# taz.de -- Realer Vollzug | |
> Respektvoll, sachlich, akademisch: die Theaterprojekte der Gruppe Rimini | |
> Protokoll, zu der sich die drei Regisseure Helgard Haug, Stefan Kaegi und | |
> Daniel Wetzel formiert haben. Sie erforschen Gerichte, Friedhöfe, | |
> Parlamente und Märkte und vergleichen dann deren Regeln mit denen des | |
> Theaters | |
VON KATRIN BETTINA MÜLLER | |
Ein kleines Geräusch des Abschaltens. Jede Person, die in „deadline“ auf | |
der Bühne steht, hat sich ein Gerät ausgewählt. Meine elektrische | |
Zahnbürste, mein Rasierapparat, meine Kreissäge; so klingen sie, wenn sie | |
abgeschaltet werden. Das ist am Anfang bloß eine banale Information, am | |
Ende aber wird daraus eine Komposition des Abschaltens. Am Ende, wenn | |
„deadline“, ein Stück über das alltägliche Sterben von Rimini Protokoll, | |
ausläuft: undramatisch, sachlich, in geregelten Abläufen und technisch | |
kontrolliert. Völlig ohne Gefühl. | |
Völlig ohne Gefühl. Nein, das ist nicht wahr. Denn dieses postdramatische | |
Theater, das so ungeheuer voll gespickt mit Informationen daherkommt, mit | |
Statistiken gar, ist unheimlich. Je genauer es die Oberfläche der | |
Wissenschaften und Dienstleistungen ausbreitet, die für den Tod zuständig | |
sind, desto mehr verbreitet sich die Ahnung, zum eigentlichen Kern der | |
Sache nicht vorstoßen zu können. Das ist unheimlich und trotzdem ist man | |
froh darüber. Denn irgendwann merkt man, wie das Personal von „deadline“ | |
sich sehr präzise außen an den Umrissen dessen entlang bewegt, was von | |
innen gesehen nur schmerzen könnte. Ein taktvolles Theater, seltsam | |
pietätvoll in einer Zeit, in der die Sensation des Todes auch eine hoch | |
gehandelte Ware auf dem Kunstmarkt ist. | |
Das aber ist eine Besonderheit in den Arbeiten der Regisseure Helgard Haug, | |
Stefan Kaegi und Daniel Wetzel, die sich zur Gruppe Rimini Protokoll | |
zusammengeschlossen haben: aus dem behutsamen Abtasten der Oberflächen | |
einen neuen Realitätsbegriff zusammenzusetzen. Ihre Forschungsfelder waren | |
bisher ein Altenheim, eine Rennbahn, ein Übungsschießstand, Marktplätze in | |
Bonn und Hannover, der Bundestag und das Bestattungswesen. Als Darsteller | |
und Erzähler arbeiten sie dabei stets mit Laien zusammen, Experten des | |
Alltags. Für ihr nächstes Stück, das im Januar am Berliner Hebbel am Ufer | |
Premiere haben wird, recherchieren sie an Gerichtshöfen. Bis dahin stellen | |
sie sich in Berlin mit bisherigen Produktionen vor. | |
Es gibt sehr viel, was hier bei uns am Tod verdrängt wird. Der Schmerz in | |
vielen alltäglichen Todesarten, hinter Krankenhauswänden verborgen. Das | |
Nicht-sterben-Wollen, das Festhalten am Leben. Der Arbeitsaufwand für die | |
Nachkommen, die Wohnungsauflösung. Die Arbeitsgänge, denen die Leiche | |
unterzogen wird. Von alldem erfährt man in „deadline“ viel, gegliedert in | |
die Abschnitte einer Trauerfeier. Jede Metaphysik und Religion aber bleibt | |
außen vor. Denn hier wird das Ereignis Sterben nicht gedeutet, sondern | |
beschrieben. | |
Zu dem auftretenden Personal gehören ein pensionierter Bürgermeister, der | |
seine Gemeinde um ein Flammarium (ein innovatives Krematorium) bereichert | |
hat, eine Krankenschwester, die als Präparatorin bei Obduktionen arbeitet, | |
ein Steinmetz und ein Trauerredner. Sie alle werden im Laufe des Abends | |
nicht zuletzt durch skurrile Zwischenspiele, wenn die Rituale ihre absurden | |
Seiten offenbaren, auch als Personen greifbar, die der Zweifel, ob der | |
professionelle Rahmen als Auseinandersetzung genügt mit dem, was sie an | |
