# taz.de -- Die Beschleunigung des Blicks | |
> Die Sammlung Marguerite und Aimé Maeght gilt als eine der bedeutendsten | |
> Kollektionen der Nachkriegsmoderne: Das Museum Neue Weserburg zeigt sie | |
> erstmals in Deutschland – und schließt damit zumindest temporär eine | |
> Lücke in Bremens kunsthistorischem Horizont | |
Verfolgt das Neue Museum Weserburg einen didaktischen Zweck? Eine | |
Nachhol-Lektion im rasanten Schauen der Moderne als Einstieg in die | |
Augenakrobatik, die von der Gegenwartskunst mitunter verlangt wird? Das | |
ist, genau besehen, eine zweitrangige Frage. Denn das Mittel ist selbst | |
schon ein Heiligtum: Die erste weit gehend vollständige Ausstellung der | |
Sammlung Marguerite und Aimé Maeght in Deutschland wird am Sonntag im | |
Teerhof 20 eröffnet. Ein Ereignis. | |
Denn die Stiftung des Galeristenpaares im provençalischen Saint-Paul de | |
Vence ist längst ein eigener Mythos. Besser gesagt: Das war sie von Anfang | |
an, ein quasi-sakraler Ort der modernen Kunst, am 28. Juli 1968 mit dem | |
ganzen tremolierenden Pathos der de Gaulle-Ära vom französische Romancier | |
und Kulturminister André Malraux eingeweiht. Als unvergleichliche und als | |
ideale Galerie: „Hier wurde etwas nie Gewagtes gewagt“, proklamierte er. | |
Und hatte Recht. | |
Zu viel verlangt, unmöglich, den Zauber dieser Institution komplett an die | |
Weser zu expedieren: Mit dem spielerischen Charme des von Josep Lluis Sert | |
geschaffenen Baus und seines Pinien beschatteten Skulpturenparks können | |
Weserburg und Teerhof nicht mithalten. Erstaunlich genug, dass sich | |
überhaupt Großplastiken wie Joan Mirós 3,15 Meter hohe „Caresse d’oiseau… | |
zu deutsch in etwa: die Zärtlichkeit eines Vogels – entleihen ließen. „An | |
der Nase war ein Wespennest“, erzählt Museumsdirektor Thomas Deecke. „Das | |
mussten wir noch nach dem Transport entfernen.“ Die Gefahr jedenfalls, dass | |
sich während des Bremen-Aufenthaltes der Figur neue Insekten an der | |
knallbunten Bronze ansiedeln, ist gleich Null: Denn selbst wenn die Schau | |
den milde ironischen Titel „südliche Kunst unter nordischem Himmel“ trägt, | |
aufgebaut ist sie in den klimatisierten Räumen des Museums. | |
Dennoch: Wo sonst könnte sich die Aura der Fondation Maeght besser | |
entfalten, als im Sammlermuseum? Denn im Grunde seien die Ansätze verwandt, | |
so Deecke weiter. | |
Tatsächlich hat diese Affinität die Ausstellung der Jahrhundert-Sammlung | |
erst ermöglicht: Der Geschäftsmann Thomas Rogge ist Mitglied in den | |
Freundeskreisen sowohl des Bremer Museums, als auch der Galerie in der | |
Provence. Er hatte Fondation-Maeght-Direktor Jean-Louis Prat für das | |
Kuratorium der Weserburg angeworben – so entstand die Idee. „Dass die | |
Sammlung überhaupt entliehen wird, hatte ich vorher gar nicht gewusst“, so | |
Deecke. „Die Fondation Maeght ist bis heute ein reines Privatmuseum“, sein | |
Ursprung eine private Kollektion, „vergleichbar denen unserer | |
semi-permanenten Ausstellungen“. Deren wichtigstes Charakteristikum: Eine | |
unbedingte Zeitgenossenschaft. „Die Maeghts waren befreundet mit den | |
Künstlern, die sie gesammelt haben.“ Es gibt schwarz-weiß Fotografien mit | |
Marguerite Maeght und Marc Chagall und mit Samuel Beckett, Aufnahmen von | |
ihrem Ehemann Aimé und Alberto Giacometti, mit John Cage, etliche mit Joan | |
Miró, mit André Breton, dem Patriarchen und Tyrannen des Surrealismus. Und | |
auch Gruppenbilder, auf denen die gesamte Elite der Nachkriegsavantgarde | |
beisammen steht und fröhlich gros rouge pichelt, Landwein, den man aus | |
Wassergläsern und in großer Menge konsumiert. Frankreich, so Deecke, „war | |
damals das Zentrum der Weltkunst.“ Für die Galerien: Paris. Für die | |
Ateliers: die Côte d’Azur. | |
Es ist zugleich ein Ausschnitt der Kunstgeschichte, der in Bremen lange | |
Zeit gefehlt hat: Kein Miró, kein Giacometti, nur drei Picasso – das | |
Inventar der Kunsthalle zeugt von der eher konservativen Einkaufspolitik | |
der damaligen Direktoren. Von 1914 bis Anfang der 90er Jahre bewegte sich | |
deren Interesse für ihre jeweilige Gegenwartskunst offenbar in sehr engen | |
Grenzen. | |
Die Leerstellen sind deshalb von Bedeutung, weil die Moderne, die sich in | |
dieser Zeit artikuliert, nicht nur revolutionär denkt und gestaltet. Sie | |
