# taz.de -- Nur ein Stück Fleisch | |
> Stuttgarts sündige Meile ist nur 100 Meter lang. Dass sie zerfällt, weiß | |
> inzwischen jeder. Gerne wird darüber geschrieben. Doch meist ist der | |
> Blick auf das Leonhardsviertel sozialromantisch verklärt oder von einem | |
> angenehmen Schauder begleitet, wie so oft, wenn es um Prostitution geht. | |
> Dabei ist das Geschäft knallhart: Zuhälter und Hausbesitzer machen das | |
> große Geld, und die Prostituierten kommen unter die Räder. Ein Blick | |
> hinter die Kulissen aus Sicht der Frauen | |
von Susanne Stiefel (Text) und Jo Röttgers (Fotos) | |
Noemi will raus. Dabei wirkte das Stuttgarter Leonhardsviertel aus der | |
Ferne so verlockend. Von Zahony aus, der kleinen ungarischen Stadt, wo | |
Noemi lebte, an der Grenze zur Ukraine, wo es keine Arbeit gibt, schien es | |
wie das Paradies. Noemis Träume schienen einen Ort gefunden zu haben. | |
Endlich Geld, um die Kinder in die Schule zu schicken, endlich Geld, um die | |
Wohnung zu zahlen und die Arbeitslosigkeit des Mannes zu kompensieren. | |
Der Traum vom schnellen Geld wurde schon nach einem Jahr zum Albtraum. „Für | |
die Männer hier bin ich nur ein Stück Fleisch mit Loch“, sagt die | |
29-Jährige. Sie hat die Freier nur ertragen, indem sie die Augen | |
geschlossen und bis zwanzig gezählt hat. Fünf Jahre als Hure zählen wie 100 | |
Jahre Einsamkeit. Noemi will wieder einsteigen ins Leben. | |
Noemi ist eine von den osteuropäischen Prostituierten, über die alle reden. | |
Sie seien krank, überschwemmten den Markt und machten die Preise kaputt, | |
wettern die älteren Prostituierten. 80 Prozent der Huren in Deutschland | |
sind inzwischen Ausländerinnen. Seit der EU-Grenzöffnung kommen viele der | |
Frauen, die in Deutschland anschaffen, aus Ungarn, Tschechien, Rumänien | |
oder Polen. Auch im Leonhardsviertel. Von Menschenhandel ist die Rede, von | |
Zwangsprostitution. Solche Geschichten eignen sich gut für eine flotten | |
„Tatort“ am Sonntag. Das alltägliche Elend ist weniger fernsehtauglich. | |
## Unter der Schminke schimmert ein blaues Auge | |
Sicher gibt es die klassische Zwangsprostitution. Wer durchs | |
Leonhardsviertel geht, sieht sie draußen stehen, junge, krank aussehende | |
Frauen, die in der Kälte zittern. Wie Ana, die aussieht wie 16, laut Pass | |
aber 27 Jahre alt ist und ihr blaues Auge nur notdürftig unter dicker | |
Schminke verstecken kann. Oft sind sie mit dem ganzen Familienclan da, das | |
Geld wird ihnen von ihren „Beschützern“ am gleichen Tag abgenommen, an dem | |
sie es verdient haben. | |
Doch oft ist der Zwang, der die Frauen in die Prostitution treibt, weniger | |
spektakulär. Noemi wollte ein besseres Leben für ihre Familie. Sie hat | |
ihren Kindern schamvoll verschwiegen, wie sie das Geld für die Wohnung und | |
für ihre Ausbildung verdient hat. Doch nach einem Jahr hat sich ihr Mann | |
scheiden lassen. Ihre Kinder sieht sie nun nur noch alle zwei Monate, und | |
schuld ist ausgerechnet ihr Lebenswandel. Der Aufbruch nach Stuttgart | |
sollte die Armut überwinden. Insofern ist auch Noemi eine | |
Zwangsprostituierte. | |
Für Jasna ist Noemi nur eine von „denen aus Osteuropa“, die das Geschäft | |
kaputt machen. Die beraubten die Freier, sie täten es ohne Kondome, | |
