# taz.de -- Die Hand vor dem rechten Auge | |
> Der „Black Atlantic“ ist ein Meer der Erinnerung: Ismael Ivo hat das | |
> gleichnamige Festival im Haus der Kulturen der Welt mit einem Tanzstück | |
> über das Leben dreier Frauen eröffnet. Darin begleitet er sie auf eine | |
> Reise in die Vergangenheit Brasiliens | |
VON ASTRID HACKEL | |
Tänzer kauern in umgekippten roten Fässern und bringen sie mit ihren | |
Bewegungen erst sachte, dann übermütig ins Rollen. Dahinter sitzen drei | |
alte Frauen in weißen Kleidern, die Anmut und Ruhe ausstrahlen: Othella | |
Dallas, Tereza Santos und Mae Beata. Ihre individuellen Biografien stehen | |
im Zentrum der neuen Choreografie von Ismael Ivo, der im schwarzen Anzug, | |
einen Strauß roter Gerbera vor der Brust, den einsamen Außenposten bildet. | |
Mit „Olhos d’Áqua“, dem Auftakt zum mehrmonatigen Festival „Black Atla… | |
im Haus der Kulturen der Welt, begibt sich Ismael Ivo, der dem Haus schon | |
lange verbunden ist, nun an der Seite der Regisseurin Maria Thaís Lima | |
Santos ganz in die Obhut der Frauen. Er tut gut daran, denn die | |
Lebensgeschichten der drei beeindruckenden Persönlichkeiten ermöglichen | |
einen weitaus direkteren und sinnlicheren Zugang zur Kultur und Geschichte | |
der Schwarzen in Brasilien und über die Grenzen des Landes, schließlich | |
sogar des Kontinents hinaus, als historische Zeugnisse. | |
Sensibel und sich selbst zurücknehmend begleitet Ismael Ivo seine drei | |
Protagonistinnen zum Teil an der Hand auf eine fiktive Reise zurück in ihre | |
Vergangenheit, mitten auf die Kreuzung der Plantage, wo Mae Beata, eine | |
geschätzte Condomblépriesterin, geboren wurde, über den Atlantik nach | |
Angola, wo die politisch engagierte Tereza Santos, eine damals in Brasilien | |
bekannte Fernsehschauspielerin, Ende der 1970er Jahre inhaftiert war, aber | |
auch weit zurück in die Epoche der als Sklaven geborenen Eltern und | |
Großeltern. In narrativen Einschüben geben die Frauen Auskunft über ihr | |
gleichermaßen von Armut, Diskriminierung und Schmerz wie Hoffnung und Liebe | |
geprägtes Leben. | |
Wenn die 79-jährige Tänzerin und Sängerin Othella Dallas leichtfüßig steppt | |
und dazu mit ihrer bluestrunkenen Stimme erzählt, wie sie als Kind hüpften | |
und springen musste, um sich auf dem heißen Sandweg nicht die Fußsohlen zu | |
verbrennen, wird mit dem kleinen Mädchen ihrer Erinnerung eine ganze Zeit | |
wieder lebendig. Dabei spricht sie nicht nur durch den Mund und ihren | |
Körper, sondern strahlt eine über die Mittel von Sprache und Bewegung | |
hinausgehende affirmative Sinnlichkeit aus. | |
Tänzer lassen sich von der oral history der drei Frauen inspirieren und | |
übersetzen sie in Bilder und Bewegungsabläufe, weniger illustrierend als | |
vielmehr in assoziativ intuitiven Improvisationen. Intuition umschreibt | |
Ismael Ivo in diesem Fall als „in die Zukunft gewendete Erinnerung“. Die | |
Mischung verschiedener Tanzstile, aus Elementen wie dem klassischen | |
Ballett, Capoeira, HipHop und dem Breakdance belegen die aus der | |
Vergangenheit in die unmittelbare Gegenwart projizierten Geschichten mit | |
Körperbildern, die aus den schwarzen Wurzeln der Kultur auf immer neuen | |
verschlungenen Wegen ihren Stoff gesogen hat. Die behutsam das rechte Auge | |
verdeckende Hand wird, ausgestreckt und wieder zurückgezogen, zum Inbegriff | |
von Schutz und Ausgeliefertsein, von Selbst- und Fremdwahrnehmung, die | |
einander in nicht endendem Wechselspiel reflektieren. Spannend wird es, | |
wenn die zum Teil auf einer kleinen Nebenbühne stattfindenden Choreografien | |
den Dialog mit den Erzählerinnen suchen. Eine bedrohliche Atmosphäre | |
entspinnt sich um Tereza Santos, die scheinbar ziellos in eine militärisch | |
anmutende Formation gerät, vergeblich aufzuschließen versucht und in der | |
Gruppe schließlich verloren zu gehen droht. | |
Andere Bilder sind ambivalenter. Zwei sich entgegeneilende und mechanisch | |
umarmende Tänzer oszillieren in der Wahrnehmung zwischen sexuellem Begehren | |
und skrupellosem Kampf um die Behauptung der Macht. | |
Der treibende Rhythmus der Kongas (Musik Steve Shenah) verleiht dem tableau | |
vivant sowohl den Ausdruck beklemmenden Ausgeliefertseins als auch der | |
ekstatischen Befreiung des Willens. So wird das negative wie das positive | |
Potenzial der Aggression fühlbar, des Aufbegehrens wie der Unterwerfung. | |
Der „Black Atlantic“, durch zahlreiche crossings zum Meer der Erinnerungen | |
geworden, liegt zwischen Afrika, Amerika und Europa. Die unterschiedlichen, | |
enorm verdichteten Persönlichkeiten der Priesterin, der politischen | |
Aktivistin und der Künstlerin vereinen sich zu einem großen Wissens- und | |
Lebensschatz, einem nicht bloß oral, sondern sinnlich vermittelten Wissen. | |
„Olhos d’Áqua“ ist eine feierliche Liebeserklärung an den Tanz, die Mus… | |
die Religion und die Menschheit – an das Leben. | |
Weitere Vorstellungen: 21. 9., 23. 9. und 24. 9. jeweils 20.30 Uhr, Haus | |
der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, Tiergarten | |
21 Sep 2004 | |
## AUTOREN | |
ASTRID HACKEL | |
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