# taz.de -- „Ich werde es kaum mehr schaffen, Laotisch zu lernen“ | |
> DER SCHRIFTSTELLER André Kubiczek hat mit „Der Genosse, die Prinzessin | |
> und ihr lieber Herr Sohn“ seinen fünften Roman geschrieben – den ersten, | |
> der autobiografisch ist. Ein Gespräch über laotische und ostdeutsche, | |
> glückliche und traurige Familiengeschichten, eine Kindheit in der DDR der | |
> frühen Siebziger, in der man ganz allein war, wenn man anders aussah als | |
> die anderen, und über das Ostberlin der Nachwendezeit | |
INTERVIEW SUSANNE MESSMER FOTOS DAGMAR MORATH | |
taz: Herr Kubiczek, Ihr jüngster Roman erzählt die Liebesgeschichte eines | |
Arbeitersohns und der Tochter des laotischen Botschafters, die in der DDR | |
der 70er Jahre eine Familie gründen. Er ist auch die Geschichte ihres | |
„lieben Sohns“, der fast am folgenschweren Unfall seines Bruders und dem | |
frühen Krebstod der Mutter zugrundegeht, als junger Mann versucht, sich von | |
all dem abzugrenzen, und doch viele Jahre später in Laos auf Spurensuche | |
geht. Welchen Teil dieser Geschichte haben Sie selbst so erlebt? | |
André Kubiczek: Ein großer Teil ist autobiografisch: Die | |
Familienverhältnisse sind meine. Meine Mutter war wirklich die „laotische | |
Prinzessin“, die ich beschreibe. Aber es ist auch viel Fiktionales | |
dazugekommen. Ich habe in Halle Abitur gemacht, weil ich in den auswärtigen | |
Dienst wollte. Nach der Wende habe ich in Leipzig begonnen zu studieren, | |
dann ging ich nach Bonn und kam erst 1994 nach Berlin. Das alles steht so | |
nicht im Buch. Aber ich brauchte diese Erzählung, diesen erfundenen Helden | |
im Berlin der Nachwendezeit. | |
Warum? | |
Ich hätte das Buch nicht anders schreiben können. Und bei aller Dramatik | |
hätte die Wirklichkeit meiner Familiengeschichte kein ganzes Buch | |
hergegeben. | |
Warum nicht? | |
Weil ich an die wirklichen Geschichten nicht gut rankomme. Die Hauptperson | |
– meine Mutter – ist tot und kann nicht mehr berichten. Und mein Vater | |
spricht nicht viel über seine Gefühle, er behält alles für sich. Eine | |
Sitzung mit ihm, die ja auch im Buch beschrieben ist, war mehr als genug. | |
Ich wollte ihn nicht noch mehr strapazieren. | |
Haben Sie das Gefühl, Ihrer Familiengeschichte nun nähergekommen zu sein? | |
Ich habe mich überhaupt zum ersten Mal mit ihr beschäftigt. Ich hatte das | |
immer verdrängt, weil es zu schlimm war. Erst jetzt habe ich gemerkt, dass | |
die Krankheit meines Bruders und die meiner Mutter alles verschattet haben, | |
was einmal schön gewesen ist. | |
Könnte man sagen, dass es in Ihrem Buch weniger darum geht, was mit Ihrer | |
Familie war, als darum, wie man mit so einem Trauma überlebt? | |
Das könnte man so sagen. Vieles vom dem, was ich schildere, habe ich als | |
Kind erlebt und wusste nicht, womit genau ich es zu tun hatte. Vieles will | |
man als Kind einfach nicht wissen. Und das wollte ich versuchen abzubilden. | |
Haben Sie sich mit dem Buch etwas von der Seele geschrieben? | |
Man darf das ja heute gar nicht mehr sagen, ohne sich damit lächerlich zu | |
machen. Aber es stimmt trotzdem: Indem man es aufschreibt, bannt und | |
