# taz.de -- Verseuchtes Leben | |
> Ein linker Klassiker wird wiederentdeckt: Die Neuauflage von Bernward | |
> Vespers Romanfragment „Die Reise“ sowie Henner Voss’ Erinnerungen an | |
> seinen ehemaligen Freund und Mitstreiter Vesper | |
VON FRANK SCHÄFER | |
Es war der Verleger Jörg Schröder, der 1990 in der zweiten Folge seiner | |
Reihe „Schröder erzählt“ („Eine Million und fuffzig“), die Debatte um | |
Bernward Vesper auf den Punkt brachte: „Als der deutsche Herbst abgefeiert | |
wurde von den deutschen Intellektuellen …, da kam diese ‚Reise‘ dem | |
Feuilleton und den Betroffenheitsanalytikern wie gerufen. Jetzt konnte man | |
am Phänotyp Bernward Vesper alles festmachen, was im | |
politisch-gesellschaftlichen Bereich nicht mehr diskutiert werden durfte, | |
konnte sich an diesem Mann – der zusätzlich die Höflichkeit besessen hatte, | |
sich umzubringen, und sich deshalb selbst nicht äußern konnte – ‚Hitlers | |
Kinder‘ erklären und abarbeiten. Natürlich nicht abarbeiten, sondern | |
abseiern.“ | |
Tatsächlich war Vespers postum erschienenes und Fragment gebliebenes | |
Hauptwerk „Die Reise“ – er hatte sich am 15. Mai 1971, von LSD-Exzessen | |
derangiert, während eines Aufenthalts in der Psychiatrie das Leben genommen | |
– als kollektive Autobiografie angelegt. Folgerichtig wurde das Buch nach | |
der Publikation 1977 auch als „Nachlass einer Generation“ gelesen, was | |
wiederum für den gewaltigen Erfolg des Buches sorgte: Innerhalb weniger | |
Jahre erschienen über zwanzig Auflagen. Und Vesper kannte sie wirklich | |
alle: die Kommune I, Fritz Teufel, Dieter Kunzelmann, nicht zuletzt die | |
„Selbsthelfer“-Fraktion, Ulrike Meinhof, Andreas Baader – und natürlich | |
Gudrun Ensslin, die seine Verlobte war, die Mutter von Felix. Er | |
befruchtete und beeinflusste die Meinungsbildung der antiautoritären | |
Bewegung – mit der von ihm gegründeten Reihe „Voltaire Flugschriften“ und | |
der „Edition Voltaire“, Publikationen, die das theoretische Basiswissen für | |
die Revolte bereitstellten. Kurzum, hier klappte vor aller Augen der | |
unordentliche Hirnkasten eines potenziellen Terroristen auf, der Vesper | |
wohl nur deshalb nicht wurde, weil er zu individualistisch und literarisch | |
zu ambitioniert war – und weil er Sohn Felix, „die kleine Sonne“, nicht | |
aufgeben wollte. | |
1979, also zwei Jahre nach Erscheinen der „Reise“, besuchte Jörg Schröder | |
dessen Schwester in Triangel und erhielt Einblick in den Nachlass. Was er | |
dort fand – er berichtete viele Jahre später ebenfalls davon in „Schröder | |
erzählt “–, waren Briefe „von Gudrun Ensslin an die ‚National-Zeitung�… | |
sie im Auftrag eines Bernhard Michaelsen verfasste. In einer Zeit, als sie | |
schon … als junge Linke und Progressive durch die deutschen Lande zogen, | |
tingelten sie als ihre eigenen Undercover-Agenten nicht nur für den Will | |
Vesperschen Nachlass, … eine lange Zeit war der junge linke Bernward Vesper | |
gleichzeitig auch der rechte Bernhard Michaelsen, der mit dem Scheißdreck | |
von Lippoldsberger Kreis und dem anderen Schnarchzapfen-Nazimurks | |
korrespondierte und paktierte.“ | |
Diese schmählich-schizoide Episode war Mitte der Sechzigerjahre beendet. | |
1969 begann Vesper mit der Niederschrift der „Reise“. Und zumindest nach | |
Lektüre des Buches hätte man sich über all das nicht wundern müssen. Es | |
stand da ja schon drin. | |
Dass dann trotzdem fast die gesamte literarische Öffentlichkeit aus dem | |
Staunen nicht mehr herauskam, als Christian Schultz-Gerstein im Spiegel die | |
von Schröder bereitgestellten Dokumente zu seiner „Zerstörung einer | |
Legende“ bündelte, zeigt also vor allem, dass kaum einer „Die Reise“ von | |
