# taz.de -- Enduring Freedom. Mein geheimes Militärtagebuch | |
An manchen Tagen wurde ich, Darstellerin der Paschtunin Fatima Kabil, | |
viermal erschossen. Von echten GIs oder von italienischen Soldaten. In | |
Hohenfels, dem bayerischen Afghanistan | |
VON LIAMA MENINA | |
Tag 1 | |
Heute war Ankunft in Hohenfels, Europas zweitgrößter Nato-Basis. Seit 1951 | |
trainieren US-Soldaten hier für Kriegseinsätze. Rund 160 Quadratkilometer | |
militärisches Sperrgebiet im idyllischen Bayern, nahe Parsberg bei | |
Regensburg. Permanente Kriegssimulation im Naturschutzgebiet. 350 Menschen | |
sind hier heute angeliefert worden, um den Amerikanern dabei zu helfen. | |
Ich, Studentin in Geldnot, bin auch dabei. Wir werden 26 Tage lang unsere | |
Lager nicht verlassen. Allein drei Busse aus Berlin, weitere aus Leipzig, | |
Dresden, Nürnberg. Beim Check-in fallen sich alte Bekannte um den Hals: | |
„Hohenfels-Veteranen“. | |
Manch einer ist zum ersten, andere zum sechsten oder zehnten Mal hier. Es | |
ist mein erstes Mal, und mein Gefühl schwankt am Ende des Check-ins | |
zwischen „mein letztes Mal“ und „sofort nach Hause fahren“. Dass viele | |
Kollegen pazifistisch eingestellte Kommilitonen sind, gibt ein wenig | |
moralische Sicherheit. Andererseits stellen wir uns die Frage: Warum | |
treffen sich gerade Menschen wie wir an einem solchen Ort? Weil | |
konservative Studenten ebensolche Eltern und somit Geld oder zumindest | |
vernünftige Nebenjobs haben? Weil Menschen mit geregeltem Leben sich nicht | |
einen Monat lang der Welt entziehen können, um einen geheimnisvollen Job | |
anzunehmen? | |
Wir Frischlinge sind nervös. Hören von Veteranen: „26 Tage ist schon krass. | |
Irak war neulich schon lang – 21 Tage!“ oder „Wir kommen nach Afghanistan, | |
das wurde schon lange nicht mehr geübt“. Wer sich auf die bundesweit in | |
Tageszeitungen geschaltete Anzeige „Statisten für Rollenspiele gesucht“ | |
beworben hatte, einigermaßen durch den Englischtest kam und nun hier ist, | |
sich an alle Regeln hält und die kommenden vier Wochen keinen Ärger macht, | |
darf – so er dann noch möchte – wiederkommen: GIs müssen ständig trainie… | |
werden. Kosovo, Irak, Afghanistan. | |
Deshalb sind wir jetzt C.O.B.s, „Civilians on the Battlefield“, Statisten | |
auf dem Schlachtfeld. Wir Studierende, Arbeitslose aller Altersklassen, | |
Aussteiger, Künstler, Familienväter, die einen Monat Zeit haben, um in | |
einer irrealen Zwischenwelt zu leben, werden „afghanische Dorfbevölkerung“. | |
Ohne Internet, in einem Gebiet mit schlechtem oder, netzabhängig, gar | |
keinem Funktelefonempfang. Jeder von uns verdient neunzig Euro pro Tag, ein | |
Einsatztag dauert von 5 bis 22 Uhr. Wenn wir 24-Stunden-Dienst haben, | |
werden es 100 Euro sein, alles auf Lohnsteuerkarte. Wer bei einem | |
Regelverstoß erwischt wird, bekommt nur siebzig Euro pro Tag und fährt auf | |
eigene Kosten zurück. | |
Nach stundenlangem Check-in – der Pass muss abgegeben und überprüft werden | |
– fahren unsere Busse durch ein malerisches hügeliges Waldgebiet, dann | |
minutenlang an Helikoptern, Panzern, Baracken und einer US-Soldatenstadt | |
vorbei. Unser Gepäck ist weder durchsucht noch beschnüffelt worden. Durch | |
das Informationsblatt, das uns unser Arbeitgeber Optronic im Auftrag der US | |
Army vor diesem Einsatz geschickt hat, sind wir informiert: Alkohol und | |
alle anderen Drogen sind verboten, Anweisungen ist Folge zu leisten. | |
Einige Berliner Jungs sehen verkifft aus. Am Rastplatz haben sie gerade | |
ihren letzten Joint in Freiheit geraucht. Trauen sie sich auch, Gras in das | |
US-Gebiet mitzunehmen, hierhin, wo die US Military Police herrscht? | |
Die Busse laden uns an der „Tech Site“ ab, dem Optronic-Organisationsplatz. | |
350 Menschen laden ihr Gepäck in ein bestuhltes Bierzelt. Von den Veteranen | |
hört man, dass bei Diebstahl das gesamte Gepäck aller Anwesenden durchsucht | |
wird, der Dieb sofort nach Hause muss – auf eigene Kosten, wie bei allen | |
Regelverstößen. Im Feldwebelton fordert uns ein hagerer, großer Mann mit | |
Wollmütze und sehr hoch gezogener, enger Jeans auf: „Setzen, zuhören, Folge | |
leisten“. Die Veteranen tuscheln uns zu, dass es sich um Harry handelt. Mit | |
Harry ist nicht zu spaßen, denn er war in der Fremdenlegion und ist „Chief | |
Supervisor“ von Optronic. Harry brüllt uns an, als wären wir massenmordende | |
