# taz.de -- Ghettos in Göttingen | |
> „Ganz unten“, das kann ein Slum in Niedersachsen sein. Am Rande der | |
> Gesellschaft wohnen ihre Verlierer, die Sozialfälle, die Süchtigen – und | |
> keine Hoffnung mehr | |
VON SILKE KETTELHAKE | |
Auf dem Bahndamm donnern in gleichmäßigen Abständen die Güterzüge vorbei. | |
Vorbei an den Treppchenhäusern am Maschmühlenweg, vorbei an Daric S., den | |
Romafamilien und alteingesessenen Deutschen, die kein anderer Vermieter | |
nimmt, zu viele Tiere, der süßliche Geruch von Müll. Hinter den | |
Treppchenhäusern, zweigeschossigen heruntergekommenen dunklen Höhlen mit | |
angepappten Außentreppen, ducken sich die Baracken. Vorbei, vorbei. | |
Daric ist jetzt 21 und schläft im Rhythmus der Züge, am liebsten bis | |
mittags. Das ist das Beste, was man hier machen kann, sagt er. Auf dem | |
Boden der Baracke liegen Matratzen, ein schmutziges Fenster lässt diffuses | |
Licht ein. Der Blick nach hinten geht auf den Fußballplatz; wenn Göttingen | |
05 spielt, ist ausverkauft. Nachts quälen sich in drei der Barackenräume | |
bis zu 16 Menschen, Erwachsene und Kinder, in den Schlaf. Drei Quader auf | |
90 Quadratmetern: Hier wohnt die Großfamilie zu ebener Erde. | |
Daric lädt zum Mokka, Mutter serviert. Petra Kornhardt, Sozialplanerin bei | |
der Stadt Göttingen, will sich hier in der Baracke keinesfalls auf den | |
angebotenen Sofaplatz setzen. Distanz, bitte, kein Mokka für sie. Die | |
Alt-68erin nimmt eine gerade Körperhaltung ein. Ihre knallblau geschminkten | |
Wimpern harmonieren mit türkisblauem Pulli und harmloser Nickelbrille. | |
„Integration fördern, Selbstverantwortung schaffen, multikulturelles Dasein | |
vor Ort implementieren!“, raunt sie. Hier, in den Baracken, scheint die | |
schöne bunte Entwicklung erst mal am Ende. Bloß nicht zurück in den Kosovo. | |
Daric redet sich in Pose: „Als ich mit zehn Jahren das erste Mal hierher | |
kam, da hatte ich noch eine Zukunft. Jetzt habe ich nichts mehr.“ Nur einen | |
dicken Fernseher, DVD-Player, Stereoanlage. Eine Schar verdreckter Kinder | |
fegt über den staubigen Hof, barfuß oder in viel zu großen Schuhen. Im | |
Winter versinkt hier alles im Matsch. Jetzt lümmeln sie auf dem Sofa, der | |
einzigen Sitzgelegenheit, einen Tisch gibt es nicht. Einer seiner Brüder, | |
gerade zehn Jahre alt, zieht wie ein Alter die Fluppe aus der | |
Marlboro-Schachtel. | |
## Alle Möbel sind verheizt | |
Drei Erstklässler reißen die Tür auf, schmeißen zielsicher die Scoutranzen | |
in die Lücke zwischen Zimmerecke und Sofa. Ein Regal gibt es nicht. Hurra, | |
wir sind da. Malbücher, Stifte werden ausgepackt; einen Tisch gibt es | |
nicht. Verheizt. Denn hier ist es immer so kalt zu ebener Erde, und die | |
Allesbrenner fressen eben alles. Auch die Möbel. | |
Daric breitet die Arme aus: „Das hier soll Deutschland sein?“ Seine Slipper | |
glänzen schick und schwarz. Daric wohnt im Slum. Im Dreck. Und jeder weiß | |
es hier in der Stadt. Maschmühlenweg, bei der Adresse kannst du dein Leben | |
gleich vergessen. Oder Blümchenviertel. Oder Gronaer Landstraße. Überall | |
Suff. Gewalt. Prostitution, die man nicht mal mehr ein Gewerbe nennen kann. | |
Drogen, Angst. Daric sagt: „Nachts schlagen sie an unsere Türen, lassen | |
einen Haufen Bierflaschen da.“ Besuch von Neonazis. Eine späte Sommernacht, | |
da schütteten sie Benzin aus, hinter den Treppchenhäusern. Daric rief die | |
Polizei. Die fand nur die leeren Kanister. „Wir sind doch jetzt schon mehr | |
