# taz.de -- „Ich war ein Lolitatyp“ | |
> Aldona Gustas | |
Die 1932 in Litauen geborene Lyrikerin und Malerin erlebt sich seit ihrer | |
Jugend als Suchende. Denn durch den Krieg musste sie – noch Kind, aber | |
schon Kindfrau – ihre Heimat verlassen. Seit 1945 lebt sie in Berlin. Die | |
Stadt taucht in vielen ihrer Gedichte auf. Wortbilder und Metaphern sind | |
Aldona Gustas zur Ersatzheimat geworden. Mehrere Lyrikbände von ihr | |
erschienen. Zudem hat sie 1972 die Gruppe „Berliner Malerpoeten“ gegründet, | |
in der sich Künstler versammelten, die sowohl schreiben als auch malen, | |
darunter der Nobelpreisträger von 1999, Günter Grass. Im gleichen Jahr | |
erhielt auch Gustas ihre höchste Auszeichnung: das Bundesverdienstkreuz | |
INTERVIEW WALTRAUD SCHWAB | |
taz: Frau Gustas, passend zum Frühlingsanfang gibt es den Welttag der | |
Poesie. Was muss man sich darunter vorstellen? | |
Aldona Gustas: Was soll das sein, ein Welttag? Poesie ist jeden Tag. | |
Gertrude Stein, meine liebste Autorin, hat gesagt: „Jederzeit ist es Zeit, | |
ein Gedicht zu machen.“ Jederzeit! Ich hab mir das Motto an meine Tür | |
gehängt. Ich mag es nicht, wenn Poesie abgehoben ist, so feierlich und mit | |
Kerzenschein. Das ist vielleicht das Litauische in mir. In Litauen gehört | |
die Poesie in die Küche, ins Schlafzimmer, ins Wohnzimmer, in den Flur. Ein | |
Tag Poesie – ich bin entsetzt. | |
In Litauen ist die Poesie im Alltag. Und in Deutschland? | |
Auch, bloß da merken es die Leute nicht so. | |
Was passiert, wenn die Poesie in den Tag kommt? | |
So ein Gedicht ruht in mir und entwickelt sich, aber ich weiß nicht, wie | |
das Gedicht sein wird. Es kommt ganz spontan, dann bringe ich es zu Papier | |
und lasse es monatelang liegen, bevor ich es begutachte. Ich lebe immer mit | |
einem Gedicht, das entstehen möchte. Aber ich habe natürlich das Leben, na | |
ja, in seiner Schönheit und seiner Brutalität auch kennen gelernt. Man muss | |
bereit sein, das zu erleben, und man muss bereit sein zu warten. | |
Worauf? | |
Schauen Sie, nächste Woche kommt ein polnischer Verleger. Er möchte mit mir | |
einen Band mit Liebesgedichten machen. Das ist für mich wie ein Wunder. | |
Gerade das Polnische ist für mich sehr wichtig, denn meine erste Liebe war | |
ein polnischer Junge. Zbiegniew hieß er, er war ein bisschen älter als ich. | |
Ich war damals neun Jahre alt. Na gut, meine Eltern gingen ins Kino, und da | |
kam er zu mir ins Bett. Da habe ich die Liebe kennen gelernt. Ich habe | |
durch ihn die andere Hälfte der Menschheit kennen gelernt, er durch mich | |
auch. Es war wunderbar. In meinen Liebesgedichten taucht diese sehr schöne | |
Erfahrung immer wieder auf. Und wenn mich jemand gefragt hätte: „In welcher | |
Fremdsprache möchten Sie Ihre Gedichte sehen?“, ich hätte immer „Polnisch… | |
gesagt. | |
Können Sie Polnisch? | |
Nur wenig. Ich hatte polnische Spielkameraden. Bei uns lebten damals mehr | |
Polen als Litauer. In Berlin gibt es auch viele Leute mit polnischen | |
Vorfahren. Diese Mischung bei den Berlinern, das Polnische, das | |
Französische, das Schlesische, jetzt das Türkische, all das gefällt mir. | |
Schmelztiegel Berlin? | |
Als wir Flüchtlinge waren und hier ankamen, hat mich Berlin umarmt, und ich | |
wusste, hier bleibe ich. Ich gehöre zu den wenigen, die die Stadt | |
poetisiert haben, und, glauben Sie mir, das ist nicht einfach. Da kommt man | |
aus Litauen und verliebt sich in diese Stadt. Ich will in keiner anderen | |
leben. | |
Ein Gedicht von Ihnen heißt: | |
„ich war lange 1932 | |
ich war lange 1945 | |
ich war lange1952 | |
ich war lange 1962 | |
ich war lange 1972 | |
in den Jahren dazwischen | |
lebte ich kurz“ | |
Ist das Ihre ganze Biografie? | |
Also 1932 bin ich geboren. In Litauen. Im Memelland, deutschstämmig. Aber | |