Teenager im Bootcamp. Und das lispelnd und in Ruhrpott-Mundart. | |
Wir lernen, was uns durch die Firma Optronic – im Namen der US Army – für | |
die nächsten vier Wochen verboten ist: jeglicher körperliche Kontakt, | |
Sport, schnelle Bewegungen aller Art, herumliegende, nichtexplodierte | |
Munition berühren, Alkohol, Drogen, Sex, Unpünktlichkeit, Licht nach 22 | |
Uhr, unser Essen zu essen, wo wir wollen, Essen aufbewahren, privater | |
Kontakt mit Soldaten. Frauen ist das Sprechen mit Soldaten untersagt, sie | |
dürfen nichts Kurzes, nichts Dekolletiertes, nichts zu Enges tragen, | |
niemals Röcke, niemals Tarnfarben oder schwarz. Keine Waldfrüchte sammeln, | |
tagsüber nicht schlafen. | |
Dafür dann die Pflichten: aufstehen um fünf Uhr morgens, Krankmeldungen nur | |
vor sieben Uhr morgens, persönliche Hygiene beachten, jederzeit bereit | |
sein, den Teamgeist aufbauen und Engagement zeigen, genug Wasser trinken, | |
immer lange Hosen und festes Schuhwerk tragen, spazieren gehen nur entlang | |
der Dorfstraße. Abstand halten zu militärischen Fahrzeugen. Ausweis dabei | |
haben und bei Fahrten in militärischen „Vehikeln“ immer die alten, extrem | |
schlecht sitzenden Bundeswehrhelme tragen. Wer zwei Tage krank ist, wird am | |
dritten nach Hause geschickt (auf eigene Rechnung). | |
Alle Namen werden verlesen, jeder einem Dorf zugeteilt. Die meisten, über | |
hundert C.O.B.s, sollen nach „Übungsdorf“. Die Veteranen erklären, es sei | |
das härteste Dorf, in dem am meisten „abgeht“. Die Neuen sind neugierig, | |
niemand kann sich etwas unter „hartem Dorf“ vorstellen. Stundenlanges | |
Warten, bis ein Bus drei Ladungen voller Menschen nach „Ü-Dorf“ karrt. 45 | |
Minuten Fahrtzeit bei maximal erlaubten 40 km/h. Ausladen. In der | |
Dunkelheit einer Kosovo-Dorfattrappe mit Puff, Kirche, Moschee und | |
„Nanu-Nana“-Geschäftsnachbau stellen sich Frauen in erster Reihe auf, | |
Männer in der zweiten. Ein Dschingis-Khan-gleich aussehender 50-Jähriger | |
mit ungarischem Akzent befiehlt, uns anders aufzubauen. Dann teilt er | |
Frauen zum Kloputzen ein. Unser Supervisor, dicklich, nicht hart, ein | |
kleiner Deutscher, Dirk Bach nicht unähnlich, erklärt: „Das ist Gyuri. Der | |
spielt sich immer auf. Nehmt ihn nicht ernst, er macht gern auf Chef. Den | |
offiziellen Klo-, Bad- und Küchenputzplan hänge ich morgen aus.“ | |
Nachdem alle C.O.B.s ihre Massen von Gepäck in eine Baracke gestopft haben, | |
werden die alten Bundeswehrdoppelstockbetten belegt. Supply-Ausgabe. Die 27 | |
Frauen und circa 80 Männer erhalten: eine dünne, staubige Matratze, ein | |
altes Bundeswehrlaken. Schlafsack und Kopfkissen waren selbst mitzubringen. | |
Dazu: Regenponchos, massive Gummi-Überschuhe für Schlamm und Regen, Helme | |
und Miles. | |
Tag 2 | |
Das Miles, ein Infrarotdetektor, mit dem die Soldaten erkennen, ob sie uns | |
abgeschossen haben, muss von jedem C.O.B. ständig getragen werden. Dumm | |
nur, dass die ungefähr zehn mal fünfzehn Zentimeter große Metallbox an | |
einem mit Sensoren ausgestatteten, pferdegeschirrartigen Gurtgeflecht auf | |
dem Rücken zwischen den Schulterblättern sitzt. Die vielleicht anderthalb | |
Kilo, die es wiegt, fühlen sich am Ende eines Arbeitstages wie mindestens | |
fünf an. Nicht mal zum Essen dürfen wir es absetzen. Wer zweimal ohne | |
erwischt wird, fliegt. Ich spüre den Kasten noch, wenn ich nachts auf der | |
harten Matratze in der stinkigen Baracke Schlaf suche. Ein kleiner Trost: | |
Die pazifistischen Kommilitonen und ich haben die Batterien aus den Miles | |
entfernt. So sind sie etwas leichter, und man hat das sexy Gefühl, die US | |
Army zu sabotieren. | |
Wir mussten unterschreiben, nichts von dem hier Erlebten an die | |
Öffentlichkeit zu bringen. Die Unterschriften leisteten wir vor dem Sohn | |
des Geschäftsführers von Optronic – der gerade wegen versuchten | |
Waffenschmuggels nach Nordkorea vor Gericht steht. Ja, heißt es auf | |
Nachfrage, hier seien versehentlich schon Menschen erschossen oder vom | |
Militärfahrzeug überfahren worden. Aber wir bräuchten uns keine Sorgen zu | |
machen: Es waren immer nur Soldaten. | |
Tag 3 | |
Gestern und heute wurden wir von der US-Armee eingewiesen. Diesmal | |
trainieren sie tatsächlich Afghanistan – „Enduring Freedom“. Zwei Captai… | |
erklärten uns Afghanistan und muslimische Traditionen anhand eines | |