Deckel zu Deckel gelesen – oder schlimmstenfalls nicht verstanden hatte. | |
„Ja, ich wusste genau, dass ich Hitler war, bis zum Gürtel“, lässt Vesper | |
sich da vernehmen, „dass ich da nicht herauskommen würde, dass es ein Kampf | |
auf Leben und Tod ist, der mein Leben verseucht, seine gottverdammte | |
Existenz sich an meine geklebt hat wie Napalm …, ich muss versuchen die | |
brennende Flamme zu löschen, aber es ist gar nicht Hitler, ist mein Vater, | |
ist meine Kindheit, meine Erfahrung BIN ICH …“ | |
Schon in der erweiterten „Ausgabe letzter Hand“ von 1979, in den dort | |
edierten Materialien nämlich, hätte man lesen können, dass Vesper sowohl | |
die „letzte Ernte“, also die von ihm angefangene Werkausgabe Will Vespers, | |
als auch seine rechtsreaktionäre Publizistik noch mit den nötigen Worten | |
bedenken wollte. Er wusste durchaus, „dass es scheiße war, was ich | |
schrieb“, er ist nur schlicht nicht fertig geworden mit dem Buch. All das | |
haben nicht zuletzt jene gern übersehen, die Vesper als Kronzeugen für | |
einen vermeintlichen subkutanen Faschismus der Linken in Anspruch nahmen. | |
Auch deshalb ist es gut, dass nun ein Reprint dieses linken Klassikers | |
erschienen ist – zum besseren Verständnis sozusagen. Denn hier ist gar | |
nichts kryptisch oder subkutan. Im Gegenteil, in diesem Buch protokolliert | |
Vesper in entlarvender Offenheit den Versuch eines Selbst-Exorzismus, indem | |
er dezidiert Rechenschaft ablegt über die eigene und zwar vollständige | |
Indoktrination durch den Vater, den „Reichsarbeiterdichter“, den | |
Blubo-Literaten Will Vesper, der auch nach dem Zusammenbruch des „Dritten | |
Reichs“ ein unverbesserlicher Nazi blieb. Was er hier unter anderem | |
memoriert, ist seine alltägliche Abrichtung zum autoritären | |
Zwangscharakter. Denn alles, wirklich alles in diesem beschaulichen Leben | |
auf dem Triangeler Gut ist durchseucht von der braunen Ideologie: „ | |
‚Katzen‘, sagte mein Vater eines Abends, ‚sind eine fremde, unberechenbare | |
Rasse. Sie passen nicht zu uns. Sie stammen aus dem Orient, aus Ägypten. | |
Sie können sich in unserer Natur gar nicht am Leben erhalten, wenn der | |
Mensch sie nicht im Winter durchfütterte und wärmte. Das danken sie uns | |
dann dadurch, dass sie im Frühjahr die Nester ausnehmen. Man kann sie nicht | |
erziehen. Sie ordnen sich in keine Gemeinschaft ein … Irgendwie sind sie | |
asozial. Die Deutschen lieben die Hunde. Man sieht sie schon auf den | |
Bildern alter Meister …‘ “ | |
Wie sollte eine solche Sozialisation keine Spuren hinterlassen? Vesper | |
assimiliert die Gedankenwelt seines Vaters vollständig und löst sich erst | |
in seiner Studentenzeit allmählich davon, tauscht gewissermaßen die alte | |
gegen die neue linksradikale Weltanschauung, immer wissend, dass er auch | |
weiterhin mehr von der „ganzen nationalsozialistischen Scheiße“ in sich | |
trägt, als ihm lieb sein kann. Nur so sind wohl auch seine | |
Erlösungsfantasien zu verstehen, die er mit dem Trip verbindet. Offenbar | |
angefixt von Timothy Learys Acid-Predigten macht Vesper in langen | |
theoretischen Exkursen aus der Droge ein Medikament, um die früh angelegte, | |
aus Erziehung und Sozialisation resultierende Konditioniertheit | |
aufzubrechen. Das, so Vesper, sei für den Künstler von eminenter Bedeutung, | |
da er nur so seine festen Wahrnehmungsraster durchbrechen und folglich auch | |
nur so zu einer von Stereotypen befreiten, völlig unvoreingenommenen | |
Abschilderung der Wirklichkeit gelangen könne. Einen noch größeren | |
Stellenwert besitze die Droge jedoch für die Emanzipation der auch | |
