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# taz.de -- Der Soziologe als Intellektueller
> PIERRE BOURDIEU Zum 10. Todestag des französischen Theoretikers am 23.
> Januar erschien in der französischen Presse diese Würdigung von Axel
> Honneth, die die taz nachstehend dokumentiert
VON AXEL HONNETH
Wenn die Soziologie in den letzten Jahrzehnten ihrem Auftrag einer
Fortsetzung der Aufklärung mit anderen Mitteln überhaupt noch nachgekommen
ist, so verdankt sie das weitgehend Pierre Bourdieu.
In einer befremdlichen Mischung aus „Ehrgeiz“ und „Bescheidenheit“, die
auch an ihm als Person zu beobachten war, hatte er es sich von Anfang an
zur Aufgabe gemacht, jene Illusion einer Zweckfreiheit der bürgerlichen
Kultur zu destruieren, die die moderne Gesellschaft bis heute über sich
selber besitzt. Zu diesem Zweck entwickelte Bourdieu ein
gesellschaftstheoretisches Instrumentarium, das von Marx und Weber, von
Durkheim und Simmel gleichermaßen beeinflusst war, ohne freilich je nur
eine bloße Addition darzustellen.
Wie aus einem Guss war die von ihm herausgearbeitete, enorm anspruchsvolle
Theorie, derzufolge die symbolischen Ausdrucksformen der Gesellschaft ihre
Herkunft stets in einem Konflikt haben, den die Gruppen mit Hilfe
unterschiedlicher Ressourcen um ihre Stellung in der sozialen Hierarchie
führen. Die Lebenswelt entpuppte sich unter der desillusionierenden
Perspektive, die Bourdieu in seinen großen Untersuchungen einzunehmen
versuchte, als eine Sphäre ununterbrochener Statuskämpfe, die bis hinein in
die Kapillaren philosophischer Schriften und Kunstwerke Gestalt zu finden
vermögen. Aber was wäre diese soziologische Theorie ohne die empirischen
Befunde gewesen, durch die er mit Hilfe eines ständig wachsenden Kreises
von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zeigen wollte, dass wir die
Auswirkungen jener Konkurrenzkämpfe in unserer sozialen Umwelt auch
tatsächlich wahrnehmen, erblicken können.
Nichts weniger als eine soziologische Schulung des Sehens war es, in die
hier eingeführt wurde, indem Statistiken, Beobachtungen und Interviews
zusammengetragen wurden, nur um uns am alltäglichen Detail den Niederschlag
eines sozialen Kampfes erahnen zu lassen. Nun war diese Schulung allerdings
nie darauf angelegt, uns an der sozialen Realität Werte, Normen oder
Rationalitäten erblicken zu lassen, die dem Bemühen um soziale Distinktion
enthoben sind; vielmehr war umgekehrt der soziologische Ehrgeiz Bourdieus
stets darauf gerichtet, den Geltungsanspruch moralischer Normen auf die
bloße Faktizität ihrer sozialen Bedeutung im Statuskonflikt zurückzuführen.
Aus diesem „Soziologismus“ seiner Theorie entspringt das Problem, an dem
Bourdieu als Intellektueller hat scheitern müssen: das einer internen
Verknüpfung zwischen Theorie und Praxis, in der die soziologische
Erschließung der Wirklichkeit bereits die normativen Gesichtspunkte zu Tage
fördert, auf die die politische Kritik sich dann legitimerweise stützen
kann. Ich werde hier in zwei Schritten vorgehen, indem ich zunächst noch
einmal die intellektuelle Leistung Bourdieus herausstelle (I), um dann im
zweiten Schritt deren ungeklärtes Verhältnis zur politischen Kritik des
Intellektuellen zu thematisieren (II).
## I. Das Werk
Was im soziologischen Werk von Bourdieu zustande kam, war aus deutscher
Sicht wohl vor allem eine Synthese von zwei Traditionssträngen der
Soziologie, die zumindest hierzulande stets als sich ausschließende
Alternativen betrachtet wurden. Vor dem Nationalsozialismus hatte es in
Deutschland eine soziologische Schule gegeben, deren Interesse im
Wesentlichen darauf gerichtet war, in phänomennaher Einstellung den
sozialen Gehalt lebensweltlicher Praktiken und Artefakte zu entschlüsseln.
Als ihr Gründungsvater kann Georg Simmel gelten, ihre besten Schüler waren
sicherlich unabhängige Geister wie Siegfried Kracauer und Walter Benjamin.