das war fließend – man fühlte sich mal so, mal so. Litauisch ist meine | |
Muttersprache. Meine Großmutter hieß Seewald, ein deutscher Name, aber sie | |
fühlte sich ganz litauisch. Mein Großvater hatte einen litauischen Namen | |
und fühlte sich ganz preußisch. Mein Vater war katholisch, aus Tiflis. Aber | |
er fühlte sich nicht russisch, sondern litauisch. Meine Mutter war | |
evangelisch – es verträgt sich alles bestens. Mal wollte ich Nonne werden, | |
dann war ich Kommunistin. | |
Eins geht ins andere über? | |
Sehen Sie, meine Mutter starb gerade 94-jährig, und sie wollte seebestattet | |
werden. Ich hab ihr ein Gedicht geschrieben: „Pazifischer Ozean / Indischer | |
Ozean / Atlantischer Ozean / die Nordsee insbesondere die Ostsee / alle | |
Flüsse Seen Tümpel Pfützen in der Welt / wie von der Hand in die Psyche | |
geschrieben / schwamm meine Mutter in Richtung Kurische Nehrung davon“ – | |
Wir bestehen zu zwei Dritteln aus Wasser, und ich wollte das ganze Wasser, | |
das wir auf unserem Planeten haben, in diesem Gedicht vermischen. Auch die | |
Pfützen und Tümpel. | |
Sie haben Ihre Mutter zurückfließen lassen. | |
Sie hatte Heimweh. Ich nicht. Aber ich weiß, wo meine Wurzeln sind. Sie | |
sind dort. | |
Sie mussten aus Litauen fliehen? | |
Wir sind 1941 nach Deutschland umgesiedelt. Wir wollten weg. Nicht unter | |
Stalin bleiben, nachdem die Russen in Litauen einmarschiert waren. | |
Konnten Sie Deutsch? | |
Sehr wenig, aber ich habe es schnell gelernt. Weil bei uns zu Hause Deutsch | |
gesprochen wurde. Meine Großmutter war eine Wortschöpferin. Schlupfflieger, | |
Zupfwolke, Zopfwippe, solche Wörter; statt „Kleid“ sagte sie auch | |
„Kleidutte“. | |
Wo haben Sie den Krieg erlebt? | |
In Rostock. Und ich weiß noch, gegen Ende wollten wir zu Freunden in ein | |
Dörfchen. In einem Wagen lag mein kleiner Bruder, 1944 geboren, und meine | |
Mutter, vollig abgehärmt, zog ihn. Mit dem bisschen, was wir hatten, | |
trotteten wir die Straßen entlang. Am Wegrand lagen die toten Soldaten, und | |
da habe ich sie beneidet. Ich hatte es satt. Ich hatte genug, genug von | |
diesem Leben. Plötzlich kam ein Pferdefuhrwerk. Drauf ein junger russischer | |
Soldat, ein bildschöner Mann, und er sagte: „Rauf, rauf auf den Wagen. Wo | |
wollen Sie hin?“ Er hat uns Brot geschenkt und uns dahin gebracht. Das war | |
symbolisch für mein Leben: Es geht weiter. | |
Was war 1952? | |
Da habe ich geheiratet. Ich wollte nie heiraten, ich wollte keine Kinder. | |
Ich hätte meinen Mann nicht geheiratet, wenn er Kinder hätte haben wollen. | |
Ich bin kein Familienmensch, ich mag keine Familiengeschichten. Ich finde | |
das penetrant. Vielleicht ist das schon die Lyrikerin in mir, die sich | |
zurückziehen musste. Und 1962 kam der erste Gedichtband. Als er erschien, | |
war es Herbst. Es regnete, war grau, aber ich habe alles in Farbe gesehen. | |
1972 haben Sie die Gruppe „Berliner Malerpoeten“ gegründet. Lauter | |
Doppelbegabte, die malten, zeichneten und schrieben. | |
Ich glaube, das gab es nur in Westberlin. Diese ausgelebte, kreative | |
Vielfalt. Ich hatte ja ein paar Jahre zuvor selbst angefangen zu malen. | |
Unter den Malerpoeten sind sehr bekannte Namen wie Günter Grass, Kurt | |
Mühlenhaupt, Günter Bruno Fuchs, Wolfdietrich Schnurre. Warum sind Sie die | |
einzige Frau? | |
Ich wollte, dass zwei weitere Frauen dazukamen, aber die Männer wollten es | |
nicht. Man hat es schwerer als Frau, man wird automatisch zu den | |
Blumenmalerinnen gezählt. Mein Gott, ich hätte auch mal Blumen malen | |
können. | |
Die Männer sind alle ziemlich berühmt. Warum sind Sie aber unbekannt | |
geblieben? | |
Wenn man nur Gedichte schreibt, keine Prosa, dann ist man ein | |
Verlegerschreck. Als ich angefangen habe, wusste ich, ich werde kein Geld | |
