# taz.de -- Wie ein Dieb in der Nacht | |
> PHILOSOPHIE Der kommunistische Theoretiker Alain Badiou ist auf dem Weg, | |
> ein Klassiker zu werden. In „Die Philosophie und das Ereignis“ gibt der | |
> Franzose eine Einführung in sein nicht unumstrittenes Werk | |
VON CHRISTOF FORDERER | |
Alain Badiou ist der Schopenhauer unserer Tage: Nach vielen Jahrzehnten | |
verborgenen Schattendaseins ist er plötzlich zu Ruhm gelangt. Dem einen | |
hatte ein „Begriffsjongleur“ (Schopenhauer über Hegel), dem anderen ein | |
„Sophist“ (Badiou über Derrida) ein Vierteljahrhundert lang das Wasser | |
abgegraben. In dem jetzt auf Deutsch erschienenen Werk „Die Philosophie und | |
das Ereignis“ reagiert nun Badiou auf das erwachte Interesse an seiner | |
Philosophie und gibt eine Einführung in sein Gesamtwerk. Das Buch ist aus | |
einem Interview entstanden, das er einem seiner Schüler gegeben hat. | |
Vielleicht versucht Badiou mit der Wahl der Gesprächsform – die den Text | |
angenehm lesbar macht –, an Platon anzuknüpfen, in dessen Nachfolge er sich | |
sieht; der antike Philosoph hat bekanntlich einst den Dialog als | |
philosophisches Genre erfunden. | |
Dass der linksradikale Badiou sich, wie er selbst sagt, als „Klassiker“ | |
fühlt, ist unverkennbar. In dem Buch ist viel von Begriffen wie „Treue“, | |
„ewige Wahrheit“, „Ideen“ die Rede. Badiou empfiehlt sogar, nach einem | |
Jahrhundert immer neuer Inventionen nun zu einer „affirmativen Kunst“ | |
zurückzukehren. Nicht sehr modern wirkt auch sein verquerer Vorschlag, | |
angesichts eines zu komplizierten und ausschließlich den Kapitalinteressen | |
dienenden Europas doch lieber Deutschland und Frankreich zur Supermacht zu | |
fusionieren: Deutsche Tiefe und französische Leichtigkeit könnten dann | |
vereint der Globalisierung standhalten. | |
Das Herzstück von Badious Philosophie ist der Begriff des „Ereignisses“. | |
Davon handeln dann auch die „Politik“, „Liebe“, „Kunst“, „Wissens… | |
und „Philosophie“ betitelten Kapitel. Die Stichworte benennen die Bereiche, | |
in denen für Badiou das Ereignis statthat bzw. in denen es theoretisiert | |
wird. Obgleich Badiou ein hartgesottener Materialist ist, konzipiert er | |
eine gänzlich unheideggerianische Ontologie, in der auch noch die letzten | |
Sümpfe trockengelegt sind, in denen der Mensch aufgrund seines | |
Metaphysikbedürfnisses stecken bleiben könnte –, gibt es bei ihm „Ideen�… | |
Sie gehören aber nicht einer platonischen Hinterwelt an, sondern, beruhigt | |
Badiou, sind „immanent“. | |
Badiou stützt sich für seine Ideenlehre auf Louis Althussers Begriff des | |
„aleatorischen Materialismus“. Im kollektiven und privaten Leben, so glaubt | |
er, scheinen immer wieder unvermutet Möglichkeiten auf, die nicht aus dem | |
„Gesetz der Welt“ kalkulierbar sind. Das Aufscheinen einer überraschenden | |
Möglichkeit nennt er das „Ereignis“. Die bloße Tatsache, dass es etwas wie | |
„Ausnahmen“ gibt, bringt ihn ins Schwärmen – man spürt: Die Initialzün… | |
zu Badious Philosophie war die ekstatische Hochstimmung des Mai 1968. Da | |
Ausnahmen die „Situation“ und damit die Relativität, die allem | |
Determinierten eigen ist, durchbrechen, bedeuten sie die Ankunft von etwas | |
„Absolutem“. Im Ereignis, so Badiou, scheint eine „ewige Wahrheit“ auf. | |
Der Kommunismus – für Badiou die Idee, dass die Freiheit durch die | |