Leben und Sterben zu bewältigen haben, zur Mitwirkung gebracht hat. Dann | |
knistert ein Humor, trocken wie die Tannennadeln an den nicht mehr frischen | |
Kränzen. | |
Der Ruf von Rimini Protokoll hat in die Vorstellung einige | |
Theaterwissenschaftler gezogen. „Ich konzentriere mich dieses Semester ganz | |
auf Racine und Rimini Protokoll in meinen Seminaren“, erzählt eine | |
Professorin. Das junge Regiekollektiv, das selbst an einer Universität, am | |
Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft, zusammenfand, ist | |
theoretisch ergiebig. Ihre Stoffentwicklung ist von großer Transparenz, ein | |
work in progress, das durch seine gut strukturierten Schritte beeindruckt. | |
Eigentlich ein permanentes Seminar der Wirklichkeitsbeobachtung. | |
Denn diese Regisseure sind zunächst einmal sehr höfliche Moderatoren. Man | |
kann sich gut vorstellen, dass sie alle schon eine Karriere als | |
Schulsprecher gemacht haben. Sie fragen Erfahrungen ab, gerade auch bei | |
älteren Leuten und Pensionären. Sie fragen nach der Normalität des Alltags, | |
gerade da, wo die Routine ihn sonst verschluckt. Sie finden Mitwirkende und | |
eine zunehmend wachsende Fan-Gemeinde, weil sie auch in ein | |
gesellschaftliches Vakuum vorstoßen: jenseits der zwanghaften | |
Selbstrepräsentation und der Suche nach Distinktionen Anerkennung dafür zu | |
finden, dass man einfach die Normalität lebt. | |
Für ihr Stück „Zeugen!“ (Premiere im Januar) luden sie zum Lokaltermin an | |
das Kriminalgericht in Berlin-Moabit. Für viele in den Arbeitsgruppen, mit | |
denen sie auf den Zuschauerbänken Platz nahmen, war dies der erste Besuch | |
an einem Gericht. Die Prozesse waren meistens Bagatellfälle: | |
Sachbeschädigung durch angesoffene Jugendliche, Körperverletzung, | |
Geflügeldiebstahl bei Karstadt. In den Gesprächen danach irritierte die | |
meisten das Gefühl, als Voyeur unberechtigt eingedrungen zu sein, dem | |
Wissen zum Trotz, dass die Zuschauerbänke für die Öffentlichkeit da stehen. | |
Die Sympathie mit den Angeklagten, allesamt irgendwie arme Schweine, ließ | |
keine rechte Begeisterung über den Justizapparat aufkommen. | |
Im Gegenteil: Fast alle waren erschrocken über die Erfahrung, wie wenig die | |
Möglichkeiten der Rechtsprechung mit einem ursprünglichen Rechtsempfinden | |
zu tun haben; wie schnell hier jeder Begriff von Wahrheitsfindung eine | |
Frage der überzeugenderen Inszenierung schien. Eigentlich könnte man | |
meinen, dass diese Erfahrung über die Einpassung des Lebens in die Formen | |
der Institutionen zur bürgerlichen Grundausbildung gehören würde. Deswegen | |
war es letztlich auch egal, nur über den Umweg über das Theater hierher | |
gekommen zu sein, um einmal seine „Rolle“ als „Öffentlichkeit“ wahrgen… | |
zu haben. | |
Tatsächlich gleichen Rimini Projekte einem Grundkurs im Basiswissen | |
Demokratie. Ein sozialer Realismus, dem nicht einmal immer große kritische | |
Intentionen unterstellt werden können. Vergleicht man sie mit Christoph | |
Schlingensief, was nicht nur ihre Vorliebe für öffentliche Auftrittsorte | |
und die Arbeit mit Laien nahe legt, sondern auch die Förderung durch den | |
Intendanten Matthias Lilienthal, dann sind sie geradezu erschreckend | |
korrekt: Ihre Haltung ist so enorm konstruktiv, so gesäubert von Egomanie, | |
Anarchismus, Selbstzerstörung und missionarischem Übermut. Sie sind die | |
nächste Generation – aber sie sind auch noch am Anfang. | |
„deadline“, bis zum 30. November im HAU 3 in Berlin | |
29 Nov 2003 | |
## AUTOREN | |
KATRIN BETTINA MÜLLER | |
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