# taz.de -- Die orthodoxe Dissidentin | |
> KLANGLICHE VISION Die russisch-tatarische Komponistin Sofia Gubaidulina, | |
> die seit 1992 im schleswig-holsteinischen Appen lebt, hat sich nie vom | |
> Sowjet-Regime vereinnahmen lassen, sondern stets moderne | |
> Kompositionstechniken mit spirituellen Inhalten verbunden. Heute zählt | |
> sie zu den bedeutendsten zeitgenössischen russischen Komponisten | |
VON PETRA SCHELLEN | |
Sie würde sich nie als Mystikerin bezeichnen, dafür ist sie viel zu | |
bescheiden. Auch nicht als religiöse Dissidentin, die sich der herrschenden | |
Ideologie entgegenstellte. Dabei stimmt beides. | |
Brüsten würde sich die russische Komponistin Sofia Gubaidulina mit derlei | |
nie. Der Opfer, die das freie Künstlertum fordert, war sie sich immer | |
bewusst: 1931 im tatarisch-sowjetischen Tschistopol geboren, hat sie ab | |
1932 in Kasan gelebt und unter Stalins Regime gegenüber der tatarischen | |
Minderheit gelitten. In Moskau, wo sie ab 1954 Komposition studierte, war | |
ihre Musik offiziell verpönt: Ihre Religiosität vertrug sich nicht mit der | |
Staatsdoktrin. Aber Kollegen, Lehrer, auch Schostakowitsch – selbst nicht | |
frei von Opportunismus – haben Gubaidulina ermutigt, ihren vermeintlichen | |
Irrweg weiterzugehen. | |
Verbogen hat sich Sofia Gubaidulina, die seit 1992 im | |
schleswig-holsteinischen Appen bei Hamburg wohnt, also nie. Schon als | |
Fünfjährige nicht, als sie ihre Aufnahme an die Musikschule durchsetzte, | |
für die sie eigentlich zu jung war. Damals hat Gubaidulina gebetet, um | |
Komponistin werden zu dürfen. Jahrzehnte später war sie es; ihren | |
Lebensunterhalt verdiente sie derweil mit Filmmusik. | |
Als sie 1986 endlich in den Westen reisen durfte, kannte man sie da | |
bereits: Der Violinist Gidon Kremer hatte ihre Kammermusik in die | |
Konzertsäle gebracht. Ein guter Türöffner. Dabei lässt sich nicht mal | |
behaupten, dass Gubaidulina von den westlichen Kompositionstechniken | |
besonders beeindruckt gewesen wäre. „Der Komponist muss die alten und die | |
neuen Techniken beherrschen und für seine Zwecke einsetzen“, sagt | |
Gubaidulina. Was heißt: keine Ideologie aus avantgardistischen | |
Kompositionstechniken und Klangidealen zu machen, sondern sie als Werkzeug | |
für die eigentliche Aufgabe zu nutzen. Und die wäre? „Sich wieder auf das | |
Transzendente besinnen“, sagt die kleine, drahtige Frau bestimmt. „Über den | |
Alltag hinausgehen und Einblick in eine spirituelle Dimension bieten.“ | |
Das löst sie auch selbst ein: Passionen, Psalmvertonungen und Meditationen | |
über Bibelworte hat die orthodoxe Christin geschrieben, auch Engel-Gedichte | |
von Else Lasker-Schüler und visionäre Texte von T. S. Eliot vertont. Aber | |
genauso hat sie auch „Abzähllieder für Kinder“ und „Ein Walzerspaß nach | |
Johann Strauß“ komponiert. Und, vielleicht noch wichtiger: Sie liefert die | |
ironische Brechung stets mit: „Hörst du uns, Luigi? Schau mal, welchen Tanz | |
eine einfache Holzrassel für dich vollführt“ heißt etwa ein Stück für se… | |
Schlagzeuger. Ein respektloser Titel eigentlich, schließlich ist die Rassel | |
doch ein ernstes schamanistisches Instrument, das hilfreiche Geister ruft. | |
Aber die, so denkt sich Gubaidulina, haben sicher Humor. | |
Rituelle und folkloristische Instrumente hat Gubaidulina zahllose gehört, | |
hat – von Schallplatten – javanesische Folklore früher eingesogen als ihre | |