stümperhaften Powerpoint-Referats. Im Gegensatz zu Harry können sie sehr | |
laut sprechen, ohne zu brüllen. | |
Wir lernen, dass 45 Prozent der von der US Army in Afghanistan | |
ausgebildeten lokalen Sicherheitskräfte nach dem ersten Lohn desertieren | |
und ein Drittel des dortigen Bruttoinlandsprodukts dem Opiumanbau zu | |
verdanken sei. Sechs bis zehn Millionen Landminen soll es geben, 300 bis | |
400 Afghanen sterben monatlich durch Minen – das Land braucht also | |
amerikanische Hilfe! Ein smarter Captain, der mit blank gewichsten Stiefeln | |
und George-Clooney-Look eher nach Hollywood als in ein bayerisches Bierzelt | |
passen würde, erklärt uns auf Amerikanisch, dass „die afghanische Kultur | |
sehr opportunistisch geprägt und Vertrauen daher unmöglich“ sei. Er zeigt | |
Dias, auf denen er selbst in Afghanistan zu sehen ist, im Schneidersitz bei | |
Paschtunen hockend. Er erklärt: „Am 11. September haben sie den schlafenden | |
Drachen USA geweckt. Dann haben wir die Taliban besiegt. Danach haben wir | |
Karsai genommen und ihn zum Präsidenten gemacht.“ | |
Der andere Captain, in legerem Freizeitlook, erklärt uns auf Deutsch dann | |
noch schnell, wie wir jetzt denken sollen: „Fangt nicht an mit diesem ‚I | |
don’t like Bush I like Gerhard‘-Shit. Wir arbeiten hier, um Leben zu | |
retten. Wenn ihr eure vorgefasste Meinung über das Militär nicht ändern | |
könnt, dann ist das hier der falsche Platz.“ | |
Es gibt neue Regeln zu beachten, Übungsdorf wird das afghanische Qalat. Die | |
meisten von uns werden nun Paschtunen oder Poposai. Wir alle sind Sunniten. | |
Tag 4 | |
Viele Veteraninnen sind bereits stolz mit Soldaten befreundet, verlobt. | |
Viele GIs haben deutsche Ehefrauen. Man spricht Army-intern von „Loveboat | |
Ubungsdarf“. Die Girls, die schon Lover bei der Army haben, erzählen alle | |
dieselbe Story: „Ja, beim letzten Mal hier kennen gelernt, aber im Camp | |
lief nix, ist ja verboten, er nahm sich Urlaub, besuchte mich dann.“ True | |
love can wait? Es scheint, als wollten manche Mädchen die Soldaten auch | |
dieses Mal beeindrucken. Einige schminken sich, jeden Morgen um fünf Uhr. | |
Manche haben einen rot-glasigen Blick, bestimmt, weil sie sich ins | |
verschlafene Auge gestochen haben. | |
Wir haben nur vier Duschen für 27 Mädchen, dafür aber oft „Meeting“, zum | |
Beispiel morgens um Punkt sieben Minuten vor sechs. In einer stockdunklen, | |
unbeheizten serbisch-orthodoxen Kirche. Die Supervisoren sehen nichts. Zeit | |
für Schabernack! Wer sein Funktelefon dabei hat, spielt Musik und | |
Klingeltöne ab und lässt es leuchten. Klatschen, lachen. Nach ein Paar | |
Sekunden schreit der Supervisor – irgendeine Drohung, die das schlimme Wort | |
„Rausfliegen“ beinhaltet. Mit Laserpointer zeigt er auf die | |
Schabernackmacher. Aller Spaß vorbei, Gruppe stumm. | |
Supervisor Nr. 3, nicht Dirk Bach, sondern ein hagerer Althippie, immer mit | |
Wollmütze, so wie Harry, verkündet: Alle bekommen original afghanische | |
Kleidung! Bis die Kostüme da sind, müssen wir uns in alte Bundeswehrlaken | |
hüllen. Kopftücher, Schals oder was gerade da ist, auf den Kopf basteln. | |
„Männer – macht euch Turbane, ist mir scheißegal wie!“ Darüber das | |
schreckliche Miles. | |
Den Tag verbringen wir mit großem Gelächter in unserem kleinen | |
Fünfzehn-Häuser-Dorf. Die türkischstämmigen Männer sehen mit Turban sogar | |
elegant aus! Der Puff ist immer noch da, später, wenn die Amis kommen, | |
werden sie dort schlafen. Ein paar Frauen wollen beeindrucken und | |
verkleiden sich als Schwangere. Gewandet in Laken und Handtücher (waren | |
mitzubringen), binden sie sich Bücher und Kissen um den Bauch. Der | |
Supervisor lobt später die „Kreativität“. Was die Übereifrigen allerdings | |
nicht bedacht haben: Sie müssen die nächsten zwanzig Tage in ihrer | |
Kostümierung verbringen. | |
Tag 5 | |
Jetzt verstehen wir den Begriff „hartes Dorf“: Wir haben in neun Tagen 36 | |
„Lanes“ zu absolvieren. Eine Lane bedeutet einen Militäreinsatz in einem | |
Dorf. Die Teenager-GIs aus Amerika, die meisten zum ersten Mal an einem | |
anderen Platz der Welt, stürmten unser Dorf und übten „Terroristen Waffen | |
abnehmen“. Es war nicht leicht: Zwei Platoons von je dreißig Mann trafen | |
auf unser mittlerweile in zwei Kriegsschauplätze geteiltes Dorf, in dem | |
