# taz.de -- Vom Zauber der Archäologie | |
> Gabriel Zuchtriegel erzählt lebendig von der verschütteten Stadt Pompeji, | |
> dem Leben der Menschen in der Antike und was es mit uns zu tun hat | |
Von Sabine Seifert | |
Tempelreste, klassische Statuen oder Skulpturen, Fundstücke, | |
zusammenhanglos in Vitrinen ausgestellt, überhaupt die „blank gewaschene“ | |
Kunst der Antike hätten ihn früher gelangweilt, sagt Gabriel Zuchtriegel. | |
Eine überraschende Aussage für einen, der heute Grabungsdirektor der | |
antiken Stadt Pompeji bei Neapel ist. Zuchtriegel studierte Klassische | |
Archäologie und Altgriechisch, weil er hoffte, mehr über das Alltagsleben | |
in der fernen Vergangenheit herauszubekommen. Nichts könnte passender sein | |
als seine jetzige Arbeitsstätte, der Archäologische Park von Pompeji, der | |
Stadt zu Füßen des Vesuvs, der im Oktober des Jahres 79 nach Christi die | |
Menschen erst unter einem zweitägigen Stein- und Ascheregen begrub und sie | |
dann durch eine Glutlawine ersticken ließ. | |
Das hat etwas Filmisches, Biblisches, Apokalyptisches, bis heute | |
Berührendes. „Vom Zauber des Untergangs“ hat Zuchtriegel sein Buch über | |
Pompeji betitelt, das zugleich seine persönliche Hinwendung zur Archäologie | |
und seinen beruflichen Werdegang beschreibt, seine Zweifel und | |
Auseinandersetzung mit dem von Gender Studies, Postkolonialismus oder | |
Diskursanalysen lange unberührten Fach. | |
Der Blick in die Vergangenheit sei immer auch ein Blick durch die Augen | |
derer, die über die nötigen Mittel verfügten, der Nachwelt überhaupt etwas | |
zu hinterlassen: weil sie schreiben gelernt hatten, Häuser oder imposante | |
Grabmäler errichten ließen, Geld für die Kunst und Gunst der Götter | |
aufbringen konnten. Es war darum ein besonderer Moment für Zuchtriegel, als | |
2021 ein ehemaliges Sklavenzimmer freigelegt wurde, „16 Quadratmeter ganz | |
alltägliches Elend“, die den Blick auf drei ungemachte Pritschen in einem | |
winzigen Raum freigaben. | |
Wie überhaupt reden über Sklaverei, über Prostitution, über die vielen | |
Mythenbildern implizite sexuelle Gewalt, die damals so selbstverständlich | |
waren, dass sich für sie keine spezifischen Begrifflichkeiten im | |
Lateinischen oder Griechischen herausgebildet hätten. Ein adäquater Begriff | |
für Vergewaltigung existierte weder im Griechischen noch Lateinischen, | |
erklärt der Autor, wie also darüber reden, ohne einerseits sexuelle Gewalt | |
zu verharmlosen und andererseits den Mythos seines historischen Kontextes | |
zu berauben? | |
Zuchtriegel hat keine Lösung für das Dilemma, er plädiert für genaues | |
Hingucken, Annäherung an eine auch damals komplexe Wirklichkeit. Seine | |
Kapitel über Sexualität, Prostitution und die Rolle von Religion und Kunst | |
sind spannend, lebendig erzählt, verknüpft mit neuen Funden und neuen | |
Erkenntnissen. | |
Denn in Pompeji wird weiter gegraben und geforscht, die Digitalisierung | |
ermöglicht neue Möglichkeiten des Kartografierens und Hochrechnens von | |
Daten. Ging man früher davon aus, dass Pompeji etwa 20.000 Einwohner hatte, | |
vermutet man heute 45.000. Auch hier spielt mit rein, dass man sich nicht | |
vorstellen konnte, dass es in früher Zeit bereits so große Städte gegeben | |
hat, in denen Menschen auf engstem Raum lebten. Zuchtriegel geht von 14 | |
Menschen pro Wohneinheit aus. | |
Das Besondere an Pompeji seien weder seine Tempel noch das Amphitheater, | |
schreibt der Autor – die gab es anderswo noch größer, noch schöner. | |
„Vielmehr ist es das Gewebe aus Werkstätten, Wohnungen, Schenken, | |
Absteigen, Läden, Bädern und Bordellen, das Pompeji zu einem einzigartigen | |
Ort … macht.“ | |
Das Große Ganze ermöglicht es ansatzweise, die Lebenswirklichkeit der | |
Menschen in ihrem Kontext nachzuvollziehen. Schon die römische Welt | |
sammelte übrigens die klassische Kunst Griechenlands, weshalb auch damals | |
Kunst- und Grabräuberei florierten. | |
Ein Problem, das Pompeji bis heute hat, wie Zuchtriegel erklärt: Wenn | |
Besucher kleine Tonscherben mitnehmen oder professionelle Diebe Objekte | |
entwenden, werden diese nicht nur der Öffentlichkeit vorenthalten, sondern | |
den Archäolog.innen fehlt der Kontext, um zu rekonstruieren, wofür sie im | |
Alltag dienten. | |
1748 begannen die Ausgrabungen, bis heute sind etwa zwei Drittel Pompejis | |
freigelegt und etwa 1.300 Leichname geborgen, dank der besonderen | |
Konservierung durch Asche- und Staubschichten in teils erstaunlich gutem | |
Zustand. Die Leichname selbst zersetzten sich, ihre hart gewordenen Hüllen | |
hinterließen Abdrücke im Boden, deren Hohlformen man mit Gips ausfüllte wie | |
im „Garten der Flüchtlinge“, unter deren Opfern sich mehrere Kinder | |
befanden, so dass man ihre Körperhaltung nachvollziehen kann. Über die | |
Probleme der Konservierung und des Denkmalschutzes im Allgemeinen erzählt | |
Zuchtriegel relativ wenig. | |
Der Archäologe, Jahrgang 1981, steht für eine neue Generation in seiner | |
Branche; als er 2021 zum Direktor des Archäologischen Parks von Pompeji | |
berufen wurde, gab es in der italienischen Presse und Politik eine | |
Gegenkampagne. Zu jung, zu unerfahren, hieß es, obwohl Zuchtriegel vorher | |
die Ausgrabungsstätte von Paestum geleitet hatte. | |
Sollte Pompeji kennen, wer das Buch liest? Das ist kein Muss. Es lädt dazu | |
ein, sich näher mit der alten Geschichte oder besser den alten Geschichten | |
zu befassen. Pompeji wird dann von selbst als Reiseziel auf die Wunschliste | |
kommen. | |
24 Jun 2023 | |
## AUTOREN | |
Sabine Seifert | |
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