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# taz.de -- Ertrinken im undurchdringlichen Schwarz
> Nicht nur lesen gelernt hat der amerikanische Fotograf Jerry Berndt in
> Bars, sondern das Leben beobachten überhaupt: C/O Berlin stellt ihn und
> seine „Fotografien der Nacht“ erstmals in Berlin vor
Jerry Berndt ist Anfang der Siebzigerjahre knapp dreißig Jahre alt, besitzt
weder Ausweis noch Sozialversicherungskarte. Wegen seines massiven
Engagements in der Anti-Vietnamkrieg-Bewegung der Sechzigerjahre hat ihn
das FBI immer wieder drangsaliert. 1973 lebt der Fotograf völlig
zurückgezogen in einem besetzten Haus in Boston.
In dieser Situation regt ihn die Lektüre von „Molloy“ zu einem neuen
Projekt an. Samuel Becketts experimenteller Roman schildert die Nacht als
Rückzugsraum für die Unangepassten – eine Beschreibung, mit der sich Berndt
sofort identifizieren kann.
Er nimmt seine Kamera und erkundet die nächtliche Großstadt, fotografiert
menschenleere Straßen, erleuchtete Schaufenster, verlassene Diner. Diesen
eigentlich völlig unspektakulären Motiven verleiht er per
Langzeitbelichtung eine erstaunliche Präsenz.
Parkuhren verwandeln sich auf seinen Fotos in modernistische Skulpturen.
Feuerleitern werfen bedrohliche Schatten, eine Straßenbiegung wird zum
Tatort. Film Noir trifft Antonioni – Berndts „Nite Works“ wirken wie
Standbilder eines Films der Schwarzen Serie, denen ein kühler Kopf jeden
vordergründigen Expressionismus ausgetrieben hat.
„Vielleicht sind es aber auch Aufnahmen vom day after, vom Tag nach dem
Abwurf der Neutronenbombe, an dem die Menschen alle tot, die Häuser aber
völlig intakt geblieben sind“, erklärt der Fotograf, ein agiler, drahtiger
Mann, dessen wachem Blick nichts zu entgehen scheint.
Zur Eröffnung seiner Ausstellung „Insight“ ist er aus seiner Wahlheimat
Paris angereist. In der Schau bei C/O Berlin sind sechzig Arbeiten zu
sehen, wobei sich die Auswahl vor allem auf die frühen Schwarz-Weiß-Bilder
der späten Sechziger- und Siebzigerjahre konzentriert. Die nächtliche Stadt
ist für Berndt schon lange ein vertrautes Terrain. Düstere Kneipen, der
Rotlichtbezirk von Boston mit seinen Strip-Clubs und Sexkinos – hier
entstehen seine ersten bedeutenden Arbeiten, bevölkert von Blondinen mit
eingestürzten Bienenkorbfrisuren, Matrosen auf der Suche nach schnellen
Vergnügungen oder in sich gekehrten Trinkern, die den Songs aus einer Juke
Box lauschen. „Bars riechen und schmecken für mich nach zu Hause“, sagt
Berndt, der das Lesen beim Sortieren der Biermarken in der Bar seines
Vaters lernte.
Dank eines extrem lichtempfindlichen Filmmaterials kann er bei seiner Serie
„Bar Rooms“ ohne Blitz arbeiten. Heimlich fotografiert der Autodidakt die
oft älteren Männer und Frauen, die sich an ihren Gläsern oder Zigaretten
festhalten. Seine Bilder wirken dabei in keiner Weise voyeuristisch. Es
sind atmosphärisch äußerst dichte Studien, die den Protagonisten stets ihre
Würde lassen.
Manche der grobkörnigen Aufnahmen ertrinken fast in ihrem
undurchdringlichen Schwarz, nur das gleißende Weiß der Lampen, die die
Flaschenbatterien hinter den Tresen beleuchten, setzt helle Akzente.
Combat Zone, Kampfzone, der Name, den die Bostoner ihrem Rotlichtviertel
verpasst haben, liefert den Titel der Serie, an der Berndt parallel zu den
Bar Rooms arbeitet. Im Auftrag der Harvard University fotografiert er ein
konfliktgeladenes Milieu: schwarze Zuhälter, weiße und schwarze Huren
treffen auf Seemänner und weiße Freier aus der Mittelschicht, Rassismus
prallt auf Black Power Movement.
In seinen Aufnahmen mischt sich klassische Street Photography à la Lee
Friedlander mit wissenschaftlich motivierter Beobachtung und einem
unglaublichen Gespür für Stimmungen und Situationen. Es entstehen coole
Impressionen von Einsamkeit, Sehnsucht und Verlangen.
Den Kampfzonen ist der Fotograf bis heute treu geblieben: Seit den
Achtzigerjahren fotografiert Jerry Berndt vor allem in Krisengebieten wie
Haiti, Armenien oder Ruanda.
ACHIM DRUCKS
Jerry Berndt: „Insight. Fotografien der Nacht“. Bis 15. 2. 09 C/O Berlin,
Oranienburger Straße/Tucholskystraße, tägl. 11–20 Uhr Katalog bei Steidl
(35 Euro)
17 Dec 2008
## AUTOREN
ACHIM DRUCKS
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