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# taz.de -- Cinecittà des Nordens
> Mit seinen Stummfilmepen zählte Turin zu den wichtigsten Filmstädten
> Italiens. Heute interessieren sich Regisseure mehr für die
> Partisanenkämpfe im Faschismus. Das Arsenal zeigt seine Reihe „Ein
> Jahrhundert Kino aus Turin und dem Piemont“
VON CHRISTIANE BREITHAUPT
Nacht für Nacht das gleiche Ritual: Martino, Kustode im Filmmuseum, lehnt
sich in seinem Stuhl weit zurück und schaut fasziniert zu seinen
Stummfilmlieblingen auf, die gleich auf zwei Riesenleinwänden vor ihm
flimmern. Über ihm wölbt sich der mächtige Turm der Mole Antonelliana, das
Wahrzeichen der Stadt Turin, in dem sich seit 2001 das Museo Nazionale del
Cinema befindet. „Dopo Mezzanotte“ (2003) des Turiner Regisseurs Davide
Ferrario ist eine vierfache Hommage: an den fast schon religiös
inszenierten Jahrmarktzauber des Filmmuseums (der Bau war ursprünglich als
Synagoge geplant), an das Stummfilmkino, an die Liebe und an Turin, das
nicht zuletzt durch seine in Szene gesetzten Lichtinstallationen, die
alljährlich die Hauptstraßen in den Wintermonaten schmücken, eine
märchenhafte Entrücktheit hat.
„Ein Jahrhundert Kino aus Turin und Piemont“ heißt die Filmreihe, die das
Kino Arsenal von heute bis zum 9. Februar zeigt. Die zehn ausgewählten
Filme spielen entweder in Turin und im Piemont oder wurden dort produziert.
Die Region versucht zu bewahren, was durch die Dominanz der römischen
Cinecittà jahrelang vergessen schien: Zu Stummfilmzeiten war Turin mit die
wichtigste Filmstadt Italiens, in der, nach einer verspäteten Ankunft des
Cinematographen der Gebrüder Lumière, zeitgleich mit der Automobilindustrie
ab 1906 auch zahlreiche Filmproduktionsfirmen entstanden. Bis zur
Einführung des Tonfilms wurden circa 3.500 Filme produziert.
Hier drehte Giovanni Pastrone 1914 seinen Monumentalklassiker „Cabiria“
über die Entführung des Mädchens Cabiria inmitten des Punischen Krieges,
die dem Tempel des Moloch geopfert werden soll. Die Mammutproduktion, die
ein für damalige Verhältnisse gewaltiges Budget von 1,25 Millionen Lire
verschlang, 20.000 Statisten und ein Jahr Drehzeit beanspruchte, gilt als
Meilenstein seines Genres – auch wenn, zum Beispiel, die Vossische Zeitung
anlässlich der durch den 1. Weltkrieg um Jahre verzögerten
Deutschlandpremiere im Jahr 1920 nörgelte, dass die Hauptsache gewesen sei,
„Menschenmassen richtig in die Landschaft zu setzen“. Interessanterweise
taucht als Drehbuchautor der damals ultimativ schöngeistige und überaus
populäre Schriftsteller Gabriele D'Annunzio auf. In Wirklichkeit
korrigierte er jedoch nur die Zwischentitel und gab den Helden ihre Namen.
Ansonsten verkündete er stolz, noch nie in seinem Leben einen Film gesehen
zu haben.
Monumentalfilme blieben bis in die 1970er-Jahre hinein in Italien ein
beliebtes Genre, auch als der Neorealismus längst ein neues Realitätsbild
propagiert hatte und das europäische Autorenkino einläutete. Der zweite
Klassiker der Piemont-Reihe ist „Riso amaro“ (1949) von Giuseppe de Santis,
der in den Reisfeldern des Piemont gedreht wurde, einen wichtigen Film des
Neorealismus darstellte – und diesen doch zugleich herausforderte. Die
Geschichte um eine junge Reisarbeiterin, die von einem charmanten, aber
skrupellosen Ganoven (Vittorio Gassmann) erst verführt, dann von ihm zur
Vernichtung der Reisernte angestiftet und schließlich in den Selbstmord
getrieben wird, ist vielleicht eine Spur zu dramatisch, zu sehr Sex und
Crime, um pures Wirklichkeitskino zu sein. Unübertroffen bleibt die
selbstbewusst-aggressive Erotik der jungen Silvana Mangano.
Zwei Filme der Reihe erzählen von der Resistenza, die in Norditalien nicht
nur der Kampf gegen die deutschen Faschisten war, sondern auch Bürgerkrieg.
Sowohl „Il Partigiano Johnny“ (2000) nach dem bekannten Roman von Beppe
Fenoglio als auch „I nostri anni“ (2000) sind von jungen Regisseuren
gedreht, denen es mehr um die heutige Auseinandersetzung mit einer lange
glorifizierten Geschichte geht, als um deren kohärente Bebilderung.
In „I nostri anni“ gelingt es Daniele Gaglione, die Erinnerungsfetzen
zweier alter Partisanenfreunde mit ihrem heutigen Leben assoziationsreich
und virtuos in Schwarzweißbildern zu kombinieren. Während Natalino, der
allein zurückgezogen in den Piemonteser Bergen wohnt, in einem Interview
von seiner Zeit als Partisan erzählt, kümmert sich Alberto im Altersheim um
einen querschnittsgelähmten Mann. Als zwischen den beiden alten Männern
eine fast zärtliche Freundschaft entsteht, erkennt Alberto anhand kleiner
Gesten, dass der nette, hilflose Mensch jener kommandierende Faschist war,
der die Verletzten seiner Partisanengruppe hinrichten ließ. Der Racheakt
der alten Männer, für den Alberto seinen Freund Natalino holt, scheitert
letztlich an der langen Zeit, die seitdem vergangen ist.
In der High Society Turins spielt der Kriminalfilm „La donna della
domenica“ (1976), den Luigi Comencini in gewohnter Eleganz nach dem
Bestseller des bekannten Turiner Autorenduos Carlo Fruttero und Franco
Lucentini mit Jacqueline Bisset als gelangweilt-sarkastische
Oberschichtsfrau und Marcello Mastroianni als relaxter süditalienischer
Inspektor Santamaria inszenierte. Zwölf Jahre zuvor verkörperte Letzterer
in Mario Monicellis „I compagni“ (1963) über den ersten Weberaufstand in
Turin am Ende des 19. Jahrhunderts einen frühen Arbeiterführer.
Einen Film sucht man allerdings vergebens: Michelangelo Antonionis „Le
amiche“ (1955) nach Cesare Paveses Roman „Tra donne sole“ fehlt in der
Reihe. Auch wenn es bei Antonioni vor allem um die psychisch-existentielle
Zustandsbeschreibung einer Handvoll von Frauen ging, den
aristokratisch-zurückhaltenden, mitunter kalten Charme Turins wusste er
wunderbar einzufangen.
25 Jan 2005
## AUTOREN
CHRISTIANE BREITHAUPT
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