fixiert, hat man es in gewisser Weise vom Tisch und kann sich danach besser | |
anderen Dingen widmen. | |
Sie hatten ein inniges Verhältnis zu Ihrer Mutter? | |
Wir waren eine klassische Familie der Siebziger. Kinder und Haushalt waren | |
Angelegenheit der Mutter, obwohl sie wie viele Frauen in der DDR auch | |
gearbeitet hat. Die Kinder waren damals meist näher an den Müttern. Die | |
Väter standen immer ein Stück weiter hinten und waren nur am Sonntag beim | |
Ausflug präsent. | |
Es gibt in Ihrem Buch eine Szene, in der Sie mit ihrer Mutter einen Tag am | |
Alexanderplatz verbringen, einkaufen und Eis essen gehen. Da scheint der | |
gesamte Ort mit purem Schmelz überzogen, es wirkt beinahe nostalgisch. | |
Das war aber auch toll da! Ich habe mit meiner Mutter wunderschöne Tage | |
dort verbummelt. Der Alexanderplatz war immer voller Leute – viele von | |
ihnen kamen aus der Provinz. Für die war es ein Riesenerlebnis, da | |
einkaufen zu gehen und die hauptstädtische Atmosphäre zu genießen. Die | |
Currywurst, die Mokka-Milcheis-Bar, den Palast der Republik … | |
Wie gefällt es Ihnen heute dort? | |
Es gibt immerhin noch den Brunnen der Völkerfreundschaft und die | |
Weltzeituhr, aber sonst ist architektonisch alles viel zu sehr verdichtet | |
worden. Dieses Gebäude, wo jetzt Saturn und Esprit drin sind, das verstellt | |
den Blick total. Die Weite ist im Eimer. Aber vielleicht kann sich der | |
Kapitalismus einfach auch so eine Weite nicht leisten. Genauso, wie | |
Neubaugebiete im Kapitalismus nicht funktionieren und automatisch zu | |
Ghettos werden. | |
Ihr Buch ist auch eine Spurensuche. Der Held geht nach Laos, um den Teil | |
seiner Familie wiederzufinden, der durch den Tod der Mutter verschüttet | |
wurde. | |
Meine Mutter hatte elf Geschwister. Und das wächst immer weiter, wie ein | |
Pilz. Eigentlich gut, oder? | |
Beneidenswert. | |
Die Familie in Laos war sehr offen im Vergleich zu der in Deutschland. Es | |
handelt sich um einen echten Clan, die Generationen treffen sich und | |
sprechen ständig miteinander. Es werden permanent ganze Restaurantsäle | |
angemietet, oder man trifft sich zu Hause und bringt einander etwas zu | |
essen mit. Ich war 2007 in Laos und habe da alle meine Verwandten gesehen, | |
die ich dreißig Jahre nicht getroffen hatte. Das war für mich der Anlass, | |
die gespaltene Persönlichkeit, die ich als Deutscher und Laote bin, zu | |
beschreiben – und was für positive Seiten das hat. Denn als ich dort | |
gelandet bin, war das für mich eine glückliche, fast utopische Wendung. | |
Warum kam diese Wurzelsuche so spät? | |
Es hätte viel früher keinen Sinn gemacht, sich damit zu befassen. Wenn es | |
vor 1989 eine reale Chance gegeben hätte, nach Laos zu kommen, wäre | |
vielleicht alles anders gekommen. Ich denke schon, dass meine Mutter auch | |
deshalb nie versucht hat, mir die Sprache beizubringen. Wir sind davon | |
ausgegangen, dass wir für immer im Ostblock festsitzen. | |
Und wie ist Ihr Verhältnis zu Ihrer laotischen Familie heute? | |
Der Kontakt ist wieder etwas eingeschlafen. Ich weiß auch nicht, wie sich | |
das jetzt weiterentwickelt. Nach der Reise habe ich mir Lehrbücher gekauft, | |
