# taz.de -- Der Traum vom Dach aus Luft | |
> Die Leichtigkeit des Bauens: Eine große Retrospektive in der Münchner | |
> Pinakothek der Moderne würdigt den „Antiarchitekten“ Frei Otto, der | |
> gerade 80 geworden ist. Sein berühmtestes Werk ist zugleich sein | |
> unglücklichstes: die Überdachung des Münchner Olympiastadions | |
VON IRA MAZZONI | |
Retrospektiven sind nicht Frei Ottos Sache. „Wir sollten uns die Zukunft | |
ernsthaft vornehmen“, mahnte er anlässlich der Ausstellungseröffnung und | |
der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Technischen Universität München. | |
Ein dickes Buch mit ungelösten Aufgaben liege in seinem Warmbronner | |
Atelier. Der Elan des 80-jährigen Forschers ist ungebrochen. Gefreut hat er | |
sich über die späte Würdigung doch. Gisela Stromeyer, die Tochter des | |
Zeltbauers Peter Strohmeyer, mit dem Frei Otto seit 1954 vertrauensvoll | |
zusammenarbeitete, hat zur Ausstellung die pathetische Rotunde der | |
Pinakothek der Moderne mit ein paar Segeln leicht und licht verwandelt. | |
Diese subversive Geste gegen selbstgefällige Monumentalität hat Otto | |
sichtlich behagt. Immer hat er sich mit seinen heiteren Improvisationen | |
gegen das „Ewigkeitsgetue“ gewandt. So bringt denn seine Werkschau einen | |
frischen Geist ins Museum. | |
„Mit Leichtigkeit“ trat Otto nach dem Krieg „gegen die Brutalität“ des | |
Bauens ein. Gerne sah er sich als Antiarchitekt: „Lieber gar nicht bauen – | |
als zu viel.“ Und so beschäftigte er sich früher als andere mit minimalen, | |
naturgesetzlichen Konstruktionen, machte sich Gedanken über wandelbare | |
Lebenshüllen, die passive Nutzung von Sonnenenergie, Ressourcenschonung | |
durch Vermeidung von Material und den rückstandslosen Rückbau von | |
Überflüssigem. Mit seiner Suche nach der unbekannten, aber natürlichen Form | |
revolutionierte er zusammen mit Strohmeyer den Zeltbau. | |
Die Ausstellung selbst gleicht einem Labor: All die legendären Modelle aus | |
gespannten Netzen, hängenden Ketten, stehenden Gipsbinden sind versammelt. | |
Fotos von den Minimalflächenversuchen mit Seifenlaugen, Momentaufnahmen | |
gezogener Sirupfäden, unzählige Skizzen und poetische Aquarelle zeugen von | |
der Lust am fantastischen Denken, die in allen drei Forschungsstätten Frei | |
Ottos kultiviert wurde: Zunächst in der kleinen privaten | |
„Entwicklungsstätte für den Leichtbau“ (EL) in Berlin Zehlendorf 1958, | |
später im „Institut für leichte Flächentragwerke“ (IL) an der Technischen | |
Hochschule beziehungsweise Universität Stuttgart sowie in seinem Atelier | |
Warmbronn. „Spinnerzentren“ alle drei, die international vernetzt und | |
höchst erfolgreich Modellcharakter für die Bildungsreform haben könnten. | |
Der weltweite Erfolg Frei Ottos beweist: Ohne breitangelegte | |
Grundlagenforschung keine Innovation. Ohne Interdisziplinarität keine | |
Problemlösung. So arbeiteten in dem von Otto initiierten | |
Sonderforschungsbereich „Natürliche Konstruktionen – Leichtbau in | |
Architektur und Natur“ ab 1984 Architekten, Ingenieure, Biologen, | |
Verhaltensforscher, Paläontologen, Morphologen, Physiker, Chaosforscher, | |
Mediziner, Historiker und Philosophen zusammen. | |
1955 schon überraschte er die Öffentlichkeit mit dem ersten, elementaren | |
Vierpunktzelt auf der Bundesgartenschau in Kassel. Das runde Wellenzelt, | |
die Bedachung des Tanzbrunnens auf der Bundesgartenschau 1957, erfreute | |
sich dann solcher Beliebtheit, dass es Jahr um Jahr wieder aufgebaut wurde. | |
Der Deutsche Pavillon auf der Weltausstellung 1967 in Montreal sorgte | |
