# taz.de -- Der alte Mann ist das Kind | |
> Der Wille zum Glück ist stark: Roberto Benigni hat Carlo Collodis | |
> Fortsetzungsroman „Pinocchio“ verfilmt und die Rolle der Holzpuppe, die | |
> zum Jungen wird, sich selbst gegeben. Doch seine Fröhlichkeit spreizt | |
> sich so, dass alle Fantasie daran erstickt | |
von MARGARETH OBEXER | |
Mitten im Film steht ein etwa sieben Jahre alter Junge in der Sitzreihe vor | |
mir auf und guckt in den Zuschauersaal. Während er sich Popcorn in den Mund | |
schiebt, beobachtet er unaufgeregt das Publikum, das zur Berliner Premiere | |
von Roberto Benignis „Pinocchio“ gekommen ist. Sein Sitznachbar macht es | |
ihm jetzt nach, vielleicht nur, um an das Popcorn zu kommen. Die beiden | |
kehren der Leinwand den Rücken. Ob sie irgendwo im Auditorium und auf den | |
Gesichtern der Kinder die Verzauberung finden, die der Film und seine | |
Hauptfigur hervorrufen wollen? Oder sollte man sie besser auf den | |
Gesichtern der Erwachsenen suchen? | |
Benigni spielt ohne große äußerliche Veränderungen die legendäre Holzpuppe, | |
die immer wieder vom rechten Weg abkommt, eigentlich aber ein richtiger | |
Junge sein möchte: wohlerzogen, gehorsam und lernwillig – zumindest wird | |
ihr dieser Wunsch immer wieder nahe gelegt. | |
Doch die Metamorphose, die zu sehen ist, ist nicht die von der Holzpuppe | |
zum Kind, sondern die eines frisch rasierten Mannes um die fünfzig, der – | |
ausgestattet mit dem strapazierten Nostalgiewissen eines Erwachsenen – zum | |
Kind wird. Dieser Effekt – der Erwachsene spielt lustvoll das Kind – hält | |
sich beharrlich über den gesamten Film hindurch. Das mag daran liegen, dass | |
darauf verzichtet wurde, Pinocchio mit künstlichen Attributen auszustatten. | |
Die hätten das Puppen- oder Märchenhafte unterstrichen, wurden aber | |
womöglich aus Rücksicht auf Benignis körperliche Lebendigkeit unterlassen. | |
Benigni, der sich mit diesem Film vor Federico Fellini und Carlo Collodi, | |
dem Autor der „Geschichte einer Marionette“, verbeugen möchte, tritt vor | |
Pinocchio nicht in den Hintergrund, sondern wird zu einem Pinocchio mit dem | |
unbeirrbaren Glauben an das Kind in ihm. Das trägt dazu bei, dass man ein | |
ständig überdrehtes Kind in Mannsgröße erlebt. Der nachhaltigste und | |
zugleich traurigste Grund für das Scheitern des Films liegt bei Benigni | |
selbst, der Pinocchio zwar mit seinem gesamten Komikerrepertoire beehrt, | |
andererseits aber auf alle Visionen, Träume und Gegenentwürfe der | |
literarischen Vorlage verzichtet hat. | |
Diesem Pinocchio mangelt es an vielem, wofür man sich auf seine Seite | |
schlagen möchte, um für ihn zu zittern, ihn zu warnen, mit ihm zu heulen | |
oder: um aus der Sicht einer Holzpuppe die aus Regeln und Pflichten | |
bestehende Welt als befremdlich zu erleben. | |
Der Pinocchio von Carlo Collodi ist kein männliches Pendant zu Pippi | |
Langstrumpf, die eine wirkliche Rebellin ist. Pinocchio ist deutlich älter, | |
er stammt noch aus dem vorletzten Jahrhundert (1881); im Gegensatz zu Pippi | |
muss Pinocchio auch als mahnendes Schreckbild für ungehorsame und | |
lernunwillige Kinder herhalten. Die Strafen sind katholisch, also | |
gnadenlos, unverhältnismäßig und unerschrocken gegenüber Ketten, Kerker und | |
sogar Tod. | |
Pinocchio wurde kein anarchistisches Aufbegehren in das Holz geschnitzt, | |
dafür ist er zu naiv, zu unschuldig – dumm halt wie eine Holzpuppe, die | |
erst wie im Bildungs- oder Erziehungsroman mit Reife zu einem wirklichen | |
Jungen werden kann. | |
Collodis Pinocchio ist nicht von dieser Welt. Hier ist der Gegenentwurf zu | |
finden: in der Fremdheit, die die Holzpuppe gegenüber der Strenge des | |
normativen Lebens empfindet, während sie doch einfach nur entzückt ist vom | |
Leben und seinen Möglichkeiten. Die Begeisterung zu leben, nimmt in | |
Collodis Pinocchio nahezu atheistische Züge an. | |
Bei Benigni wird aus der Heftigkeit dieser Lebensbegeisterung ein | |
blindwütiger Optimismus, der jeden Schlag ohne jegliche Verletzungsgefahr | |
ausräumt, um wieder vor Begeisterung zu erstarren. Tatsächlich ist Benignis | |
Fröhlichkeit eine dermaßen gespreizte Angelegenheit, dass jede noch so | |
geartete kindliche Fantasie oder Gutgläubigkeit daran zerbrechen. | |
Ähnlich wie in „Das Leben ist schön“ ist der Wille zum Glück so stark, d… | |
er Welten entstehen lässt. Doch in „Pinocchio“ entsteht nichts, was sich | |
ernsthaft den Anpassungsleistungen entgegenstellen und auch nach | |
vollzogener Menschwerdung erhalten ließe. Lutscher, Schaukelpferde und | |
gigantische Spielzeugwelten befriedigen die Wünsche des Pinocchio. Die mit | |
45 Millionen Euro bisher teuerste italienische Produktion vermag keinen | |
anhaltenden Zauber herzustellen, geschweige denn, ihn auch nach dem Ende zu | |
erhalten. Dies lässt Pinocchio so arm aussehen, auch wenn das Ende | |
eigentlich glücklich ist – ohne Lutscher, dafür mit glücklichem Lehrbuch: | |
„Wie töricht war ich doch, als ich noch ein Holzbube war. Und wie glücklich | |
bin ich, nun ein richtiger Junge geworden zu sein.“ | |
„Pinocchio“. Regie: Roberto Benigni. Mit Roberto Benigni, Nicoletta | |
Braschi, Carlo Giuffré, Mino Bellei u. a. Italien 2002, 111 Minuten | |
13 Mar 2003 | |
## AUTOREN | |
MARGARETH OBEXER | |
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