erfordert auch einen neuen Blick, einen schnelleren Blick. Der Betrachter, | |
der sich kontemplativ mystisch in die Anschauung ihrer handwerklichen | |
Finessen versenkt ist nicht ihr Adressat. Die Technik wird verborgen, ja | |
verleugnet. Als „bricolage-Skulpturen“ bezeichnet Deecke die Bronzen Mirós: | |
Bastel-Plastiken, könnte man das übersetzen. Und wirken die Figuren nicht, | |
wie aus Metallschrott zusammen gesetzt? Im Kontext der 60er Jahre ist das | |
keine Abwertung: Den Begriff des bricolage hatte gerade erst der | |
einflussreiche Ethnologe Claude Lévy-Strauss zur Signatur der neuen Zeit | |
ausgerufen. Noch deutlicher, noch schroffer tritt diese Anti-Technik in der | |
immer noch vitalen peinture brute – „wilde Malerei“ – Jean Dubuffets zu | |
Tage. Auf der Suche nach dem wilden Denken hat sich der Künstler in den | |
frühen 70er Jahren aufgemacht in Pariser Nervenkliniken. Aus den | |
therapeutisch relevanten Bildchen und Kritzeleien der Patienten filterte er | |
seine Essenz des Unbewussten. In der Weserburg ist er mit dem | |
großformatigen Ölbild „Tatsachen und Gründe“ vertreten. Brillante Beispi… | |
einer Kunst, die erlebt werden will, wie ein Schock, vielleicht, oder auch | |
wie ein Lichtstrahl. | |
„Was wir Kunst nannten“, schrieb der Kulturphilosoph Walter Benjamin in den | |
30er Jahren in einem kleinen, enigmatischen Aufsatz, „beginnt erst zwei | |
Meter vom Körper entfernt“. Die Moderne dagegen rückt dem Auge auf die | |
Netzhaut, will in der ersten Begegnung erfassen – und erfasst werden. Ein | |
dramatisches Moment, ein kritischer Punkt: Das Werk begegnet dem | |
Betrachter. Und es sagt: Jetzt oder nie! Mag sein, dass es sogar schreit. | |
Um diesen Augenblick nachzuholen, bedarf es der Inszenierung. Deshalb sind | |
es vor allem die Durchsichten, die in der Neuen Weserburg beeindrucken. Im | |
Atrium etwa: Da schwingt, mittig, Alexander Calders riesiges Mobilé „Les | |
trois Soleils jaunes“ von 1965 von der Decke. Hinten rechts an der Wand | |
eine von Mirós längst klassisch gewordenen abstrakten Kompositionen. Und | |
etwas vorgerückt, links daneben, Mirós „Personnage“ von 1967, ebenfalls | |
eine farbige Bronze. Wer sich hier nur den versunkenen Kennerblick | |
gestattet, der verliert das Menschliche der Skulptur, der übersieht, dass | |
sie ein Signal setzt – ein freudiges Winken. | |
Das Entrée also ist festlich, homogen auch durch die Ähnlichkeit der | |
künstlerischen Sprachen. Die satten, vollen Farben, das Gelb und das Rot, | |
das starke Blau, das glänzende Grün teilen der US-Amerikaner Alexander | |
Calder und der Katalane Miró, als hätten sie auf derselben Palette | |
gemischt, und ebenso ist beiden eine frappante Klarheit der Formen gemein. | |
Hier sind Kolorit und Linie versöhnt, nichts ist Übergang, alles ist Jetzt. | |
Süden. | |
Nicht minder überzeugend der Blick von dem mit informellen Gemälden | |
bestückten Raum – Antoni Tàpies etwa oder Bram van Velde – durch den | |
schmalen Gang, vorbei an zwei Pop-Art inspirierten und doch ausgesprochen | |
europäischen Positionen, bis hinüber zu Alberto Giacomettis Plastiken. Die | |
beiden schmalen „Femme de Venise“, reduziert auf eine Formel des | |
Körperlichen, fast stehende Striche. Sie wirken, auf die Distanz, wie ein | |
Paar in vollendeter Ruhe – noch vor der Vertreibung aus dem Paradies der | |
Kunst. | |
Giacometti, neben Miró der zweite Schwerpunkt der Schau, bremst. Wie eine | |
Kapelle hat man in der Weserburg einen Raum für seine surrealistische | |
„Löffelfrau“ eingerichtet, Vitrinen schützen die zarten, unverkennbaren | |
Skulpturen, die Katze etwa. Zurecht: Niemand je hat mit Skulpturen stärker | |
die sie umgebende Luft zum Thema erhoben, als der Schweizer Bildhauer. Und | |
niemandes Werk könnte besser zeigen, dass die Moderne die Beschleunigung | |
des Blickes nicht absolut setzt. Die Bronze selbst ist ein Zeichen, radikal | |
verknappt. Für eine Katze? Nun, ja eine etwas simple Erklärung. Alles aber, | |
was über sie hinaus geht, ist Spekulation: Auch der kontemplative, | |
innehaltende Blick wird auf diese Weise bewahrt. Sein Gegenstand aber ist | |
die Weißfläche, die das Werk umgibt. | |
Benno Schirrmeister | |
Eröffnung Sonntag, 6. Juli 11.30 Uhr. Bis 26. Oktober | |
4 Jul 2003 | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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