aber ich glaube, ich werde es kaum mehr schaffen, Laotisch zu lernen. Man | |
kann das ja fast nirgends lernen, und fürs Selbststudium bin ich zu alt und | |
undiszipliniert. Diese Aufgabe muss vielleicht meine Tochter übernehmen, | |
falls sie daran Interesse entwickeln sollte. Auf jeden Fall werde ich | |
irgendwann einmal mit ihr nach Laos fliegen und ihr diese ganze Familie | |
vorstellen. | |
Noch mal zur Kindheit im Roman: Sie beschreiben Ihre Sehnsucht, zu sein wie | |
alle anderen, in der Masse unterzugehen. | |
In den frühen Siebzigern war man in der DDR ganz allein, wenn man anders | |
aussah als die anderen. Die vietnamesischen und afrikanischen | |
Vertragsarbeiter, die trotz aller Abschottung im Stadtbild präsent waren, | |
kamen ja erst in den Achtzigern. | |
Wurden Sie diskriminiert? | |
Der tägliche Rassismus war damals gar nicht so schlimm, wie man sich das | |
heute vorstellt. Es hat mich als Kind natürlich genervt, wenn man tuschelte | |
oder ich als „Chinese“ bezeichnet wurde. Aber wirklich aggressiv wurde es | |
nie. Die Erwachsenen waren auf unbeholfene Art neugierig, und die Kinder | |
waren, wie Kinder nun mal sind. | |
Die Fremdenfeindlichkeit in der DDR kam also später? | |
Zum ersten Mal ist mir das Mitte der achtziger Jahre aufgefallen. Da war | |
ich viel in der Punk- und New-Wave-Szene unterwegs. | |
Ein interessanter Sprung: vom kleinen Jungen, der nicht auffallen will, zum | |
Waver. | |
Stimmt. In der DDR Waver zu sein, das war nicht so leicht. Man wurde ja in | |
der Schule darauf angesprochen, wenn man so rumlief. Vielleicht war es eine | |
Art Kompensation, dass ich Waver geworden bin. Wenn man schon nicht in der | |
Masse untergehen kann, dann möchte man wenigstens besonders grell | |
herausstechen. | |
Und als Waver sind Ihnen die ersten Nazis begegnet? | |
Viele Skinheads haben sich direkt von unserer Szene abgespalten, auch | |
explizite Nazi-Skinheads. Sie kamen im Prinzip aus dem gleichen | |
Diskotheken-Umfeld der Subkultur wie wir. Das war in Berlin ganz genauso. | |
Wie erklären Sie sich das? | |
Ich kann da nur die gängigen Erklärungen wiederkäuen. Es hängt wohl viel | |
mit dem staatlich verordneten Antifaschismus zusammen. Es war die extremste | |
Art der Opposition. | |
Gab es das damals schon: dass Rechtsradikale Rückhalt in den Dörfern | |
hatten? | |
Damals gab es noch keine Nazis in den Dörfern. Das hat alles in den Städten | |
angefangen und ist erst später in die Provinz durchgesickert. Außerdem: Die | |
Stasi hat die Neonazis sogar noch aggressiver bekämpft als die Punks. Nazis | |
haben das Image der DDR einfach noch mehr beschädigt. | |
Im Ostberlin der Nachwendezeit waren die ehemaligen Vertragsarbeiter aus | |
Vietnam sehr präsent, die versuchten, irgendwie in Deutschland zu bleiben. | |
Wie empfanden Sie die? | |
Ich wurde komischerweise nie für einen gehalten. Eher hielten sie mich für | |
irgend so einen Kanaken, den man nicht richtig einordnen kann – so, wie ich | |
in Laos hin und wieder für einen Südamerikaner gehalten werde. Obwohl: Ich | |
hätte es sogar ganz interessant gefunden, mal für einen Vietnamesen | |
