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# taz.de -- tazđŸŸthema: Hadern mit der Polykrise
> Zur Spielzeit 2022/23 stehen die deutschen BĂŒhnen vor offenen Fragen:
> Kommen die Zuschauer*innen zurĂŒck? Wozu noch Theater? Oft werden
> russische Klassiker gespielt
Bild: Die Performance „A&E / Adolf & Eva / Adam & Eve“ ist noch am Wochenen…
Von René Hamann
Es wird hÀrter werden. Auch die kommende Theatersaison steht unter
mehrfachem Druck. Es ist immer noch keine Entwarnung gegeben, was die
ĂŒberaus lĂ€stige Coronapandemie betrifft; die derzeit kursierenden Varianten
scheinen zwar wesentlich harmloser zu sein als die vom Anfang der Pandemie;
aber ob ein normaler Ablauf im Theatergewerbe vonstattengehen kann,
angesichts von Zahlen, die im Herbst wieder durch die Decke zu schießen
drohen, bleibt einmal dahingestellt.
Aber auch mit den anderen Krisen – es ist eine Zeit der vielen Krisen, der
Begriff Polykrise hat sich fast schon etabliert – hadert das Theater. Auch
auf HÀuser und Produktionen warten höhere Energiekosten beispielsweise.
Auch ist die Frage offen: Wie geht klimagerechtes Theater? Dazu der Krieg
in der Ukraine, die steigende Unsicherheit in der Bevölkerung moralischer,
ökonomischer, sozialer Natur. Kurzum, das Theater ist selbst vielleicht in
die schlimmste Krise seit sehr, sehr Langem geraten. Wozu noch Theater?
Warum sich das leisten?
Hier ein paar nackte Zahlen: In der Pandemie brach die Zahl der
AuffĂŒhrungen und Besucher an den deutschsprachigen BĂŒhnen drastisch ein.
GegenĂŒber der Saison 2018/19, der letzten vor Corona, sei die Zahl der
Zuschauerinnen und Zuschauer um 86 Prozent zurĂŒckgegangen, teilte der
BĂŒhnenverein kĂŒrzlich mit. Insgesamt wurden 2,54 Millionen Theaterbesuche
gemeldet. Die Zahl der AuffĂŒhrungen sank um 70 Prozent auf rund 22.700.
Vielleicht hilft ein Blick in die Geschichte, vielleicht hilft auch ein
neuer, interessierter Blick nach Osten. Können vielleicht die Klassiker
noch was sagen, helfen Engagements aus der Ukraine? Das Theatertreffen der
Berliner Festspiele, das Best-of des deutschen Theaters, das alljÀhrlich
stattfindet, hat schon reagiert: Statt einer Leitung gibt es nun ein Team
von vieren: die Ukrainerin Olena Apchel, die beiden Polinnen Marta Hewelt
und Joanna Nuckowska sowie Carolin Hochleichter. Sie sollen
„grenzĂŒberschreitend, kollektiv und kreativ nach Wegen der nachhaltigen und
inklusiven Kunst-, Kultur- und Festivalproduktion suchen“.
Vielleicht helfen da auch russische Klassiker? Schaut man sich die
Programme der fĂŒhrenden HĂ€user so an, ist auf jeden Fall festzustellen: Die
Deutschen lieben Tschechow. Immer noch oder immer wieder? Maxim Gorki oder
Isaak Babel hingegen werden nicht so oft gespielt, von Daniil Charms gar
nicht erst zu sprechen.
Aber schauen wir einmal von Norden nach SĂŒden auf ein paar wichtige HĂ€user
und ein weniger bekanntes Haus – und womit dort aufgemacht wird. In Hamburg
wird es erst am Ende des Jahres östlich: Im Thalia findet die UrauffĂŒhrung
eines StĂŒcks „frei nach Nikolaj Gogol“ statt, nĂ€mlich „Der Wij“. Wer …
nicht weiß: „Der Wij“ ist eine fantastische ErzĂ€hlung des großen Russen,
die auch schon mehrfach verfilmt wurde. Es kommen vor: eine Menge Hexen,
DĂ€monen und Berggeister und gewiss auch die eine oder andere Anspielung auf
Putin, den Schrecklichen. Regie fĂŒhrt Kirill Serebrennikov. Die Saison
eröffnen wird Robert Wilson mit „H“ am 9. September; zwei Tage spĂ€ter
öffnet das „Hotel Savoy“ von Joseph Roth unter der Regie von Charlotte
Sprenger.
