# taz.de -- Antithese zur Marktförmigkeit | |
> Das spezifische Gewicht der gemeinsam verbrachten Lebenszeit: Mit einer | |
> Wiederaufnahme der sechsstündigen Performance „Speak Bitterness“ startet | |
> das Theater PACT Zollverein in Essen „Jetlag“, eine Reihe über den Umgang | |
> mit der Zeit | |
VON ESTHER BOLDT | |
In der fünften Stunde der Geständnisse hängen Claire Marshall ihre Haare | |
strähnig ins Gesicht, ihre Jacke hat sie schon lange ausgezogen. Auch Tim | |
Etchells Hemd ist verknautscht, seine Haare sind zerrauft. Er liest | |
Geständnisse vor, zu gleichen Teilen mit Süffisanz und Gleichgültigkeit. | |
Sie fällt ihm ins Wort: „We were assholes!“ Auch die Zuschauer sind außer | |
Form geraten, recken ihre starren Glieder und harren zugleich nimmermüde | |
der nächsten Beichte, der nächsten Pointe. | |
Wie eine schwarzhumorige Comedyshow macht „Speak Bitterness“ sich bisweilen | |
aus, eine Performance von Forced Entertainment, in der sechs Performer über | |
sechs Stunden einen Katalog von Missetaten verlesen. Wie stets in den | |
Arbeiten der britischen Performancegruppe werden die Bedingungen des | |
Theaters zum Gegenstand der Darstellung, hier wird die Bühne zum Schauplatz | |
zeitlicher Zersetzungs- und Zusetzungsprozesse. Die Performer nuscheln oder | |
legen hysterisch ein irres Sprechtempo vor, die Temperatur des Raumes | |
verändert sich, tatsächlich wie metaphorisch. Und in der Erschöpfung, im | |
unumkehrbaren Voranschreiten der Zeit dämmert sanft, aber eindrücklich | |
unser aller Sterblichkeit herauf. | |
Im Performance- und Tanz-Zentrum PACT Zollverein in Essen wird der | |
Zwischenzustand der hellwachen Erschöpfung nun zur Regel – für die | |
vierteilige Reihe „Jetlag“, die sich mit Durational Performances befasst, | |
mit Stücken also, die ihre Dauer über die Theaterkonventionen hinausdehnen. | |
Hierfür und zugleich zu ihrem 25-jährigen Bestehen hat Forced Entertainment | |
eine Neufassung des Stücks erarbeitet. Uraufgeführt 1994, ist „Speak | |
Bitterness“ nahezu ein Klassiker dieses Subgenres und hervorragend | |
geeignet, den Reigen mit und über Langzeitperformances zu eröffnen. Der | |
Titelgebende „Jetlag“ wird positiv umgedeutet, wenn sich die zeitliche | |
Desorientierung körperlich niederschlägt und die Zeit mit sirrenden Nerven | |
aus den Fugen gerät. | |
Als Ort der Körper und der realen Versammlung ist das Theater prädestiniert | |
für die Untersuchung von Zeit, die „Jetlag“ anstrebt. Denn es ist nicht | |
allein ihre Dauer, die Durational Performances auszeichnet, sondern eben | |
ihr Umgang mit Zeit. In Pausen und Wiederholungen wird sie selbst zum | |
Gegenstand der Darstellung, sie wird so gekrümmt, verzerrt und gedehnt, | |
dass sie als Faktor von individueller und zugleich kollektiver Erfahrung | |
und Wahrnehmung kenntlich wird. | |
Über Stunden hinweg bildet die gemeinsam verbrachte Lebenszeit ein | |
spezifisches Gewicht aus, das Künstler wie Zuschauer zu spüren bekommen und | |
das eine eigene Form von Intimität stiftet. In den stetig verkürzten | |
Aufmerksamkeitsfrequenzen der digitalisierten und globalisierten, auf | |
Multitasking ausgerichteten Gegenwart wirkt diese Dauer, die ausfransende | |
Konzentration auf eine sich nur graduell verändernde Situation, ziemlich | |
brisant. | |
„Mich hat das spektakulär Unspektakuläre interessiert“, erzählt Stefan | |
Hilterhaus, künstlerischer Leiter von PACT Zollverein, der gemeinsam mit | |
Joachim Gerstmeier vom Siemens Arts Program „Jetlag“ konzipierte. „In ihr… | |
Form lösen die Durationals viel vom Theater auf, man bekommt es mit realer | |
Müdigkeit und Erschöpfung zu tun, und es gibt eine ganz andere Verbrüderung | |
zwischen Zuschauer und Darsteller.“ In „Speak Bitterness“ nehmen die | |
Performer in loser Folge Zettel von einem großen Tisch auf und lesen | |
Vergehen vor, sie beschuldigen sich alltäglichen Scheiterns ebenso wie der | |
Finanzkrise und Kriegsverbrechen, bezichtigen sich ebenso universaler wie | |
vorgeblich intimer Regelbrüche und lassen so stets das Private ins | |
Kollektive kippen. Und während diese Regelverletzungen wiedergegeben | |
werden, gerät die simple Ausgangsituation selbst sanft aus der Ordnung. | |
Bis zum Oktober werden sich drei weitere „Jetlags“ in Installationen, | |
Performances und Gesprächen mit dem Phänomen Zeit auseinandersetzen. | |
Insgesamt möchte PACT, eines der jüngsten und kleinsten freien Theater | |
Deutschlands, die Latte jedes Jahr etwas höher legen: „Wir versuchen“, so | |
Hilterhaus, „genauso wie die Kunst selbst, uns immer an unseren Grenzen zu | |
bewegen und diese zu verschieben.“ Als durchaus strapaziöse, | |
herausfordernde Reihe wirkt „Jetlag“ wie eine Antithese zum Festivalzirkus: | |
Reduzierte Bühnenbilder garantieren einen billigen Transport, und zur | |
bestmöglichen Programmierbarkeit dauert kaum ein Stück mehr als neunzig | |
Minuten. Dieser Marktökonomie Jetlags entgegenzustellen, ist eine starke | |
Setzung. | |
3 Mar 2009 | |
## AUTOREN | |
ESTHER BOLDT | |
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