gehalten zu werden. Wenn man mal so überlegt, wie es denen kurz nach der | |
Wende ergangen ist. Und was viele daraus gemacht haben. Die haben es echt | |
geschafft. Und ihre Kinder erst recht. Die sind besser in der Schule als | |
ihre deutschen Klassenkameraden. Das finde ich wirklich spannend. | |
Sie schreiben, der Prenzlauer Berg, in den Sie Ihren Romanhelden kurz nach | |
der Wende versetzen, sei heute völlig unbewohnbar geworden. Im wirklichen | |
Leben wohnen Sie noch hier. | |
Ja, ich wohne noch hier. Aber es wohnen auch noch viel mehr Leute hier, die | |
bereits kurz nach der Wende kamen. Ich glaube, die Leute sind gar nicht so | |
reich, wie es aussieht. Viele Medienleute in diesem Bezirk leben in sehr | |
prekären Verhältnissen. Neulich habe ich irgendwo gelesen, dass die | |
Bewohner von Prenzlauer Berg viel mehr von ihrem Einkommen für Miete | |
ausgeben als die in anderen Bezirken. Das alles ist hier sehr teuer | |
erkauft. | |
Würden Sie gern wegziehen? | |
Das geht leider aus privaten Gründen nicht. Aber ich gucke mir manchmal mit | |
Google Maps den Stadtrand in Marzahn an. Da ist es eigentlich ganz schön. | |
Da gibt es Straßen, wo auf der anderen Seite Felder und Wälder beginnen und | |
Bäche fließen. | |
Was halten Sie davon, dass alle Welt über die Mütter von Prenzlauer Berg | |
schimpft? | |
Das finde ich sehr lustig. | |
Aber Sie sind doch selber Vater! | |
Dass die Eltern hier so sind, wie sie sind, das liegt, glaube ich, auch | |
daran: Wir gehen zu viel mit unseren Kindern gemeinsam raus und | |
beaufsichtigen sie zu sehr. Früher sind die Kinder in riesigen Banden durch | |
die Stadt gezogen, auch in Berlin, auch in Prenzlauer Berg. Das geht ja | |
jetzt allein deshalb nicht mehr, weil die Brachen, die Hinterhöfe, wo man | |
so herrlich im Müll spielen könnte, dass das alles zugebaut worden ist. Das | |
macht die Stadt total eng. Unangenehm, wie ich finde. Die Eltern können gar | |
nicht anders, als sich zu wichtig zu nehmen und zu ängstlich zu sein. Zu | |
wenig Fürsorge ist nicht gut. Zu viel Fürsorge ist penetrant. Aber es | |
stimmt: Ich mache es im Grunde auch nicht anders als die anderen. | |
Sie sind auch kein junger Vater mehr, oder? | |
Ja, es hat auch was mit dem Alter zu tun. Mit Anfang vierzig lässt der | |
Optimismus nach. Man wittert überall Gefahr und Möglichkeiten zu stolpern, | |
und das schlägt sich auch auf die Kindererziehung nieder. | |
Empfinden Sie Ihr Leben als Autor ebenfalls als prekär? | |
Ich habe mich dafür entschieden, weil ich gar nicht mehr die Chance habe, | |
etwas anderes zu machen. Es gibt keine Jobs mehr für Leute wie mich, für | |
Leute in meinem Alter mit Biografien wie meiner. Die Wahlmöglichkeiten | |
werden weniger. | |
Das klingt ganz schön pessimistisch. | |
Ja. Andererseits habe ich kürzlich gelesen, dass sich heute sehr viele | |
Zwanzigjährige große Sorgen um ihre Rente machen. Da weiß ich dann auch | |
nicht mehr, ob die noch richtig ticken. Aber vielleicht war die Umfrage | |
auch nur ein neuer Werbegag der Versicherungsindustrie. | |
11 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
SUSANNE MESSMER | |
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