tot als lebendig“, meint Daric. | |
Frau Dr. Schlapheit-Beck, Referentin für Jugend, Soziales und Kultur, hofft | |
seit zwei Jahren, dass die Landesregierung endlich das Projekt „Soziale | |
Stadt“ durchwinkt. Denn dann gibt es Geld, dann könne sie endlich hier mehr | |
bewirken. Als Erstes sollen die Treppchenhäuser weg und mieterfreundlicher | |
Ersatz her. Kurz vor der Expo wurde die vorletzte Reihe der Treppchenhäuser | |
abgerissen. Das traditionell Randgruppen vorbehaltene Wohngebiet war den | |
Göttingern schon lange ein Dorn im Auge. Sieht ja auch nicht schön aus, | |
wenn man mit dem ICE in die Stadt einfährt. Aber auch in den neuen Häusern | |
am Maschmühlenweg laden die Flure regelrecht dazu ein, sich in sie zu | |
übergeben. Hier wohnen überwiegend Russlanddeutsche; 55.000 kommen pro Jahr | |
im nahe gelegenen Dörfchen Friedland an, die meisten ziehen weiter. Die, | |
die es zu Hause nicht geschafft haben, und die, die es hier auch nicht | |
schaffen, die wohnen hier. Sicherlich gibt es auch die hervorragenden | |
Ausnahmen. Die waren aber leider nicht zu Hause. | |
Sergej, 20, sitzt wie eine überdimensionierte Kugel, die jemandem zu schwer | |
geworden ist, als dass er sie noch irgendwo hinrollen wollte, auf der | |
Parkbank und zählt seine Zigaretten. Acht Stück West. Damit kommt der dicke | |
Junge aus Kasachstan noch irgendwie über den Tag, obwohl er sie nicht mehr | |
auseinander halten kann, die Tage. Denn sie sind immer gleich. Die dumpfen, | |
stumpfen Gefühle, die Depressionen, die Medikamente, die ihn runterdrücken. | |
Seine Schwester erzählt, wie sie versucht, deutsche Freunde zu finden, | |
Anschluss, weg von einer Mutter, die immer wieder Bilder sieht, die erst | |
nach der medizinischen Elektroschocktherapie mal richtig auflebt und | |
einfach lacht. Ohne Grund. Die sich vom Balkon gestürzt hat; der zweite | |
Stock war noch viel zu niedrig. „Hier in Göttingen gibt es gute | |
Medikamente“, sagt sie und blickt ins Leere. Aber der kasachische Himmel | |
war viel höher, und die Sterne blinkten anders, heller. Was morgen ist, wie | |
es weitergehen wird, weiß niemand. Sergej krault sich am Sack. Eine | |
Freundin wird er schon finden, da ist er sich sicher, die muss halt auch so | |
dick sein wie er. Warum plötzlich alles anders wurde mit 17, daran kann er | |
sich nicht mehr erinnern. | |
Dr. Rita Boppel kennt das Gefühl, wenn nichts mehr geht. Dann verbreitet | |
sie dort Fröhlichkeit und Zuversicht, wo niemand mehr dran glaubt. Die | |
Rechtsanwältin macht ihren Job: Unterbringung, Betreuung. Rita: „Die, die | |
ich besuche, die haben keine Lobby. Für Randgruppen, und dazu gehören auch | |
die psychisch Erkrankten, interessiert sich niemand.“ | |
Vor dem Betreten dieser verwahrlosten Wohnungen reibt sie sich starkes | |
Chinaöl unter die Nase, bewährt aus der Pathologie. So wie bei Wilma B., | |
59, die saß da, mit ihren bis nach oben hin offenen Beinen, und soff | |
weiter. „Die wollte das so“, sagt Rita und bleibt mitten auf der Straße | |
stehen, die Arme gestikulieren in großen hilflosen Kreisen aus dem weiten | |
Mantel. Wilma B. sollte endlich raus aus ihrer Wohnung, eine Unterbringung | |
auf Staatskosten. Zwangsräumung: Verschmutzung, Mietrückstand. Und Rita | |
hatte sie übernommen, die professionelle Unterbringung der Wilma B. kostet | |
über 3.000 Euro: Polizei, Krankenwagen, Entrümpelung, Schutz vor | |