schließlich international für Aufsehen. Das zusammen mit Rolf Gutbrod | |
entwickelte Spitzzelt wurde zum Symbol eines neuen, demokratischen | |
Deutschlands. Die über ein Netz von Seilen gespannte Membran formte eine | |
bewegte, lichtdurchflutete Dachlandschaft. Optimismus lag in der Luft. Der | |
vorbereitende Versuchsbau in Stuttgart wurde zum Institut für leichte | |
Flächentragwerke ausgebaut und schuf perfekte Rahmenbedingungen für die | |
forschenden Tüftlerteams und für inspirierende Gastvorträge etwa von | |
Buckminster Fuller, Konrad Wachsmann oder Kenzo Tange. Das IL war jederzeit | |
weltoffenes Labor, Hör- und Festsaal. Dass es inzwischen auch Denkmal ist, | |
will dem Verfechter des Temporären und Wandelbaren nicht so ganz behagen. | |
Frei Ottos berühmtestes, vor zerstörerischen Umbauten gerettetes Werk, die | |
Überdachung des Hauptsportstättenbereichs des Olympiaparks in München, ist | |
zugleich sein unglücklichstes. Otto hatte als Berater von Behnisch und | |
Partner 1968 das Unbaubare baubar gemacht. Dass die Konstruktion freilich | |
aus Sicherheitsgründen massiver ausfiel als seiner Vorstellung von einer | |
Wolkenlandschaft entsprach, ärgert Otto noch heute. Dahingegen ist das | |
beinahe unsichtbare Netzdach über der Voliere im Tierpark Hellabrunn | |
(Entwurf Jörg Gribl, Tragwerksplanung Ted Happold) an Einfachheit, Klarheit | |
und Leichtigkeit kaum zu überbieten. Ein Dach aus Luft allerdings hat Otto | |
trotz langjähriger Vorstudien zu Pneus nie verwirklichen dürfen. Gleichwohl | |
ist das zusammen mit Kenzo Tange und Ove Arup gemeinsam entwickelte Projekt | |
„Stadt in der Arktis“ aus dem Jahr 1970/71 heute durchaus realisierbar. | |
Auch wenn die leichten Gitter, das Latten-Dach der Multihalle in Mannheim | |
(1975), gerne mit einem Walfisch verglichen wird: Ottos Studium der | |
Naturkräfte steuerte nie auf einen Biomorphismus zu. Die zweifellos | |
ästhetischen Formen entstanden immer aus der optimierten Konstruktion. Wenn | |
Otto mit Blick auf die Urzelle formulierte: „Am Anfang war der Pneu“, dann | |
ging es um die Essenz aller Konstrukte, nicht aber um aufgeblasene, | |
irgendwie futuristisch wirkende Membranhüllen. Immer war der | |
naturforschende Architekt und philosophierende Ingenieur seiner Zeit | |
voraus. Er ließ sich das erste bewohnbare Glashaus der Republik bauen, | |
dachte lange vor dem niederländischen Architekturbüro MVRDV über vertikale, | |
„dreidimensionale Gartenstädte“ nach. Er entwickelte „Schatten für die | |
Wüste“ und selbst für die unter Naturschützern verpönte Magnetschwebebahn | |
entwarf er filigran verzweigte Stützen, die nicht nur ökologisch und | |
ökonomisch vertretbar, sondern auch ästhetisch höchst reizvoll sind. | |
Bis heute wird der Weltverbesserer zu Rate gezogen, wenn es gilt, | |
Unmögliches möglich zu machen: Zusammen mit Shigeru Ban entwickelte Otto | |
die Papprollen-Tonnenschale für den Japanischen Pavillon auf der Expo 2000. | |
Und zusammen mit Ingenhoven Overdiek und Partner tüftelt er an den | |
Lichtkelchen der geplanten unterirdischen Bahnhofsanlage Stuttgarts. Ein | |
Projekt, das kein Computer berechnen kann und das wie eh und je im Atelier | |
anhand von hunderten von Modellen experimentell bewiesen werden muss. | |
Zukunft entsteht in vielen Köpfen und zwischen forschenden Fingerspitzen. | |
„Visionäre Fantasie“, so Otto, „ist niemals utopisch.“ | |
bis 28. August, Katalog (Monografie im Birkhäuser Verlag) 40 €, im | |
Buchhandel 78 € | |
7 Jun 2005 | |
## AUTOREN | |
IRA MAZZONI | |
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