sich andere GIs als „Terroristen“ (also schwarze Kleidung, auch mit Turban) | |
versteckten. | |
Sie saßen in Häusern, und wir Deutsch-Afghanen sollten die Amis ablenken, | |
verwirren, mit Umarmungen und Einladungen zum Tee begrüßen. Die Terroristen | |
hatten natürlich auch Waffen. Und haben nach anderthalbstündigem | |
Häuserkampf gewonnen: Alle US-Soldaten wurden durch das hohe Fiepen ihrer | |
Miles als tot identifiziert, ein Terrorist überlebte. 30:29 für die falsche | |
Seite. Von der Dorfbevölkerung kamen nur ein paar Frauen durch, die ab | |
heute zwei- bis dreimal pro Tag ein bis zwei Stunden in dem ungeheizten | |
Rohbau-„Frauenhaus“ abwarten müssen, bis die Männer alle totgegangen sind. | |
Drei Mädchen weinten wegen der ultrarealistischen Kriegssimulation, dem | |
Geballere, den ganzen schweren Waffen, den Hubschraubern, den auf der | |
Straße liegenden toten Ehemännern, wegen der Blendgranaten und dem Rauch. | |
Wegen der Belagerung durch Humvees, diesen aus dem Fernsehen bekannten | |
schwer bewaffneten „Highly Mobile Multi Purpose Vehicles“, diesen fetten | |
Hyperautos, die auch an der Wall Street cruisen. Ein Junge mit goldenen | |
Locken und ein Mädchen, das sein Geld auch mit Modeln verdienen könnte, | |
fuhren noch am Abend nach Hause. | |
Tag 6 | |
Das Nichtsprechen mit den Soldaten gestaltet sich für die Frauen schwierig: | |
Wir stehen zusammen mit den Soldaten täglich bis zu einer Stunde für das | |
Frühstück an. Die Soldaten wollen unbedingt unsere Mädchen kennen lernen. | |
Da die Mädchen dies auch möchten, hört man einen unserer drei Supervisoren | |
oft noch vor Sonnenaufgang „Vollverschleierung“ durch den Speiseraum | |
brüllen. Dann sind alle wieder „BMOs“, „Blue Moving Objects“, wie die … | |
uns nennen. | |
Das ab 5.50 Uhr bereitgestellte Frühstück besteht aus Tee oder | |
US-Kaffeegemisch, Orangensaft aus tiefgefrorenem Konzentrat, Rührei aus | |
tiefgefrorenem Konzentrat (manchmal grünlich), Speck, Würsten, Waffeln mit | |
klebrig-süßlichem Maissirup, Toast, Kuchen, Kekse und keinem, einem oder | |
einem halben Stück Obst pro Person und Tag: stahlharte grellgrüne Granny | |
Smiths oder hellgrüne Bananen. Manchmal gibt es sogar H-Milch. | |
Um 17 Uhr bekommen wir sehr viel Mais- oder Kartoffelbrei, riesige Bohnen, | |
rationiertes Gemüse, viel zu wenig Salat und sehr viel Fleisch mit | |
Extrasoße. Blecheweise matschige Sahnekuchen, große Schokokekse. Nicht, | |
dass jemand Zeit hätte, hungrig zu werden: Für zwischendurch und jederzeit | |
liegen Tonnen von weißem, weichem Toast, Erdnussbutter, Butter und | |
Marmelade im immer zugänglichen Essenraum. Dazu Zuckerkonzentratsaft. Alle | |
haben Verstopfung, viele Blähungen. Gerüchte über Beruhigungsmittel, | |
libido- und potenzhemmende Substanzen im gräulichen Maisbrei machen die | |
Runde. Chemisch schmeckendes Wasser trinkt man aus großen Army-Kanistern, | |
die man selber holen muss. Die meisten trinken daher ständig den | |
neonfarbigen Zuckersaft. Eine fragte heute in die Runde, ob wir nicht auch | |
befürchteten, ungefragt an einem großen „Supersize Me“-Feldversuch | |
teilzunehmen. | |
Tag 7 | |
Erste Kontaktaufnahme zu US-Soldaten. Die meisten sind zwischen neunzehn | |
und vierundzwanzig. Klischeegemäß lieben sie Eminem, aggressive deutsche | |
Rockmusik und deutsche Frauen. „Die stellen sich nicht so an“ wie die | |
US-Girls, die man immer erst zum Dinner einladen muss und dann oft trotzdem | |
nicht ins Bett bekommt. Ich werde gefragt, ob es stimmt, dass deutschen | |
Mädchen egal ist, ob der Beischlafleistende ihren Namen weiß. | |
Tag 8 | |
Das „Essen“. Selfmade-Kloputzeinteiler Gyuri ist, wie auch schon einige | |
Male zuvor, Aushilfsküchenchef: Um sechs und um siebzehn Uhr koordiniert er | |
im ungarischen Militärstil die Anlieferung der nahezu ungenießbaren, | |
vitaminfreien US-Army-Verpflegung. Das Militäressen wird uns C.O.B.s als | |
vertraglich gesicherte „Vollverpflegung“ zugemutet. Manche Veteranen haben | |
eigenes Essen dabei. Andere, die schon mehrfach hier waren, lieben | |
US-Nahrung. Sie sind dick oder waren es und wissen, dass sie es hier auch | |
wieder werden: Die jungen Veteranen sprechen über ihre Dehnungsstreifen an | |
Bauch und Hüfte. Wie schnell man zehn Kilo zunehmen kann. Wie lange zehn | |
Kilo draufbleiben! | |
Mittägliche Essensausgabe: „Meals Ready to Eat“, die „Em-aoh-riehs“, w… | |