überhaupt: Es gebe keine Ehre mehr. „Früher hat es keine unter 50 Euro | |
gemacht“, sagt die 58-jährige Prostituierte. „Heute kann einer schon für … | |
eine finden.“ In ihrem Arbeitsdress lehnt Jasna an der Bar in einem der | |
Animierlokale, kurzer Rock, lange Haare, tiefes Dekolleté, tiefe Stimme. | |
Eine Frau, die viel erlebt hat und sich durchzuboxen weiß. Es kostet viel | |
Kraft, in einem Hurenleben den Kopf über Wasser zu halten. Solidarität ist | |
ein Luxus. Vor allem, seit die Konkurrenz so groß ist. Umso lieber erinnert | |
sich Jasna an früher. Seit 40 Jahren ist sie im Geschäft, viele Worte macht | |
sie nicht. Ihren wirklichen Namen will sie nicht in der Zeitung lesen, und | |
überhaupt will sie in zwei Jahren in Rente gehen. „Das ist doch nichts mehr | |
heute“, sagt die Frau mit den üppigen Rundungen. Wenn die Gegenwart | |
unerträglich ist, wird die Vergangenheit zum Paradies. Früher, schwärmt | |
Jasna, hatten die Freier noch Stil und haben auch mal mit den Mädchen | |
getrunken. Früher, da waren die Zuhälter noch Männer, die nicht um Preise | |
mit sich feilschen ließen. Früher, das ist für sie, als es noch drei | |
Laufhäuser im Viertel gab statt zehn wie heute. Früher, das war, als es | |
noch keine „Ausländerinnen“ gab. Jasna kommt aus Serbien. Nostalgie | |
verwischt den Blick auf die Wirklichkeit. | |
Richtig bleibt: das Leonhardsviertel hat sich verändert. Das weiß auch | |
Sabine Constabel, die seit 20 Jahren mit Prostituierten arbeitet und die | |
Verhältnisse im Quartier aus dem Effeff kennt. Doch die Nostalgietour ist | |
mit ihr nicht zu machen. Die Sozialarbeiterin vom Gesundheitsamt weiß, dass | |
Prostitution auch früher schon ein hartes Geschäft war. Dass es noch härter | |
geworden ist, hat für sie klare Ursachen. | |
Da ist zum einen das Prostitutionsgesetz von 2001, von Rot-Grün | |
verabschiedet, um die Frauen im Gewerbe zu stärken. Sie sollten ihren Lohn | |
einfordern können, sie sollten nicht länger diskriminiert und an den Rand | |
der Gesellschaft gedrängt werden. Doch profitiert haben nicht die Frauen, | |
sondern die Zuhälter und die Hausbesitzer. Denn durch die Legalisierung der | |
Prostitution ist es schwer geworden, die Bordelle und Absteigen, die | |
seitdem jedes leer werdende Haus im Viertel besetzen, zu verbieten. Für | |
Sabine Constabel gibt es nur eine Konsequenz: „Ich will in einer | |
Gesellschaft leben, in der Prostitution verboten ist“, sagt die engagierte | |
Sozialarbeiterin. | |
## Mit Romantik hat das Hurenleben wenig zu tun | |
Sabine Constabel weiß, dass ein Hurenleben mit Selbstbestimmung und | |
Rotlicht-Romantik wenig zu tun hat. Sie bietet Frauen wie Noemi Hilfe beim | |
Ausstieg, sie raucht mit Jasna in der Bar eine Zigarette und erkundigt sich | |
nach der überstandenen Operation. Constabel ist Ansprechpartnerin bei | |
gesundheitlichen und anderen Sorgen im Café La Strada. Die 52-Jährige | |
hilft, oft unbürokratisch, beim Überleben unter menschenunwürdigen | |
Bedingungen. Und manchmal schafft sie es sogar, aus Rattenlöchern | |
bewohnbare Zimmer zu machen. | |
Wie etwa bei Marianne. Die schmale Frau mit dem zarten Gesicht ist fast 70 | |
Jahre alt und schafft immer noch an, um die Miete ihres heruntergekommenen | |