Gleichheit „normiert“ werden muss – ist für ihn eine solche aus einem | |
unverfügbaren Ereignis geborene Idee. Ob seine originelle Theorie | |
allerdings geeignet ist, den in die Jahre gekommenen Marxismus dem | |
postmateriellen Kapitalismus anzupassen, bleibt nach der Lektüre dieses | |
Buchs zweifelhaft. | |
## Wenn der Blitz einschlägt | |
Es sind zwei Aspekte, die bei Badiou wenig überzeugen. Der erste Punkt | |
betrifft direkt seine Theorie – man ist versucht zu sagen: seine Theologie | |
– des Ereignisses. Die Konsequenz daraus wäre: Konkrete | |
Gesellschaftsanalyse ist bedeutungslos für Emanzipationstheorien. Marx war | |
da anders vorgegangen: Er hatte herauszuarbeiten versucht, dass der | |
Kapitalismus selbst seine Totengräber produziert. Marx’ teleologisches | |
Zutrauen ist sicherlich nicht unproblematisch. | |
Aber Badiou fällt in das entgegengesetze Extrem: Statt an das reale | |
Emanzipationspotenzial, das der Kapitalismus entwickelt, anzuknüpfen und so | |
die Verhältnisse „zum Tanzen zu bringen“, stimmt er darauf ein, für ein | |
unvorhersehbares Ereignis in Bereitschaft zu bleiben. Es sind bei Badiou | |
letztlich gar nicht die Menschen und die von ihnen geschaffenen | |
Verhältnisse, von denen der Fortschritt ausgeht: Es ist der wie ein Blitz | |
einschlagende mirakulöse Zufall des Ereignisses. Auf eigenwillige Weise | |
lebt die protestantische Gnadentheologie fort – radikal säkularisiert und | |
dadurch noch absurder. Man könnte den bekannten Paulus-Ausspruch zitieren: | |
„Der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht.“ | |
Der zweite problematische Punkt betrifft Badious Begriff der Idee. Seine | |
Ideenlehre hat mit dem platonischen Vorbild die Tendenz gemeinsam, die | |
Menschen in ihrer konkreten Verschiedenheit zu ignorieren. Der Mensch, | |
schreibt Badiou, sei jenes Wesen, das der Idee bedarf, um die Welt wirklich | |
zu bewohnen. Um das zu erreichen, müsse er sich befleißigen, die „Wahrheit�… | |
– das heißt: die im Ereignis aufgeblitzte Idee der Möglichkeit einer | |
anderen Ordnung – zu „inkorporieren“. Diese „Inkorporation“ vollziehe… | |
indem die Menschen aufhören, heterogene Individuen zu sein. Wir sollen uns | |
zu einem kollektiven „Subjekt“ universalisieren: Statt als egoistische | |
„menschliche Tiere“ agieren wir dann als „Körper“ einer Wahrheit und | |
schreiben diese der Welt ein. Badiou gehört zu den Philosophen, die die | |
Einheit vor der Vielfalt privilegieren. Es ist daher naheliegend, dass ihm | |
mehrfach eine ideologische Nähe zum Totalitarismus vorgeworfen wurde. | |
Am Ende des Buchs gibt er einen interessanten Ausblick auf sein geplantes | |
drittes Hauptwerk: Dort werde er einen Begriff von „Wahrheitsprozeduren“ | |
vorstellen, der der Alterität Rechnung trage. Schon in dem vorliegenden | |
Buch präsentiert er in seiner Theorie des Liebespaars das Beispiel eines | |
überindividuellen Subjekts, in dem Heterogenität bewahrt bleibt. Hier | |
schreibt er auch den schön vertrackten Satz: „So wie das Kamel durch das | |
Nadelöhr, muss die Liebe durch die Begierde gehen.“ Sein Platonismus, | |
deutet der Satz an, bleibt jedenfalls irdisch geerdet. | |
■ Alain Badiou: „Die Philosophie und das Ereignis“. Aus dem Französischen | |
von Thomas Wäckerle. Turia und Kant, Wien 2012, 174 Seiten, 18 Euro | |
12 May 2012 | |
## AUTOREN | |
CHRISTOF FORDERER | |
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