die sächsischen Mitkombattanten zu sagen pflegen. US-Militärfutter in | |
wasserdichter brauner Verpackung. 2.600 Kalorien, haltbar gemacht für die | |
Ewigkeit. In unseren braunen Feldrationen, den MREs, befinden sich Chicken | |
Terriyaki, Boneless Pork Chops, Spaghetti Bolognese. Erdnussbutter, | |
Cracker, Süßigkeiten minderer Qualität. Relativ ungenießbar alles. Dick | |
eingeschweißte Breinahrung in rund 25 Sorten, erhitzbar mit Hilfe eines | |
beiliegenden Chemiekalienmixes. Dieser reagiert mit ein paar Wassertropfen | |
zu einem Plastikofen im Handformat. | |
Unser täglich Mittagessen: eine Tagesration. Für „High Performance Military | |
Personnel“. Männer, die täglich im Panzer sitzen, Rammstein hören und von | |
Falludscha bis Kabul Adrenalin schwitzen. Nicht für uns, denen Sport | |
verboten ist: keine Stunde physical training, wie die Soldaten es täglich | |
machen. | |
Trotzdem sind auch die Soldaten dick, vor allem ihre Hintern. Ich bekomme | |
Angst und beschließe, fast gar nichts mehr zu essen. Ein paar unserer Leute | |
haben von den Soldaten aufgeschnappt, dass diese MRE-Erhitzerchemikalien | |
auch eine einfache Bombe ergeben können. | |
Tag 9 | |
Einige C.O.B.s haben es gewagt, sich über das Essen zu beschweren. Ansage | |
beim Meeting: Wer sich über das „gekochte“ Essen beschwert, bekommt fortan | |
dreimal am Tag MREs. Jetzt meckert keiner mehr. Unser Busfahrer bietet an, | |
für uns einkaufen zu gehen. Für ein Kilo Äpfel verlangt er drei Euro. | |
Tag 10 | |
Tratsch ist beliebter Zeitvertreib. Pärchenvermutungen überall. Die Frauen | |
kümmern sich nicht mehr allzu sehr um die Amis, die kriegen sie sowieso | |
kaum zu Gesicht. Es sind Original-Burkas eingetroffen, über denen frau das | |
Miles tragen muss. Unter der Burka trägt frau einen langen rosafarbenen | |
Wickelrock, natürlich über der Hose. Aus den Männern sind mittlerweile | |
echte Paschtunen geworden: weite leichte Hosen, schöne lange Hemden in | |
Beige, Hellblau und Hellbraun und der sieben Meter lange original | |
afghanische Turban machen Spaß. Die Jüngeren tragen keinen Turban, sondern | |
ein kleines Käppi mit funkelnden Strasssteinchen und sehen aus wie schlecht | |
gecastete, aber perfekt kostümierte Laiendarsteller aus „1001 Nacht“. | |
Eine lesbische Frau bildet sich ein, von einer Kollegin „durch anmaßendes | |
Stöhnen unter der Dusche“ sexuell belästigt zu werden. Sie verbreitet diese | |
Information durch das ganze Dorf. Auch weiß sie bereits, welche Mädchen wie | |
viele Kondome dabei haben. Woher wohl? | |
Wir produzieren unglaublich viel Müll. Ständig neue Pappteller bester | |
Qualität, ständig neue Styroporbecher, immer neues Plastikbesteck. 2.000 | |
Soldaten, 350 C.O.B.s, 2 Tellermahlzeiten pro Tag (MREs essen die meisten | |
gleich aus den Tüten). Wie viele US-Basen gibt es weltweit? | |
Amüsant: Ein älterer Herr ist zum Beaufsichtigen der Mülltrennung | |
abgestellt worden. Er versucht, diese den GIs in rudimentärem Englisch zu | |
erklären. Die GIs checken nicht, was unser deutscher | |
Mülltrennungsbeauftragter von ihnen will. Sie wühlen dennoch brav nach | |
ihren Ketchupverpackungen im Biomüll. Wenn der Müll dann allerdings | |
getrennt ist, kommt er wieder ins amerikanische System: alles in eine | |
Tonne. Niemand weiß, warum. | |
Tag 11 | |
Man hat uns in Teams eingeteilt. Einige sind ins „Role Player Cell“ | |
gekommen. Dort übt man UNO-Beauftragter oder | |
Internationale-Delegation-Spielen und kommt erst während der letzten zehn | |
Tage, genannt „X-days“, ins Spiel. In einer anderen Liga – unbemerkt vom | |
Geballere – scheint auch internationale Diplomatie geübt zu werden. | |
Nicht so bei uns in Qalat: Zehn von uns fahren täglich zu Checkpoints und | |
sind afghanische Reisende, deren Autos und Körper nach Waffen durchsucht | |
werden. Als reisende afghanische Familie wird man oft getötet, da die | |
Checkpoint-Soldaten sehr gereizt und aggressiv agieren. Ständig rechnen sie | |
mit einer Attacke aus dem Auto heraus, mit einer Autobombe, mit illegalen | |
Waffen. Wir sollten eine Familie sein, die partout nicht aus dem Auto | |
rauswill, da zu viele schutzbedürftige Frauen dabei waren und draußen nur | |
maskierte Soldaten mit ihren Knarren vor unserer Windschutzscheibe | |
herumfuchtelten. Einer der GIs zerstörte symbolisch ein Autofenster und | |
zerrte uns heraus. | |