kleinen Dachzimmers im Viertel bezahlen und überleben zu können. Geld vom | |
Staat will sie nicht, das verbietet ihr Stolz. Knapp 300 Euro zahlt | |
Marianne für ihre Bruchbude. Draußen im Flur stapelt sich der Müll. Es | |
riecht nach kaltem Rauch und ausgelaufenen Bierbüchsen. In der Küche, auf | |
deren Fußboden man den Dreck erst mit dem Picke abhacken müsste, liegt eine | |
Ratte. Überall sind Ratten, sie leben in den Rohren des notdürftig | |
sanierten Hauses, in dem grade mal das Dach neu gedeckt wurde, als es den | |
Besitzer wechselte. Keiner hat die Löcher gestopft, aus denen die Ratten in | |
jedes Zimmer krochen, Geld lässt sich auch so mit den Zimmern machen. | |
Marianne ekelt sich vor den Tieren, die in ihrem neun Quadratmeter großen | |
Dachzimmer herumhuschen. | |
Sabine Constabel hat einen Sponsor gefunden, der die Renovierung des | |
kleinen Zimmers bezahlt. Die gelben Wände sind inzwischen weiß gestrichen, | |
auf dem rissigen Fußboden wurde Laminat verlegt, und die Löcher in der Wand | |
sind mit Silikon ausgespritzt und verputzt. Jetzt bekommt Marianne noch | |
einen Kleiderschrank. Manchmal möchte Sabine Constabel den jungen Frauen | |
und den Edelprostituierten, die das schnelle Geld erhoffen, zeigen, wie das | |
Leben aussieht, wenn eine Prostituierte in die Jahre gekommen ist. „Keine | |
Frau kommt reich und ungebrochen aus dieser Zeit heraus“, sagt Constabel, | |
„keine.“ | |
Sabine Constabel strahlt Ruhe und Gelassenheit aus. Doch wer ihr mit | |
Huren-Mythen und Sozialromantik kommt, kann eine andere Seite kennenlernen. | |
Das bekamen der Grünen-Politiker Volker Beck und der Stuttgarter | |
Bordellbesitzer Jürgen Rudloff vor laufender Kamera zu spüren. Sie saßen | |
gemeinsam mit Sabine Constabel, Alice Schwarzer und einer deutschen | |
Edelhure bei Maischberger auf den Sofas. Rudloff hat mit der Legalisierung | |
der Prostitution auf den Fildern ein Bordell aufgemacht. 60 Arbeitsplätze | |
habe er geschaffen, lobt er sich selbst, 55.000 Freier besuchen sein | |
„Paradise“ im Jahr, für 95 Euro am Tag kann sich eine Prostituierte | |
einmieten. Ein Paradies für den Sexmanager, dessen Geschäft so gut läuft, | |
dass er in Österreich weitere Bordelle aufmachen will, so munkelt man. | |
Seine Kinder gehen in den Waldorfkindergarten und er gesteht: „Es würde mir | |
das Herz zerreißen, wenn meine Tochter sich prostituieren würde.“ | |
Da ist es mit Sabine Constabels Gelassenheit vorbei. „Drei von vier | |
Prostituierten können nur mit Alkohol oder anderen Drogen überleben“, | |
schleudert sie ihm entgegen. Und wem es das Herz bricht, wenn seine Tochter | |
den Beruf wählt, mit dem er selbst viel Geld macht, der sei zumindest | |
schizophren. „Ich will nicht in einer Gesellschaft leben, in der | |
Prostitution verharmlost wird“, sagt sie aufgebracht. Übrigens: Noemi, die | |
Aussteigerin aus Ungarn, wurde von Maischberger zwar angefragt, aber dann | |
doch nicht eingeladen zur Talkrunde. Eine Leidensgeschichte schmälert eben | |
den Glamourfaktor solcher Sendungen. Sex sells, aber bitte ohne Elend. Und | |
ohne Gewalt. | |
Doch die gehört zum Rotlicht wie die Faust aufs Auge. Wer ein Laufhaus hat | |
und die Zimmer zwischen 120 und 170 Euro pro Tag vermietet, kann bei 15 | |