weiterhin komplett faschistischen deutschen Gesellschaft, die durch sie | |
eine reelle Chance habe, ihre unseligen Fixierungen loszuwerden. | |
Das war zuallererst pro domo gesprochen – und entfernte sich nicht allzu | |
sehr vom gegenkulturellen Konsens der Zeit über die wohltätigen Wirkungen | |
der Droge. Solche Reflexionen zeigen aber auch, wie ernst es Vesper war und | |
dass man ihm weder vorwerfen kam, dass er seine anerzogenen Dispositionen | |
nicht als solche durchschaut, noch dass er sie nicht mit allen ihm zur | |
Verfügung stehenden Mitteln bekämpft habe. | |
Ein bisschen an Vespers Lauterkeit zweifeln könnte, wer Henner Voss’ | |
„Erinnerungen an Bernward Vesper“ liest und goutiert. Voss, der mit Vesper | |
1961 die Buchhändlerschule besuchte, in dessen Kleinverlag „studio neue | |
literatur“ mitarbeitete und sogar einige Zeit bei ihm wohnte, | |
charakterisiert seinen Freund als arroganten, landjunkerhaft-elitären, | |
gewollt exzentrischen, schon nach geringem Alkoholkonsum unangenehm | |
durchgeknallten, opportunistischen, eitlen, sich vor Ehrgeiz verzehrenden | |
und vor allem zu moralisch höheren Gefühlsregungen wie „Dankbarkeit, Treue, | |
Loyalität, Empathie“ unfähigen Spinner. Was der Mann Voss angetan hat, | |
erfahren wir leider nicht. Stattdessen stilisiert Voss sich auf etwas | |
unangenehm ehrpusselige Weise als dessen „großer Freund Shane“, der ihm ein | |
ums andere Mal den Kopf aus der Schlinge ziehen muss – etwa wenn wieder mal | |
ein vom rasenden Bernward beleidigter Wirt mit dem Totschläger hinter den | |
beiden her ist und sich nur durch Vossens verbale Geistesgegenwart und | |
Mannhaftigkeit beruhigen lässt. Na ja. Glaubwürdigkeit verliert dieses Buch | |
überdies, wenn Voss vierzig Jahre alte Dialoge rekapituliert. Man merkt | |
ihnen an, dass er sich eben nicht mehr daran erinnert, sondern hart daran | |
gearbeitet hat, damit das auch so rhetorisch brillant und so schlagfertig | |
und so stupend gebildet rüberkommt, wie man das ja immer gern hätte. | |
Anstatt der wachsenden Sekundärliteratur sollte man vielleicht einfach | |
wieder einen Blick in den Originaltext werfen: in dieses hybride, | |
ausfasernde Konvolut aus Zeichnungen, Rechnungen, Briefen, | |
Zeitungsschnipseln, Reisebeschreibungen, Reminiszenzen an die Triangeler | |
Kindheitszeit, Rauschbeobachtungen etc. „Die Reise“ liest sich nicht immer | |
spannend, ist nicht zuletzt in den reflexiven Passagen bisweilen zäh, | |
verliert aber nur selten – vielleicht gerade wegen der Unfertigkeit – an | |
Überzeugungskraft, die sich wohl vor allem daraus speist, dass hier | |
Authentizität nicht nur literarisch behauptet, sondern tatsächlich | |
eingelöst wird; dass Vespers Ringen um seine Existenz eben keine Fiktion | |
ist, sondern der Ernstfall. Aber über diesen Modus der „schonungslosen“ | |
Bekenntnisprosa hinaus gibt es eben auch noch den der Dope-gestützten | |
Imagination, in erster Linie die Mitschrift eines LSD-Trips in München. | |
Hier bricht sich ein ungezügelter, befreit auftrumpfender poetischer Furor | |
Bahn, der durchaus geeignet ist, alle Verdikte von der kunstfernen | |
Studentenbewegung Lügen zu strafen. | |
Henner Voss. „Vor der Reise. Erinnerungen an Bernward Vesper“. Edition | |
Nautilus, Hamburg 2005, 77 Seiten, 14 € Bernward Vesper: „Die Reise“. | |
Romanessay. Ausgabe letzter Hand. Nach dem unvollendeten Manuskript | |
herausgegeben, neu durchgesehen und mit einer Editions-Chronologie versehen | |
von Jörg Schröder. Ein MÄRZ-Buch im Area-Verlag, Erftstadt 2005, 720 | |
Seiten, 12,95 € | |
10 Mar 2005 | |
## AUTOREN | |
FRANK SCHÄFER | |
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