# taz.de -- Kleine Lahmheit hinten | |
> 160 Kilometer hoch zu Ross: Bei der Generalprobe der Distanzreiter für | |
> die Weltmeisterschaft 2006 in Aachen kommt wegen epidemisch häufiger | |
> Unpässlichkeit nicht mal jedes dritte Pferd ins Ziel | |
AUS AACHEN BERND MÜLLENDER | |
Man könne „nicht einfach losreiten, den Tempomaten einschalten, und | |
irgendwann ist man im Ziel“, hatte die Deutsche Meisterin Melanie Arnold | |
vorher erklärt. Vielmehr komme es auf Taktik und Geduld an, auf Kraft und | |
Kondition. Der Belgier Leonard Liesens wollte „in und auf das Pferd hören“. | |
Und die Niederländerin Yvonne van der Velde stellte klar: „Man muss | |
unterwegs wie in Trance in das Pferd hineingehen.“ | |
Nach 90 der 160 Kilometer wickelt die 42-Jährige van der Velde ihrer Claire | |
du Rose Eisbeutel um die Fesseln, trocknet das klitschnass geschwitzte Tier | |
und sagt nur: „Ganz kleine Lahmheit hinten.“ Das war das Aus gewesen. Einer | |
der Aufsichtsveterinäre hatte den Daumen gesenkt. Da nutzen beste Trance, | |
Horchenskraft und geduldige Taktik nichts. Die Reiterin sah bedröppelter | |
aus als ihr Pferd, das schon wieder emsig graste. | |
Morgens um fünf Uhr waren in der Aachener Soers 73 Pferde gestartet, die | |
meisten klein und drahtig dünn, manche mit neckischem Zopfgeflecht in der | |
Mähne. Munter geht es über Wiesen und Äcker, Forstwege und Asphalt. Hoch | |
zum Dreiländereck, an der Niederlande höchstem Punkt vorbei (322,5 Meter) | |
und durch des Landes größten Mischwald (mehrere Quadratkilometer), herab | |
ins konditionsfressende belgische Hügelland. Distanzreiten. WM-Generalprobe | |
für 2006. Endurance der Pferde, über Stock und Stein. 60 Prozent der | |
Strecke legen die besten im Galopp zurück. | |
Die meisten Entscheidungen fallen, wenn nicht geritten wird, bei den | |
Tierärzten in den sechs „Vetgates“ unterwegs. Da muss der Pferde Puls | |
schnell unter 64 Schläge gebracht werden (mit Eiswassermassage, | |
Wärmedecken, Strohrascheln, Beruhigungsgeflüster). Dann werden Dehydrierung | |
überprüft, Darmgeräusche abgehorcht, Gang und Trab beäugt. Die dauernden | |
„Mechanik-Checks“ sind für die einen ein Zeichen, wie ernst die Gesundheit | |
der Tiere genommen wird. Andere sehen darin den Beleg dafür, wie | |
wesensfremd dem Pferd ein Vierfachmarathon ist. 53 der 73 Starter sind am | |
Ende aus dem Feld genommen worden. | |
Als Favoriten hatte die Starterfamilie derer von Maktoum aus den | |
Vereinigten Arabischen Emiraten gegolten. Doch Seine Hoheit Mohammad Sheikh | |
Mohd bin Rashid war von den Tierärzten bald genauso ausgebremst worden wie | |
seine fünf Scheichsöhne. Eines ihrer edlen Rasserösser hatte sich sogar | |
eine Fraktur am Knöchel zugezogen und kippte im Wagen der Veterinärambulanz | |
um. Dem armen Tier drohte ein Schicksal als rheinischer Sauerbraten. | |
„Was soll ich jetzt zu Hause berichten?“, fragte traurig der Reporter von | |
Abu Dhabi TV. „Die Zuschauer wollen doch Sieger sehen. Ich glaube, unsere | |
Leute wollten nur mal die Strecke für die WM 2006 kennen lernen. Die | |
gefällt ihnen übrigens gar nicht.“ Warum, zu wenig Sand? Er lächelt: „Ja, | |
das kann sein.“ Die letzte Weltmeisterschaft fand in Dubai statt, auf einem | |
Wüstenkurs. Scheichvater Mohammad erklärte höflich: „Wir haben eine tolle | |
Strecke erlebt.“ Durchaus gut, so war zu hören, hatte der Halbhundertschaft | |
Gäste aus Dubai auch der Suitentrakt des Aachener Luxushotels Quellenhof | |
gefallen. Am Besuch partizipierte vor allem die heimische Händlerschaft mit | |
Wohlgefallen. Favorit bei Schnäppchenkäufen sollen die überaus beliebten | |
Porsche Cayennes gewesen sein. Mit denen brausten die Helfer des | |
Scheichclans schon während des Wettkampfs umher. | |
Ebenfalls am Start war Prinzessin Haya Bint al-Hussein aus Jordanien. Doch | |
Ihre Hoheit waren schon nach 28 Kilometern freiwillig vom Pferd gestiegen. | |
Die Königstochter hat disziplinübergreifende Erfahrung: Als Springreiterin | |
saß sie beim olympischen Parcours schon zweimal auf dem Hosenboden – ohne | |
Pferd. | |
Im lauschigen Aachener Wald hatten tierquälerische Scherzbolde ein | |
Richtungsschild umgedreht und gut ein Dutzend Reiter für fast einen | |
Kilometer Länge einen steilen Aufstieg hinaufgeschickt. „So was passiert“, | |
zuckte Mitopfer van der Velde die Schultern. Der letzte der 20 Finisher war | |
schließlich nach 21 Uhr ins Ziel gekommen. Bei größerer Hitze als am | |
Samstag, spekulierten Fachleute, wären noch deutlich weniger angekommen. | |
Gewonnen hat der krasse Außenseiter Liesens, der bei der Zielankunft auf | |
seinem schmutzig weißen Schimmelwallach Arazzi nach knapp 14 Stunden | |
jubelnd die linke Faust in den kühlen Abendhimmel reckte. Melanie Arnold | |
wurde Dritte und konnte – „voll mit Glückshormonen“ – ihren deutschen | |
Meistertitel verteidigen. Ganze 4:20 Minuten betrug ihr Rückstand – fast | |
ein Fotofinish. 14 Stunden übrigens schaffen die weltbesten Ultraläufer | |
über 160 Kilometer auch – ohne Pferd, Veterinäre und Disqualifikation wegen | |
Lahmheit. | |
13 Jun 2005 | |
## AUTOREN | |
BERND MÜLLENDER | |
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