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# taz.de -- Ohne jede Hoffnung
> Dezidiert antiheldisch und auf die Perspektive des Einzelnen reduziert:
> Hinrich Schmidt-Henkel hat Louis-Ferdinand Célines Roman „Reise ans Ende
> der Nacht“ neu übersetzt. Lesung im Literaturhaus
von VOLKER HUMMEL
„Sieh an! Die Reise wird wieder losgeschickt. Das rührt mich. In den
letzten vierzehn Jahren ist so allerhand passiert. [...] Schauen Sie sich
nur mal um, all die vielen Toten, der ganze Hass ringsum ... diese
Niedertracht ... die reinste Kloake ist das ... diese Ungeheuer. Ah,
besser, man wäre blind und taub!“ 1946 stellte Louis-Ferdinand Céline diese
Worte der Neu-Edition seines erstmals 1932 erschienenen Romans voran. Eine
rhetorische Finte, die es leicht macht, auf die Aktualität des „Klassikers“
hinzuweisen.
Grund für die Neuauflage von Reise ans Ende der Nacht ist jedoch nicht die
Wiederentdeckung des Krieges als politisches Mittel, sondern die erste
vollständige Übertragung des Textes ins Deutsche. Wie Übersetzer Hinrich
Schmidt-Henkel im Nachwort erläutert, zeichnet sich die vorherige
Übersetzung durch „Straffungen, Streichungen und Kürzungen“ aus. Es
handelte sich um eine 1932 vom Piper Verlag bei Isak Grünberg, einem in
Paris lebenden Juden, in Auftrag gegebene Übertragung, von deren
Veröffentlichung der Verlag 1933 absah. Schmidt-Henkel: „Zwischen der
Auftragsvergabe und dieser Entscheidung lag Hitlers Machtergreifung. Schien
dem Verlag ein so antiheldischer Roman nicht mehr opportun? Hatte man das
Original nicht richtig gelesen und erschrak jetzt über Inhalt und Sprache?“
Ein Erschrecken, das der Leser von Schmidt-Henkels Übersetzung immer noch
nachempfinden kann. Célines Sprache ist noch nicht so zersplittert wie in
den späteren Romanen, es fehlen die berühmten drei Punkte, mit denen er
später seine zunehmend fragmentierten Satzperioden unterbrach. Doch schon
in der Reise ans Ende der Nacht ist die Sprache befreit von jedem
ideologischen Ballast. Céline erreicht dies durch eine kunstvolle
Wiedergabe des Sounds gesprochener Worte. Dahinter steckt eine Reihe von
Kunstgriffen, die die Literatur revolutionierten: Sprünge im Tempus,
vielfältige Satzsegmentierungen, Wiederholungen, Ellipsen.
Inhaltlich präsentiert sich Reise ans Ende der Nacht auf den ersten 300
Seiten als pikaresker Abenteuerroman. Céline schildert darin die Erlebnisse
seines Antihelden Bardamu auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs, in
der Kolonie Bambola-Bragamance und in Amerika. Schon zuvor waren die
Schrecken des Krieges oder das von den Europäern imaginierte Herz der
Finsternis in Afrika literarisch beschrieben worden. Doch Céline reduziert
das Geschehen radikal auf die Perspektive des Einzelnen: „verängstigt,
absolut ohne jede andere Hoffnung, als in der Drohung zu enden, der Jauche,
dem Ekel, dass wir uns hatten foltern lassen, bis aufs Blut bescheißen
lassen von einer Bande bösartiger Irrer, die mit einmal alle miteinander zu
nichts anderem mehr in der Lage waren, als zu morden und sich den Bauch
aufschlitzen zu lassen, ohne zu wissen warum.“
Célines Kriegsschilderungen sind weit von den Idealen der Grande Nation
entfernt, sie bieten auch keine pazifistische Gegenposition. Stattdessen
bringen sie die einzig relevante Erkenntnis zum Ausdruck: Krieg reduziert
den Menschen zum barbarischen Scheißestück. Hinzu kommt Bardamus klarer
Blick für Machtverhältnisse: Wer hingemetzelt wird und an Cholera
dahinsiecht, das sind die Armen.
Die Gräuel des Krieges und der Kolonisierung sind hier keine Gegensätze zur
kleinbürgerlichen Normalität. Ihr Horror speist sich aus der alltäglichen
Abstumpfung. Solange sich daran nichts ändert, wird auch Célines Reise ans
Ende der Nacht kein Ende finden.
Louis-Ferdinand Céline: Reise ans Ende der Nacht, aus dem Französischen von
Hinrich Schmidt-Henkel, Rowohlt Verlag, 671 S., 29,90 Euro Lesung: Do,
15.5., 20 Uhr, Literaturhaus, Schwanenwik 38
15 May 2003
## AUTOREN
VOLKER HUMMEL
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