Besonders gruselig sind Checks im Dunkeln, wenn nur Nachtsichtgeräte | |
benutzt werden, die ganze Straße voll von militärischem Gefährt und | |
Stacheldraht ist und Hubschrauber über dem Checkpoint zur Landung ansetzen. | |
Mein Mann sollte abgeführt werden. Ich wollte hinterher, als der | |
Hubschrauber zehn Meter über mir flog. Wind, Staub, „Fucking shit!“ | |
brüllende Soldaten. Stolperte über meine Burka. Wurde erschossen. Da die | |
Miles öfter nicht funktionieren, brüllt der Erschießende den zu | |
Erschießenden in so einem Fall aus einem Meter Abstand mit vorgehaltenem | |
Maschinengewehr an: „Bang! You’re dead, stupid motherfucker.“ | |
Aus unserer Mitte sind fünfzehn Übersetzer, genannt linguist oder | |
translator, ausgewählt worden. Die Linguisten bekommen US-Uniformen und | |
müssen den ganzen Tag über, oft auch bis nachts, an den Checkpoints stehen. | |
Die Checkpointfahrer hingegen haben den ganzen Tag lang kaum etwas zu tun. | |
Sie sitzen auf einer Wiese, zusammen mit den GIs, die niemals die Motoren | |
ihrer großen Jeeps abstellen. Stundenlang verpesten sie die Luft, während | |
Soldaten und C.O.B.s schlafend auf den Einsatz warten. | |
Endlich Mittagsschlaf auf einer Wiese und kein Supervisor weit und breit! | |
Selbst die Chefs der „Privates“, die Sergeants, dösen friedlich. Schräg | |
links von der Wiese haben sie ein Höhlensystem gebaut. Hier rattern | |
Blackhawk-, Apache- und Cherokee-Hubschrauber den ganzen Tag, diverses | |
gepanzertes Camouflagegefährt belagert, es steigt Rauch auf aus den Höhlen, | |
und achtzehnjährige ehemalige Dealer und Schulabbrecher üben „Bin Laden im | |
Hindukusch fangen“: Handgranate rein und mit vorgehaltener Knarre stürmen. | |
Wie sie es aus den Videospielen kennen, wie in den TV-Werbespots für die US | |
Armee, die genau auf diese Ästhetik setzen. | |
Tag 12 | |
Gespräche mit Soldaten stimmen traurig – ich fühle, warum es uns verboten | |
wurde. Auf der Checkpoint-Wartewiese bleiben interkulturelle Diskussionen | |
nicht aus, und manch ein Amerikaner versteht den Sinn unserer Worte nur | |
sehr schwer. „Alle sagen, es ginge nur um Öl, aber es geht mir um Freedom | |
und Democracy. Oder findet ihr es richtig, Frauen einzusperren? Euch haben | |
wir doch auch befreit!“ | |
Besser leise sein. Politische Gespräche und solche über religiöse und | |
kulturelle Differenzen sind nämlich: sehr streng verboten. Ein anderer geht | |
in den Krieg, weil es die Tradition seiner Familie ist. Und drei andere | |
erklären ohne Scham, dass sie aus solch abgefuckten | |
Drogen-Prostitutions-Vater-unbekannt-Verhältnissen kommen, dass das Militär | |
die einzige Chance war, sich von der kriminellen Clique abzuseilen. Der | |
Vierte erzählt, dass er früher Drive-by-Shootings gemacht hat – er hat | |
wahrscheinlich schon vor seiner Zeit bei der Armee getötet. Der Fünfte | |
kommt gerade aus dem Irak, will unbedingt zurück und spricht begeistert vom | |
erhebenden Gefühl, Muslime mit dem Maschinengewehr zu töten: Er sei „85 | |
Percent Israeli“. | |
Tag 13 | |
Die lesbische Frau hat sich beim „Pro-C.O.B“ über sexuelle Belästigung | |
beschwert. Die vermeintliche Belästigerin habe ihr einen Klaps auf den Po | |
gegeben. Nun muss die Belästigerin zu Harry – und die Petzende auch. Sie | |
hat, obwohl sie selbst ehemalige Supervisorin ist, „eine Hierarchieebene | |
übergangen“, sie hätte zum Supervisor und nicht zu seinem Chef, dem | |
Pro-C.O.B., gehen sollen. Beide Frauen werden in die am weitesten | |
voneinander entfernten Dörfer umgesetzt. Für sie kommen Neue, die in | |
anderen Dörfern nicht klarkamen. | |
Ein sehr junger Berliner ist beim streng verbotenen Fotografieren von | |
militärischen Situationen geschnappt worden. Er muss sofort die Sachen | |
packen und zum Bahnhof Parsberg. Er wurde gewarnt: „Pass auf, dass du | |
keinen Besuch vom MAD bekommst.“ Wie passt man auf so etwas auf? | |
Tag 14 | |
Heute hat mir eine Frau erzählt, dass ein Soldat ihr an den Hintern gefasst | |
hat. Da sie ihn mag und gerne in den USA leben möchte, freut sie sich | |
darüber. Aus den Lautsprechern unserer Moschee ruft nun fünfmal täglich ein | |
Muezzin „Allahu akbar“. Die Jungs müssen dann immer in die Moschee gehen | |
oder beten, wo sie gerade sind. Die meisten machen alberne Gymnastik. Ein | |
türkischstämmiger Junge macht nie mit und zischt: „Dafür kommen alle in die | |
Hölle.“ | |