Im Hamburger Schauspielhaus gibt es zum Auftakt Shakespeare. Außerdem
Lilith Stangenberg mit Paul McCarthy in „A&E – Adam & Eva“ sowie
tatsĂ€chlich „Das Ereignis“ nach dem Buch von Annie Ernaux fĂŒr alle, die d…
Film noch nicht kennen. Annalisa Engheben versucht sich an einer
Theaterfassung, Premiere ist am 14. Oktober. Ebenfalls recht spÀt, aber der
russische Höhepunkt der Saison: Es wird Tschechow gegeben! „Der
Kirschgarten“, mit Texten von Dawn King, unter der Fuchtel von Katie
Mitchell. Notieren Sie den 26. November!
Im Westen streifen wir kurz das Bochumer Schauspielhaus, das ja auch schon
mal bessere Zeiten gesehen hat. Wird was von Wolfgang Welt gezeigt? Nein.
Irgendwelche Russen? Ja: „Kinder der Sonne“ von Gorki! Regie: Mateja
KoleĆŸnik. Datum: 7. Oktober (wann auch sonst!). Zitat: „Und jeden Tag von
Neuem muss Tee serviert werden, aufgerÀumt, gekocht, irgendetwas repariert.
Jeden Tag muss man springen, wenn nach einem gerufen wird.“ Da muss man
wohl hin.
Und, dazu passend, noch ein Zitat von der Webseite: „Ein Abend im
Schauspielhaus Bochum. WÀhrend die Pandemie weiter tobt, wÀhrend tÀglich
schlimmste Nachrichten vom Krieg in der Ukraine eintreffen, wÀhrend ein
Stockwerk tiefer die letzten Vorbereitungen fĂŒr die Vorstellung getroffen
werden, entwickelt sich zwischen Intendant Johan Simons und Chefdramaturg
Vasco Boenisch ein GesprĂ€ch ĂŒber prĂ€gende Themen der Zeit, persönliche
Ängste und WĂŒnsche und darĂŒber, was es bedeutet, jetzt Theater zu machen.“
Erste Antwort Simons’: „Mein Eindruck ist, dass wir als
Theatermacher*innen nicht mehr auf die Suche nach Themen gehen mĂŒssen,
sondern die Themen uns geradezu heimsuchen.“ DafĂŒr bietet Bochum diese
Saison ein reichliches, aber auch reichlich merkwĂŒrdiges Programm.
Im SĂŒden schauen wir dieses Jahr einmal nach Stuttgart, wo unter dem
Schenkelklopfermotto „Dramatische Zeiten“ ein Nachwuchswettbewerb gestartet
wurde, hauptsÀchlich, wie es sich gehört, digital. Auf
[1][www.minidrama.de] konnten Kinder und Jugendliche kurze Szenen hochladen
und die Texte von anderen kommentieren und bewerten. Am 15. September
werden die „interessantesten“ Minidramen vor Publikum prĂ€sentiert und
ausgezeichnet.
Und in der Hauptstadt? Weht da ein harter Wind, der rau und kalt von Osten
kommt? Die VolksbĂŒhne meldet in Bezug auf ihr Programm Stand Mitte August
noch nicht viel; im Berliner Ensemble muss man bis 2023 warten, ehe
„Iwanow“ nach Tschechow unter der Regie von Yana Ross die BĂŒhne betritt;
nÀmlich am 21. Januar 2023. Das Maxim Gorki Theater bietet tatsÀchlich null
Gorki, aber auch noch mal Tschechow: Am 1. Oktober unter der Regie von
Christian Weise kommt „Drei Schwestern“ zur AuffĂŒhrung. Unglaublich! Auch
hier ein Zitat aus dem Programm: „In der Gegenwart der spĂ€ten DDR traf
Tschechows berĂŒhmtes Drama den Nerv des Publikums.“ Warum also auch nicht
in der spÀten vereinten BRD?
Und die SchaubĂŒhne? Gibt sich ukrainisch Blau-Gelb und „Sich waffnend gegen
eine See von Plagen“ von Stas Zhyrkov, dem Theatermacher aus Kiew.
UrauffĂŒhrung am 10. September 2022. Aber: Auch hier kein Gorki, kein Babel,
kein Lermontow.
Das Deutsche Theater bietet immerhin noch einmal Tschechow an: „Platonow“,
in einer Fassung von Timofej Kuljabin und Roman Dolzhanskij, Regie: Timofej
Kuljabin. Mit dabei sind die verlÀsslich guten Katrin Wichmann und
Alexander Khuon. Premiere ist am 23. September. Endergebnis: Tschechow 5,
Gorki 1 (plus einmal Gogol. Tja.) Auch hier zum Abschluss noch ein Zitat
aus dem Programm zu „Platonow“: „Eine ultimative Komödie ĂŒber die
Zukunftslosen und Verlorenen, die noch einmal aufspielen zu einem letzten,
makaber melancholischen Tanz um das Verschwinden der Liebe, des Lebens und
vielleicht auch der Kultur.“ Ein treffenderes Schlusswort kann es kaum
geben.
27 Aug 2022
## LINKS
[1] https://minidrama.de/
## AUTOREN
René Hamann
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