Zimmern auf drei Stockwerken auf eine knappe Million Mieteinnahmen im Jahr | |
kommen. Wo so viel Geld verdient wird, wird gekämpft, um jedes Haus. Das | |
bekommt auch Veronika Kienzle zu spüren. Die Bezirksbürgermeisterin hat es | |
sich zur Aufgabe gemacht, das Leonhardsviertel wieder bewohnbar zu machen | |
und die Prostitution zurückzudrängen. „Wir müssen eine Situation schaffen, | |
in der sich Zuhälter nicht mehr wohlfühlen“, sagt die grüne | |
Kommunalpolitikerin. Ihr Ziel: Häuser zurückkaufen und die Zuständigkeiten | |
der verschiedenen kommunalen Ämter bündeln, damit man gezielt gegen | |
anwaltliche Verschleppungstaktik vorgehen kann. | |
Seit dem Prostitutionsgesetz hat die Kommune weniger Möglichkeiten, | |
einzugreifen. Sie muss etwa nachweisen, dass eine gewerbliche | |
Zimmervermietung im Klartext Prostitution bedeutet. Und selbst wenn sie | |
recht bekommt, wie im Falle des Hauses Leonhardstraße Nummer 16, haben die | |
Hausbesitzer und Unterpächter im Zweifel die besseren Anwälte, die einen | |
Prozess ewig verschleppen. Manch einem der Männer, die mit Frauen gut | |
verdienen, ist Kienzle, die seit acht Jahren für das Leonhardsviertel | |
kämpft, so angenehm wie ein Loch im Kopf. Kürzlich hat sie einer im Rathaus | |
besucht und süffisant festgestellt: „Sie sitzen mit dem Rücken zur Tür, wie | |
unvorsichtig, Frau Kienzle.“ | |
## Das Geld machen Pächter und Hausbesitzer | |
Kienzle weiß, dass sie sich mit der Rettung des Kiezes viel vorgenommen | |
hat. Beharrlich besteht sie darauf, die Folgen einer verfehlten | |
Immobilienpolitik der Stadt rückgängig zu machen. In fast allen diesen | |
verkauften Häusern hat sich das Milieu eingenistet und damit das Gefüge von | |
Gewerbe, Sozialwohnungen und Rotlicht durcheinandergebracht. Inzwischen | |
kauft die Stadt Wohnungen zurück. Das Haus 49 etwa, in dem das Café Mistral | |
zu Hause ist. Nun gibt es Gespräche über die vorzeitige Auflösung der | |
Mietverträge, und die sind zäh. Die Pächter wollen ihre lukrative | |
Geldquelle nicht so einfach aufgeben, nach dem Willen der Stadt soll das | |
Bordell im oberen Stockwerk verschwinden. Veronika Kienzle könnte sich | |
vorstellen, dass dort die Stiftung des benachbarten Schwäbischen | |
Heimatbundes Platz finden könnte. Oder auch ein Übergangswohnheim für | |
Aussteigerinnen. | |
Für Aussteigerinnen wie Noemi. Die braucht nun eine Wohnung, damit sie eine | |
andere Arbeit finden kann. Noemi ist eine starke Frau. Als sie vor fünf | |
Jahren in Stuttgart ankam, hat sie kein Wort Deutsch gesprochen, doch sie | |
hat sich durchgebissen. Ganz allein. Das meiste Geld hat ihr Zimmer in der | |
Absteige verschlungen, 120 Euro am Tag wollte der Vermieter. Noch einen | |
Mann, der sie angeblich beschützen soll, wollte sie nicht zahlen. Zuhälter? | |
„Die reden von Liebe und wollen nur mein Geld“, sagt Noemi. Sie hat ihre | |
Eigenständigkeit mit Einsamkeit in der Fremde bezahlt. Nun will sie | |
aussteigen. „Die Arbeit als Hure macht Seele und Körper kaputt“, sagt | |
Noemi. Mit der Hilfe von Sabine Constabel hofft sie auf eine zweite Chance | |
im Leben. Sie will das Leonhardsviertel endlich hinter sich lassen. | |
31 Mar 2012 | |
## AUTOREN | |
Susanne Stiefel | |
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