Tag 15 | |
Der Qalat-Dorfalltag: Nach dem Frühstück, gegen sieben Uhr, fahren die | |
Übersetzer weg. Die anderen haben gegen elf Uhr das erste Mal bereit zu | |
sein. Auch wenn dann oft die Anweisung kommt, dass es vor 13 Uhr nicht | |
losgeht. Da man den ganzen Tag lang nicht zurück in die Baracke darf, hat | |
es nur gut, wer eine Schlafallianz gegründet hat. Schlafen ist verboten, | |
wer erwischt wird, fliegt, man muss Schmiere stehen! Räume, um sich | |
abzulegen, und alte, dreckige Schaumstoffmatratzen gibt es in den halb | |
fertigen Häusern genug. Die meisten Häuser sind nicht beheizt, dafür aber | |
mit vielen Überwachungskameras bestückt. | |
In der freien Zeit lernen die Disziplinierten für die Uni, andere spielen | |
Karten, dösen oder lesen. Alle sprechen gerne über Sex und Drogen. In der | |
langen Pause erzählen uns ein paar Amis, sie seien Dealer gewesen, mit | |
sechzehn, im früheren Leben. Jetzt sind sie achtzehn und neunzehn. Einer | |
vermisst seine Katze zu Hause in South Carolina. Daheim schläft sie nachts | |
auf seinem Bauch. Er zog vor dreizehn Monaten, noch mit siebzehn, zu Hause | |
aus, direkt nach Hohenfels. Bald geht es aber weiter: in unbestimmtes | |
Kriegsgebiet. | |
Drei Stunden nach Ende der Pause geht es weiter: Kurz bevor die Soldaten | |
einmarschieren, müssen wir im Dorf umherlaufen und „Dorfleben“ spielen. Da | |
ist die US Armee! Alle Burkas ins Haus! Die Männer bekommen in unserem laut | |
Briefing „US-freundlichen“ Dorf variable Aufgaben. Auf die GIs zulaufen, | |
sie an den Händen halten, Tee mit ihnen trinken wollen, Zigaretten | |
abschwatzen. Die Paschtunen reden deutsch mit den Amis und müssen so tun, | |
als ob sie kein Englisch verstehen, es sei denn, ein „translator“ ist | |
gerade dabei. Wenn die Amis gerade von uns rausbekommen wollen, wo die | |
Waffen versteckt sind, knallen „Terroristenschüsse“ aus Hinterhalten. | |
Übersetzer sterben oft zuerst. Wer getroffen wird, darf sich für die Dauer | |
der Übung nicht mehr bewegen. Pech hat, wer zu Beginn einer | |
anderthalbstündigen Lane im Regen, im Dunkeln, auf offener Straße | |
abgeschossen wird. Übersetzer, komischer Job, sowieso: Als Strafe dafür, | |
dass man gut englisch spricht, muss man fast so hart wie die Soldaten | |
ackern. | |
Oft kommen diese Tapferen erst gegen Mitternacht zurück in die Baracke, | |
durchgefroren, müssen leise sein, kein Licht anmachen, wollen in den ollen | |
Containern duschen und dann: gibt es kein warmes Wasser mehr. Tröstlich: Es | |
war schon morgens alle, nachdem 66 Soldaten, die jetzt im | |
kosovarisch-afghanischen Puff wohnen, duschen waren. | |
Tag 16 | |
Hab einen der Förster getroffen und ein illegales Pläuschchen mit ihm | |
gehalten. Er findet oft tote Hirsche ohne Kopf im Wald, Amerikaner mögen | |
deutsche Hirschgeweihe. Schlimm, aber nicht so schlimm, befindet er, denn | |
Rotwild gibt es hier genug. Sehr schlimm findet er, oft in den entlegensten | |
Gegenden Öllachen und unglaublich viel Plastikmüll entdecken zu müssen. Und | |
überall diese unexplodierte Munition, von der man nie weiß, ob es nur | |
Attrappen sind. Dann sagt er mir, dass ein Humvee im Gelände einen Liter | |
stinkendes Dieselgemisch pro Kilometer verbraucht. | |
Seit die Frauen meist weggeschlossen werden, sind unsere jungen Männer, | |
nach bester afghanischer Tradition, körperlicher im Umgang miteinander | |
geworden. Anfangs fanden sie die Regieanweisung noch blöd, jetzt sieht man | |
manche auch in freier Zeit Arm in Arm laufen und spielerisch raufen (nur | |
Letzteres ist verboten). | |
Tag 19 | |
Jetzt ist alles noch härter geworden. Permanentes Geballere. Rote Blitze, | |
Rauch, es regnet in Strömen, wer erschossen wurde, bleibt draußen liegen, | |
bekommt eventuell eine Pappe von aufmerksamen Mitkombattanten übergeworfen | |
und eine Zigarette daruntergesteckt. Die meisten rauchen oder essen | |
permanent. Bei einer Verhaftung sehe ich schwarze Säcke, so groß, dass ein | |
Menschenkopf reinpassen würde. Ich frage einen Sergeant nach der | |
Bewandtnis. Er antwortet mehrfach, dass er keine Ahnung hat, wovon ich | |
rede. | |
Tag 21 | |
Drei Einsätze pro Tag, wir haben 24 Stunden Bereitschaft. Und immer mehr | |
Soldaten, überall. Auch italienische, die besonders brutal vorgehen. Angst | |
haben wir vor nächtlichem Einsatz. Wenn die Männer festgenommen werden, | |
