderschuhen
bis ins Erwachsenenalter geprägt?
Die junge Sportart Leichtathletik wollte an nationaler Bedeutung nicht
hinter der Turnerschaft zurückstehen. Die Verbandsführer waren überwiegend
monarchistisch und warben um die Gunst des kaiserlichen Hofes. In der
Republik suchte man die Protektion Hindenburgs, des Ersatzkaisers. Wie die
Ruderer, Schwimmer und Fußballspieler sympathisierte man mit einem
schwarz-weiß-roten Nationalismus. Darum war es für den
Leichtathletik-Verband auch kein Problem, demokratische Formen zu opfern
und das Führerprinzip der Nazis zu übernehmen.
Woran scheiterte der Arbeitersport mit seinem Anti-Leistungs- Prinzip?
Die Arbeiterschaft trennte sich vom bürgerlichen Sport und suchte das
kapitalistische Leistungsprinzip durch proletarische Solidarität zu
ersetzen. Sie opponierte also gegen den Nerv der modernen Leichtathletik
und überforderte damit sich selbst. Die sportliche Motivation war
lebensnäher als das ideologische Postulat.
Gleichschaltung des Sports im Dritten Reich, Vereinnahmung für den
Nationalsozialismus, war die Leichtathletik ein Herrensport?
Im Dritten Reich wurden alle Sportarten gleichgeschaltet und in ihrem
Profil nivelliert. Von Herrensport konnte keine Rede mehr sein, denn der
politisch ausgerichtete Sport diente dem übergeordneten Leitbild
kämpferischer Männer und Frauen. Gleichwohl wurde die Leichtathletik von
der Reichssportführung favorisiert, weil ihre Erfolge seit den Olympischen
Spielen 1936 in Berlin die erstrebte Weltgeltung des deutschen Sports
repräsentierten.
Das politische System – der Hof, bürgerliche Tugenden, Nationalismus und
Militär – dominierte den Sport. Hat heute das Diktat der Politik einer
Diktatur der Wirtschaft Platz gemacht?
Daß das politische System früher den Sport generell dominierte, möchte ich
in Frage stellen. Unbestritten ist, daß einige national orientierte Turn-
und Sportverbände – und dazu gehörte die Leichtathletik – durch
Identifikation mit der staatlichen und militärischen Macht ihre
gesellschaftliche Stellung zu stärken suchten. Wenn heute die Wirtschaft in
Anspruch genommen wird, geht es allein um die Finanzierung des
Spitzensports. Eine Diktatur ist nicht in Sicht, aber mit Goethes
Zauberlehrling könnte man mutmaßen: „Die Geister, die ich rief, werd' ich
nun nicht los!“
Bereits 1908 warb Paul Nettelbeck, Deutscher Marathonmeister, für ein
Produkt namens Amol. Der Amateurgedanke, war er nicht von seiner
Geburtsstunde an eine Mär?
Er war und ist keine Mär, sondern ein Ideal, wogegen zu allen Zeiten offen
und verdeckt verstoßen wurde. Paul Nettelbeck machte kein Geheimnis aus
seiner Einstellung, trug das Signet auf dem Trikot und kassierte für einen
Sieg 1.600 Goldmark. Baron Pierre de Coubertin nannte den Amateurismus
zweifelnd eine „wunderbare Mumie“, ohne ihn jedoch preiszugeben. Seitdem
man ihn aus der olympischen Zulassungsregel gestrichen hat, ist seine
normative Kraft verloren gegangen. Mit einem gewaltigen Satz hat sich die
Leichtathletik an die Spitze der Profitsportarten katapultiert. Sie ist wie
der gesamte Spitzensport ethisch indifferent geworden.
Im gleichen Jahr gab es vermutlich den ersten Dopingfall – Pietri Dorando,
ebenfalls ein Marathonläufer. Hat sich nichts geändert in einem Jahrhundert
leichtathletischer Praxis?
Das weltbekannte Foto des im Ziel zusammengebrochenen Italieners war ein
Menetekel. Nachdem sie jahrzehntelang die Warnsignale ignorierten, sind die
Verantwortlichen endlich zur Offensive übergegangen. Ein Lichtblick für die
Leichtathletik in ihrem Ringen um Verhaltensnormen.
Richard Rau lief anno 1911 die 100 Meter in 10,5 Sekunden. Unwesentlich
langsamer als deutsche Sprinter heutzutage. Ist die ganze Entwicklung von
Technik, Trainingslehre und Material für die Katz?
Nein, weil freiwillige Kraftanstrengung, auch wenn sie nur minimale
Fortschritte bringt, nun einmal das Grundprinzip sportlichen Handelns ist.
Welches Bild einer zukünftigen Leichtathletik zeichnet der Sporthistoriker?
Meine subjektiven Erwartungen sind nicht eben optimistisch.
Bewegungstechnische Durchbrüche wie der Hochsprung-Flop werden
Seltenheitswert behalten. Die Frage nach der absoluten Leistungsgrenze wird
eines Tages zu beantworten sein, und dann könnte die Spitzen-Leichtathletik
zum Langweiler werden. Solange es aber gelingt, junge Menschen für
leichtathletische Aktivitäten zu begeistern, darf man auf eine Athletica
aeterna hoffen. Interview: Cornelia Heim
14 Aug 1993
## AUTOREN
cornelia heim
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