Seuchengefahr. Im Hagenweg 20, das war die einzige Chance, hatte sie eine | |
neue Wohnung für Wilma B. Hierhin, in Wohnungen mit von | |
Kakerlakenautobahnen durchzogenen Wänden, kann man niemanden ruhigen | |
Gewissens bringen: Alkohol pur, über 165 Einzimmerapartments, deren | |
Eigentümer sich einen Dreck um die Instandhaltung kümmern. Zur eigenen | |
Altersvorsorge gedacht, entpuppten sich die schicken Studentenappartements | |
als verwohnte Aufbewahrungsschachteln für soziale Problemfälle – renovieren | |
lohnt sich hier nicht mehr. | |
Wilma B. wollte nicht aus ihrer Wohnung heraus. Denn dann hätte sie ja | |
alles aufgeben müssen, ihre gesamte Vergangenheit. Möbel, Kleidungsstücke, | |
pelzige Kühlschränke, von Schimmel und Maden übersät. Der Hausarzt | |
verweigerte schon seit langer Zeit den Besuch. Kurz vor dem gerichtlichen | |
Räumungstermin war Wilma B. tot. „Zuletzt haben wir ihr doppelt soviel | |
harten Stoff vorbei gebracht!“, lallt einer ihrer Kumpel. Die kamen immer | |
noch vorbei mit dem Alk. Und Rita, die kam auch, aus Sorge, weil sie das | |
Ende sah. Jetzt macht sie sich Vorwürfe. | |
Hagenweg 20: Die Fußmatte im Eingangsbereich ist getränkt von Urin, große | |
Blutlachen schimmern in der Morgensonne auf dem Parkplatz vor dem | |
fünfstöckigen Betonklotz. Alle Wohnungen haben einen Balkon, in den | |
Flachbau nebenan sollte mal ein Schwimmbad hinein. Im Volksmund heißt das | |
bunkerartige Haus „Schlüpferburg“. | |
## Bier mit Cola, Pegel halten | |
Indy, Göttinger Punk-Urgestein mit Leberzirrhose, wohnt mit seinen Hunden | |
im fünften Stock. „Meiner Sozialarbeiterin sage ich immer wieder, dass ich | |
hier raus will“, sagt er und nimmt einen vollen Schluck Bier mit Cola, | |
Pegel halten. Alles von vorne, Anträge stellen, neue Möbel. „Ich will doch | |
nicht mit Kakerlaken, Mäusen und Ratten im Gepäck umziehen!“, entrüstet | |
sich Indy. Die Stadt zahlt die Miete, hat auch die Kaution übernommen. Die | |
geht meistens flöten in diesen Häusern. | |
Im angrenzenden Blümchenviertel lebt die deutsche Rechtschaffenheit. | |
Rentnerpaare in kleinen spitzen Häusern aus der Nachkriegszeit haben Angst, | |
dass ihnen die Wäsche von der Leine geklaut wird. Beschweren sich über die | |
Lautstärke der Romakinder, die in einer der langen Arbeitersiedlungen | |
untergebracht sind. „Ach ja, es kommt schon mal was weg“, ächzt Heinz | |
Biermann aus dem Tulpenweg und steigt von der Gartenleiter ab. Er ist hier | |
geboren. „Im Rosenwinkel scheint es Blumenliebhaber zu geben, ständig sind | |
unsere Ampeln leer“, so der 65-Jährige. Manchmal kommt einer von den | |
„Ausländern“ und hilft ihm bei schweren Arbeiten. Biermann: „Irgendwie | |
kommen wir klar. Sind doch alles Menschen.“ | |
Wenn in Göttingen derzeit über dringende Maßnahmen debattiert wird, dann | |
über die Neupflasterung der Fußgängerzone. Die Delegation aus Hannover, die | |
über den Fördertopf für das ersehnte Programm „Soziale Stadt“ entscheiden | |
soll, war zuletzt vor zwei Jahren hier. Bei geschlossenen Fenstern wurde | |
die Problemzone Weststadt mit dem Auto abgefahren und dabei zufrieden eine | |
„Vollbelegung“ der Wohnungen festgestellt. | |
Die Romafamilie S. hatte damals einen Wohnungstausch vorgeschlagen und das | |
Leben in den Baracken als „Erlebniswohnen“ angepriesen. Die Delegation hat | |
sich nie wieder gemeldet. | |
30 Mar 2005 | |
## AUTOREN | |
SILKE KETTELHAKE | |
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