eigene, die tatarische: „Weil ich damals nicht auf die Dörfer reisen | |
konnte“, sagt sie heute, wegen der Reiseverbote des stalinistischen | |
Regimes. Aber sie lamentiert nicht. Die Zeiten der Entbehrung sind vorbei, | |
und so bringt Gubaidulina die Stadt und das Land, Ost und West, tatarische | |
und russische Wurzeln in ihrer Musik zusammen. In fast jeder ihrer | |
Kompositionen begegnen sich etwa traditionelle russische Instrumente und | |
das klassische westliche Orchester. Ob sowas Konjunktur hat, „ist mir | |
völlig gleichgültig“, sagt Gubaidulina. „Wichtig ist mir die innere | |
Wahrheit meiner Musik.“ | |
In den 1970er-Jahren, mit dem Ensemble Astreja, spielte sie wild und | |
lustvoll Jazz in Moskauer Clubs auf russischen Volksmusik-Instrumenten. Für | |
Gubaidulina war das eine Art musikalische Initiation: „Durch die | |
Improvisation habe ich Zugang zur Intuition bekommen“, sagt sie. Die | |
braucht sie zum Komponieren. Ob sie verlässlich kommt, weiß Gubaidulina | |
allerdings nie. „Ein bisschen Angst habe ich immer“, sagt sie und schaut in | |
ihren Garten mit dem kleinen Teich. „Um in den Zustand der Inspiration zu | |
kommen, brauche ich absolute Stille“, sagt sie. „Spaziergänge im Wald zum | |
Beispiel.“ | |
Unter anderem weil sie im Moskau der 1990er Jahre keine Ruhe mehr fand, ist | |
sie nach Schleswig-Holstein gezogen. „Damals nistete sich in Russland die | |
Lüge ein. Ich ging auf die Straße und habe die Bosheit gespürt“, sagt sie. | |
„Eine solche Atmosphäre ist nicht gut für die Kunst.“ | |
In Appen sei das anders: Nicht nur, dass sie endlich auf dem Dorf leben | |
kann, „die Nachbarn sind auch freundlich und ruhig. Sie lassen einander in | |
Ruhe.“ Das braucht die mit dem Musiktheoretiker Pjotr Meschtschaninow | |
verheiratete Gubaidulina dringend, die Arbeit ist anstrengend genug. „Der | |
Wald, die Natur, das Universum: alles klingt“, sagt sie. Wenn sie das ein | |
paar Stunden in sich aufgenommen hat, muss sie sich erstmal ausruhen. | |
Und das Komponieren? „Mache ich am liebsten nachts“, sagt sie. „Rilke hat | |
einmal geschrieben, er glaube an die Dunkelheit. Das finde ich unglaublich | |
poetisch“, sagt sie und rezitiert gleich noch mehr Rilke: „Ich liebe meines | |
Wesens Dunkelstunden, … in Ihnen hab ich, wie in alten Briefen, mein | |
täglich Leben schon gelebt gefunden.“ | |
Das meint sie durchaus ernst, dass alles, was wir mühsam nacheinander | |
erleben, schon irgendwo angelegt ist. Gubaidulina, die bereits Visionen der | |
Mystikerin Hildegard von Bingen vertonte, bezeichnet auch die eigene Arbeit | |
als auf Visionen basierend: „Viele Komponisten bauen ihr Werk wie ein | |
Architekt: Sie haben erst das Thema – das Fundament – und bauen das Etage | |
auf Etage. Ich dagegen habe zuerst eine klangliche Vision des Gesamtwerks – | |
alle Informationen sind schon da, wie im Samen einer Pflanze. Meine Aufgabe | |
ist dann, dies zu entflechten und in Noten zu übersetzen. In Materie, | |
gewissermaßen.“ | |
Zwei Stücke von Sofia Gubaidulina, „Trio für drei Trompeten“ und „Quatt… | |
werden – neben Kompositionen von Giovanni Gabrieli, Galina Ustwolskaja und | |
Edison Denissov – jetzt beim Schleswig-Holstein Musikfestival aufgeführt: | |
Sonntag, 19. 7., 19 Uhr Ahrensburg, Johanniskirche | |
17 Jul 2009 | |
## AUTOREN | |
PETRA SCHELLEN | |
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