Ob nun Kracauer die Angestelltenkultur der zwanziger Jahre untersuchte,
Benjamin das Mobiliar von Berliner Bürgerwohnungen studierte, stets ließen
sie sich bei ihren Deutungsversuchen von dem Impuls leiten, an den
lebensweltlichen Zeugnissen der Gegenwart die Friktionen des sozialen Auf-
und Abstiegs durchsichtig zu machen.
In Alternative zu dieser Tradition existierte eine zweite Schule, deren
wesentliches Verdienst in dem Entwurf einer soziologischen Handlungstheorie
bestand, die der Erklärung sozialer Herrschafts- und Ausschließungsprozesse
galt. Ihr Gründungsvater war Max Weber, seine besten Schüler waren nicht
selten im marxistischen Lager zu finden.
Trug die erste Schule zur phänomenologischen Entschlüsselung des sozialen
Alltags bei, so die zweite zur handlungstheoretischen Ausdifferenzierung
der Klassen- und Schichtungstheorie. In ihrem Gefolge trat zu Tage, dass
die Herrschaft einer sozialen Gruppe sich nicht nur aus der Verfügung über
materielle Ressourcen, sondern auch aus der Akkumulation von symbolischen
Gütern, von Wissen, Kultur und Beziehungen, ergeben konnte.
Aber nie ist es in Deutschland selber, bedingt auch durch das Exil, in das
der Nationalsozialismus die besten Theoretiker zwang, zu dem Versuch einer
wirklichen Synthese der beiden Schulen gekommen. Erst Bourdieu hat im
letzten Drittel des 20. Jahrhunderts als Franzose geleistet, wozu
hierzulande nach dem Krieg die intellektuellen Kontinuitäten fehlten: eine
Versöhnung von Simmel und Weber zustande zu bringen, durch die es möglich
wurde, an den Artefakten und Praktiken des Alltags den Stand der sozialen
Kämpfe um Herrschaft zu entschlüsseln.
Daher ist die Lücke, die der unerwartete Tod von Pierre Bourdieu gerissen
hat, nicht einfach in Kategorien einer einzigen Fachdisziplin oder der
intellektuellen Welt zu messen. Mit ihm droht, zumindest in Deutschland,
jene ganze Tradition unterzugehen, in der die Soziologie noch in lebendiger
Fortsetzung ihrer Klassiker als eine Aufklärung über soziale Herrschaft
begriffen wurde.
## II. Die Kritik
Allerdings ist diese Analyse sozialer Herrschaft nun so verfasst, dass sie
nicht die moralischen Normen oder Rationalitätsgesichtspunkte zu erkennen
gibt, auf die die Kritik sich legitimerweise stützen könnte: Bourdieu
analysiert die sozialen Verhältnisse vielmehr stets aus der Perspektive
eines Beobachters, der sich gegenüber allen Kämpfen um sozialen
Distinktionsgewinn gleichermaßen neutral verhält. Nur in manchen Färbungen
seiner Terminologie, in einer minutiösen Abänderung des affektiven Gehalts
der Sprache kommt die Sympathie zum Tragen, die er zweifellos für die
Bemühungen der Unterschichten um die Wiedergewinnung sozialer Ehre besessen
hat.
Aber diese indirekten Bekundungen ändern nichts an der Tatsache, dass
Bourdieu nicht über die normative Sprache verfügt, die ihm eine
Unterscheidung zwischen gerechtfertigten und ungerechtfertigten, legitimen
und illegitimen Ansprüchen auf soziale Anerkennung erlaubt hätte. Die ganze
Tradition einer immanenten Kritik, die in der sozialen Wirklichkeit selber
die Gesichtspunkte eines begründeten Einspruchs freizulegen versucht, ist
ihm zeitlebens fremd geblieben.
Aus diesem Defizit seiner soziologischen Analysen erwächst das Problem, das
seinen intellektuellen Stellungnahmen stets etwas Dezisionistisches
anhaftet, weil sie nicht aus den normativen Deskriptionen selber erwachsen
können, die Theorie enthält intern keine Hinweise, die begründen könnten,
warum bestimmte Vorgänge in der sozialen Wirklichkeit normativ abzulehnen
oder zu begrüßen sind.
■ Erstveröffentlicht in „Le Monde“ am 23. 1. 2012
■ Der Sozialphilosoph Axel Honneth, geboren 1949, ist geschäftsführender
Direktor des Instituts für Sozialforschung an der Goethe-Universität in
Frankfurt am Main. Letzte Buchveröffentlichung: „Das Recht der Freiheit.
Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit“ (2011)
31 Jan 2012
## AUTOREN
AXEL HONNETH
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