mit Gedichten verdienen, ich werde keinen Ruhm erwerben, es wird ein | |
schwerer Lebensweg. Aber ich kann mit sehr wenig leben. In dieser kleinen | |
Wohnung habe ich alle meine Bilder gemalt. Enger geht es nicht, aber ich | |
habe die Weite, wenn ich aus dem Fenster schaue. | |
Viele Ihrer Gedichte hinterlassen den Eindruck, als endeten sie im | |
Ungesagten. Können Sie das erklären? | |
Für mich entsteht ein Gedicht aus dem Leben heraus. Es hat einen Anfang, | |
aber davor war schon etwas. Das muss der Leser spüren. Es könnte am Ende | |
auch weitergehen. Ich könnte niemals einen Punkt ans Ende eines Gedichts | |
setzen, auch kein Komma. Das ist für mich wie ein Stottern. | |
Das Offene ist Ihr Markenzeichen? | |
Ja, wie man nach einem Apfel greift auf dem Markt. Man isst ihn vielleicht, | |
steckt ihn in die Tasche, aber er wird ja dann auch verdaut oder vergessen, | |
keine Ahnung. Eine Ordnung mit Anfang und Ende kann ich nicht bieten. | |
Weil Sie so immer die Suchende bleiben? | |
Einfacher, weil mich Handlungen nicht interessieren. Bei Romanen lese ich | |
jeden Satz so, als wäre es der letzte. Für mich ist manchmal stattdessen in | |
einem Wort alles drin. | |
Ein Beispiel? | |
„Worterotik.“ Da ist doch alles drin. Ich habe ja verhältnismäßig viele | |
Liebesgedichte geschrieben. Eigentlich ein ganz schwieriges, ausgeleiertes | |
und ausgelatschtes Thema. Ein Liebesgedicht – was soll man da noch | |
schreiben? | |
Ihre sind meist erotisch und nah an der Haut. | |
Das ist meine Spezialität. Gerade bei erotischen Gedichten gilt: Ein Wort | |
zu viel, und schon kippt es in Kitsch um. | |
Wie kommt es, dass Sie – im Gegensatz zu ihren Gedichten und Bildern – eher | |
nüchtern wirken? | |
Das ist Verkleidung. Ich nehme mich zurück, gebe mich sportlich. Leute, für | |
die Erotik eine große Rolle gespielt hat im Leben, die erkennen sich. Ich | |
meine jene Erotik, die nicht nur das Bett im Sinn hat. Bei mir ist viel | |
erotisch. Sehr viel. Linien, Tiere, Pflanzen, das Meer. | |
Und wie erklären Sie dann das starke männlichen Gegenüber in Ihrer Kunst? | |
Ich habe sehr sehr früh erotische Erfahrungen gemacht. Ich war ein | |
Lolitatyp. Das ist auch Schicksal. Ich erkenne Lolitatypen sofort. Ich war | |
ja sehr jung. Ich war neun Jahre alt. | |
Als sie zum ersten Mal Sex hatten? | |
Ja, sehr heftig. Dann hat man auch schon die Ausstrahlung, die Erfahrung. | |
Die älteren Männer nehmen das auf. Ich weiß genau, wie ältere Männer sind, | |
die kleinen Mädchen verfallen. Die Hälfte ihres Gehirns ist bei denen wie | |
weg. Als erfahrene Frau wären die für mich nicht mehr interessant. | |
Verfallen – das klingt, als fiele den Männern keine Verantwortung zu. | |
Es ist beides da: die Unschuld und die Schuld. Ich konnte total unschuldig | |
sein und dann natürlich auch die Verführung in Person für bestimmte Männer. | |
Schon als kleines Mädchen? | |
Ich habe es überlebt, unbeschadet. Ich hatte zum Glück auch nie eine | |
Abtreibung. | |
Kriegen die Männer Ihre erotische Ausstrahlung bis heute mit? | |
Ja – „ich tue einfach so / als sei ich Venus / eben schaumgeboren / nun im | |
Café auf einen Fremden wartend / der mich vielleicht / ein paar Stunden | |
später befriedigt“ – Man spürt das doch in der U-Bahn, ob man als Neutrum | |
oder als Frau wahrgenommen wird. Aber man glaubt es mir nicht, wenn ich es | |
so einfach sage. | |
Haben Sie auch Frauen geliebt? | |
Ja. Doch. Auch. Hier habe ich noch ein Gedicht, das ich Ihnen vorlesen | |
möchte: | |
„Mädchen realisieren den Frühling | |
auf ihre Art | |
den Bauch leicht vorgeschoben | |
in jeder Hand | |
eine bewegliche Sonne“ | |
Abdruck der Gedichte mit freundlicher Genehmigung der Autorin | |
22 Mar 2004 | |
## AUTOREN | |
WALTRAUD SCHWAB | |
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