# taz.de -- Die Passion der St. Germaine | |
> Die amerikanische Feministin Germaine Greer plädiert in ihrem neuen Buch | |
> für den Knaben als Lustobjekt | |
Die amerikanische Schriftstellerin Germaine Greer ist das, was man unschön | |
eine „Altfeministin“ nennt. Ausgerechnet sie widmet sich nun in ihrem | |
jüngsten Buch „Der Knabe“ männlichen Jugendlichen, was immer noch einer | |
mittleren Unerhörtheit gleichkommt. Nicht nur bedient Greer das immer noch | |
leicht anrüchige Klischee von der älteren Frau und dem jüngeren Objekt der | |
Begierde. Sie stellt sich auch bewusst außerhalb der kulturbetrieblich | |
etablierten Tradition der Knabendarstellung durch männliche | |
(Künstler-)Fantasien. So wie Camille Paglia in den Neunzigern Gewalt, | |
Pornografie und Sexualität außerhalb eines sowohl von Feminismus als auch | |
vom Patriarchat instrumentalisierten Diskurses reflektierte, denkt Greer | |
über den Jungen in der westlichen Kunst und Literatur nach. Sie fordert die | |
weibliche Inanspruchnahme des Knaben – eine zunächst verheißungsvolle | |
Aussicht. | |
In offensiver Bilderfülle sagt Greer: Schaut sie euch an, die schönen Jungs | |
in der Kunst. Und sie hat sie überall aufgestöbert: in der Antike, in der | |
Renaissance, bei den Präraffaeliten, im bürgerlichen Portrait und in der | |
Dokumentarfotografie. Von Apoll, Amor, über den Heiligen Sebastian bis zu | |
Sally Manns „hinreißenden Aktfotos ihrer eigenen Kinder“ versammelt Greer | |
über 200 Knabenmotive. Doch wo schon die opulente Bildauswahl zufällig und | |
sprunghaft erscheint – Larry Clark findet sich neben Benvenuto Cellini, | |
Dokumentarfotografie neben Präraffaeliten – geraten ihr die argumentativen | |
Fäden erst recht zu einem unentwirrbaren Knoten. | |
Greer entwickelt eine geistesgeschichtliche und kunsthistorische Genealogie | |
des Knaben. Zunächst versucht sie darin nachzuweisen, das „den großen | |
Meistern früherer Zeiten“ stets Knaben als malerisches Modell dienten, von | |
denen aus weibliche Nacktheit qua Imagination hergestellt wurde. Das | |
Ergebnis, so Greer: „Die Nackte in der Kunst hat etwas Steifes, | |
Unnatürliches.“ Mit der Entwicklung der Akademien seit dem Ende des 18. | |
Jahrhunderts, so Greer, musste die Kunst ob erhöhter Breitenwirkung dann | |
„frauentauglich gemacht“, also entsexualisiert werden, so dass plötzlich | |
aus dem beherzten Amor ein Mädchen wurde. Der Knabe war weg aus den Bildern | |
– Zeit, dass wir St. Germaine folgen, die die Knaben für uns Frauen endlich | |
wieder auf den Plan ruft. | |
Doch auf Greers Streifzug durch die Geistesgeschichte kommt es oft zu | |
unfreiwillig komischen Momenten, etwa wenn sie sich im Blick auf ein | |
Gemälde Joshua Reynolds entzückt: „Der etwa Zwanzigjährige ist zwar in | |
wallende Gewänder gehüllt, doch gerade dies bringt zu Bewusstein, was für | |
ein schlanker, dunkelhäutiger Körper sich darunter verbergen muss.“ An | |
anderer Stelle bringen sie die „strammen Hinterbacken“ der „Prachtbursche… | |
in Wallung. | |
Wo Greer hier noch unreflektiert schwärmt, macht sie andernorts höchst | |
fragwürdige Aussagen, die nicht nur eine antiquierte Vorstellung von Kunst | |
verraten, sondern auch die Figur des Kindes in ein fragwürdiges Licht | |
rücken: „Reine Sinnlichkeit entfaltet ihre künstlerische Wirkung dann, wenn | |
ein Kind betrachtet und gefeiert wird – anders als es sich offenbar | |
verhält, wenn das Objekt der Begierde ein Mann ist.“ Mit derart | |
dogmatischen Sätzen zum Kind im Manne, dem Hort alles Authentischen, und zu | |
dem, was echte Kunst sein zu habe, vergibt Greer die Chance, den Diskurs | |
über Männlichkeit voranzutreiben. | |
Ärgerlich ist zudem in allen Kapiteln die Vermischung von literarischen und | |
kunsthistorischen Zusammenhängen und sozialen Fakten. Immer wird der Knabe | |
als künstlerische oder literarische Fiktion mit seinen realen Pendants | |
verglichen. Da werden literarische Fantasien in Beziehung zum Sextourismus | |
gesetzt oder das Ungestüme Amors zur angeblich hohen Selbstmordrate | |
männlicher Jugendlicher, ihrer „Skrupellosigkeit und Impulsivität“. | |
Immer wieder tauscht eine enthusiasmierte Greer die kritische, | |
scharfzüngige Analytikerin gegen die Schwärmerin ein – und biegt sich | |
literarische und kunsthistorische Fakten zum Zerrbild des Knaben, der, | |
schön und passiv, plötzlich zum idealen Lustobjekt der Frau im 20. | |
Jahrhundert mutiert. Greer bastelt sich im Namen ihrer „Inanspruchnahme“ | |
einen kulturell verfeinerten, erotisch durchsetzten Katalog, der geradewegs | |
so tut, als hätte es nie eine Genderdebatte gegeben, als sei die | |
Konstruktion von Geschlechtlichkeit nicht längst ein popkultureller und | |
künstlerischer Allgemeinplatz. | |
Den gehäuften Phänotypen schließt sich zudem keine Analyse an: Wem dienten | |
die jeweiligen Repräsentationen von Männlichkeit? Aus welchen | |
gesellschaftlichen Reflexen heraus wurde die Knabenfigur über die Zeit | |
modifiziert? Diese Fragen aus weiblicher, feministischer Sicht weiter zu | |
differenzieren wäre Herausforderung genug gewesen – und ebenso anregend zu | |
bebildern. MAGDALENA KRÖNER | |
Germaine Greer: „Der Knabe“. Gerstenberg, Hildesheim, 2003, 39,90 Euro | |
15 Dec 2003 | |
## AUTOREN | |
MAGDALENA KRÖNER | |
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