müssen sie schon mal zwanzig Minuten lang mit dem Gesicht zur Wand hocken, | |
mit hoch erhobenen Armen. Das liebt keiner. | |
Bislang mussten wir nur einmal zum Proben des Feueralarms aus den Betten. | |
Da wurde klar: Die Kifferjungs haben sich ihre kleine Flucht nicht | |
verbieten lassen. Die Clique von sechs war komplett stoned und panisch bei | |
der Evakuierung, zum Glück sind drei Aufpasser für über hundert Leute nicht | |
genug. Hinter der Moschee kann man gut „Feierabend machen“, wie sie das | |
Rauchen nennen. Die Russen knutschen lieber in der Moschee mit Mädchen, | |
denen sie immer die internationale Lagerwährung geben: Zigaretten. | |
Tag 22 | |
Einige passen nicht mehr in ihre Hosen. Eine Frau aus Ostdeutschland | |
glaubt, dass ihr Schlafsack „spontan eingelaufen“ sei, weil er ihr zu klein | |
geworden ist. Es ballert Tag und Nacht, und irgendwann müsste, statistisch | |
betrachtet, auch mal einer der vielen Hubschrauber abstürzen. Vor dem | |
Schlafen nicht daran denken. Noch vier Tage. | |
Tag 24 | |
Das erste Geld soll schon auf unseren Konten eingetroffen sein. Die | |
Stimmung steigt, die Zivilgesellschaft wird wieder greifbar: Morgen geht’s | |
nach Hause! Doch dann: kommen die Übersetzer zurück, die die X-days über | |
bei und mit den Soldaten gelebt haben. | |
Ein liebenswürdiger langzeitarbeitsloser Ossi braucht Betreuung und | |
Gespräch, das er bei mir sucht: Er habe in einem 80-Mann-Zelt mit vielen | |
Irak-Heimkehrern schlafen müssen, alle seien sie, naja, nicht Mörder, | |
hätten aber schon getötet, heroisierten ihre Taten permanent und lautstark. | |
Der 45-Jährige hatte die ganze Zeit über Angst vor seinen Zeltgenossen. | |
Ständig liefen irgendwo Fernseher, zwei Kanäle, einer mit Werbung für die | |
Army und einer für Sport. Nirgends eine Bibel. Was das für ein Land sei, | |
überlegt er, in dem 19-Jährige keinen Alkohol trinken dürfen, aber fremde | |
Menschen in Übersee erschießen sollen. Das Schlimmste für ihn war eine | |
Nacht, in der Gefängnis trainiert wurde. Die ernannten Aufseher, normale | |
Teeniesoldaten, bastelten sich Schlagstöcke und drohten den | |
Teenagerkollegen, die im offenen Gefängniszelt bei Flutlicht an die Betten | |
gefesselt waren. Die Stimmung muss sehr aggressiv geworden sein. Demnächst | |
wird es eine Rotation geben, bei der vierzehn Tage lang nur Gefängnis | |
trainiert wird. Auch nach Stunden des Sprechens zittert er immer noch am | |
ganzen Leib. Da keine Frau zu Hause auf ihn wartet, sehnt er sich nach | |
einem starken Drink. | |
Letzter, letzter, letzter Tag! | |
Heute! Beim Aufwachen um kurz vor fünf denke ich an eine alte | |
Tonbandaufnahme aus dem Englischunterricht: „Thank God almighty, we’re free | |
at last!“ und strahle vor mich hin. Frühmorgens teilt die US Army Urkunden | |
für „Besondere Verdienste“ aus. An Übersetzer und an Männer, die | |
Dorfpolizei gespielt haben. Die hatten Spielzeugknarren und olle | |
Bundeswehruniformen und sind stolz damit herumschawänzelt, die ganze Zeit. | |
Auf den Urkunden steht, dass ihre Arbeit von der US Armee sehr hoch | |
geschätzt wird, da sie geholfen haben, das Training für „Enduring Freedom“ | |
zu einem militärischen Erfolg zu machen. Frauen werden nicht geehrt. | |
Packen, Bus beladen, elf Uhr Versammlung auf der Tech-Site. Keine Rede, | |
kein Wort des Dankes. Dafür eine (schlampig durchgeführte) | |
Gepäckdurchsuchung, weil zu viele Kostüme abhanden gekommen sind. | |
16 Uhr, endlich, der Bus in die Freiheit! Alle haben MREs im Gepäck, damit | |
die Freunde daheim erfassen können, was man essen musste. Strenges | |
Alkoholverbot auf der Rückreise. Das Gras der Jungs ist alle. Auf der | |
ersten Raststätte werden Bier, Sekt, Wein und Filterzigaretten gekauft. Der | |
zunächst lamentierende Busfahrer krakeelt nun, dass er alle Alkoholtrinker | |
an Optronic melden muss. Die dann nie wieder einen Job bekämen. Grund: Auf | |
der letzten Heimfahrt bekamen sich zwei betrunkene Supervisoren in die | |
Haare und der Kopf des einen flog wegen Aggression des anderen in den | |
Busfernseher. Doch der Fahrer wird konsequent ignoriert. 320 Kilometer bis | |
Berlin. Freedom, finally, enduring! | |
Unsere Autorin ist 25 und studiert in Berlin. LIAMA MENINA ist nicht ihr | |
richtiger Name | |
26 Feb 2005 | |
## AUTOREN | |
LIAMA MENINA | |
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