# taz.de -- Selbstbefragungen eines fiebrigen Bewusstseins | |
> An der Krankheit gesunden: Martin Wuttke inszeniert „Solaris“ nach | |
> Stanislaw Lem als Theaterstück auf dem Militärflugplatz in Neuhardenberg | |
Es waren so betörende wie romantische Panoramablicke: Auf dem stillgelegten | |
Flugplatz von Neuhardenberg fuhr in der Ferne ein Straßenkreuzer mit | |
Wohnanhänger hin und her, bis er schließlich in den Flugzeughangar einbog. | |
Der kleinen Odyssee ließ der Schauspieler Martin Wuttke effektvoll folgen, | |
wie sich der eben noch daumengroße Bewohner aus Dostojewskis | |
„Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ zu voller Größe aufschwingt, um alle | |
Gewissheiten des Jahrhunderts zu zerlegen. | |
Womit Wuttke vor zwei Jahren noch experimentierte, das hat er an diesem | |
gottverlassenen Ort, von den Nazis gebaut, von der NVA als Geheimstützpunkt | |
genutzt und von der Bundeswehr wieder verlassen, jetzt, in seiner dritten | |
Regiearbeit, zu Bühnenreife gebracht: dem stillgelegten Flugplatz nicht nur | |
Atmosphäre auszusaugen, sondern die Tragödie über die Kluft von Materie und | |
Bewusstsein in die Weite des Rollfelds genau einzupassen. | |
In dem großen Hangar sind die Laborräume aus Stanislaw Lems Roman „Solaris�… | |
aufgebaut. Sie ähneln diffus beleuchteten Gewächshäusern, aber nicht | |
Pflanzen werden hier gezüchtet. Es ist die Station, auf der dem | |
Wissenschaftler Kelvin die Gedanken zu Fleisch werden, wenn ihm seine Frau, | |
die sich selbst umbrachte, authentisch bis auf die Haut am Ohrläppchen | |
wiedererscheint. Die Zuschauer sind in der Dämmerung mit den Bussen vom | |
Schloss Neuhardenberg gekommen. Der relativ späte Beginn scheint ins | |
Bühnenbild einkalkuliert: Über dem Rollfeld erinnert das Schwarz der | |
brandenburgischen Nacht an die Weite des Universums. Im Inneren des Hangars | |
erlauben drei Videokameras nur ausschnittweise den Blick in die Laborräume; | |
die Bilder werden auf drei übereinander gehängte Leinwände projiziert. Die | |
Anordnung suggeriert, was Lem schon in seinen Romanen beschrieb, bevor er | |
sich voll und ganz der Technologiekritik widmete: In den harten | |
Wissenschaften ist je nach ideologischem Standpunkt alles relativ geworden. | |
Wo die Wissenschaftler an ihre Grenzen geraten, vertiefen sie sich bei Lem | |
wieder in die Metaphysik. „Der Mensch benötigt einen festen Punkt“, so | |
einer der Wissenschaftler, „wo er stehen kann.“ | |
Natürlich wird in Wuttkes Stück dieser Punkt nicht ausgerufen. Es geht um | |
Positionsfindung, um nichts weniger als einen Erkenntnisprozess, den | |
Schritt des Menschen aus seiner – gar nicht immer selbst verschuldeten – | |
Unmündigkeit. Ein schmerzhafter Prozess, bei dem es sich um Kopf und Kragen | |
zu reden heißt. Und ein fiebriger Leidender ist der Wissenschaftler Kelvin | |
schon, der sich auf der Bettcouch wälzt und von seiner Ankunft auf Solaris | |
erzählt, während ihm ein Arzt die verwirrte Stirn kühlt. Beistand in | |
Kopfhöhe tut hier Not, weil die Dinge auf der Raumstation aus dem Bereich | |
des Begreifbaren geraten sind. Einen Ton zwischen Selbstbefragung und | |
Verwunderung hält der niederländische Schauspieler Fedja van Huêt, und | |
seinen Widerpart gibt vor allem Volker Spengler. Während der eine mit | |
seinem Bewusstsein, das das Denken nicht mehr kennt, ringt, fragt sich der | |
andere, ob ein Denken ohne Bewusstsein möglich ist. Eine Atmosphäre, die im | |
Sinne Nietzsches genüsslich zelebriert, wie man an seiner krankhaften | |
Verwirrungen gesunden und dabei an der rationalen Erkenntnis irre werden | |
kann. | |
Kelvins Ankunft auf der Raumstation, der Selbstmord seines Doktorvaters | |
Gibarian, die erste Begegnung mit Harey – die wichtigen Plotpoints aus Lems | |
Vorlage – kommen, und erst danach bilden sich die nach Haltung suchenden | |
Wissenschaftler weit draußen auf dem Rollfeld zu einer fackelbeleuchteten | |
Gartengesellschaft, die sich zu dekadenten Salongesprächen in | |
Fin-de-siècle-Stimmung steigert. Der Gedanke, dass Wirklichkeit immer auch | |
die Struktur von Fiktion haben soll, wird konsequent zur Problemquelle | |
umgedeutet. Das Unbehagen gegen das hingebungsvolle Enträtseln immer | |
tieferer und komplexerer Geheimnisse in den vergangenen hundert Jahren | |
verleiht den Figuren Schubkraft. Immer wieder zieht es die Darsteller – | |
Balibar und Inga Busch in der Doppelrolle der Harey, van Huêt, Spengler, | |
Christophe Kotanyi und Jörg Pohl als Wissenschaftler – aus den Wohnwagen | |
raus in die Weite des Hangar. Die Video-Großaufnahmen kontrastieren mit den | |
Körpern klein wie Däumlinge auf dem Rollfeld, wo ihnen die | |
Bewusstseinsparanoia erst recht zusetzt. | |
Es ist ein furioses Zugleich von Materialschlacht und Rezitationen, von | |
Materie und Stimmung. Die Fülle gelungener witziger Details wechselt sich | |
mit quälendem Leerlauf ab. Ein Sprachspiel, dessen Gier nach Leben sich als | |
Gier nach Erlösung entpuppt. | |
28 Aug 2004 | |
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