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# taz.de -- „Für Märkte ist Demokratie komfortabel“
> DEMOKRATIE 10 Der Soziologe Colin Crouch über das komplizierte Verhältnis
> von Kapitalismus und Bürgermacht
INTERVIEW TANIA MARTINI UND STEFAN REINECKE
taz: Mr. Crouch, erleben wir derzeit das Ende der Ära des demokratischen
Kapitalismus?
Colin Crouch: Nein. Die Demokratie wird schwächer, der Kapitalismus wird in
der Ära der Finanzindustrie stärker. Aber die Kombination von Demokratie
und Kapitalismus wird bleiben. Denn die Akteure der Finanzmärkte haben kein
Interesse daran, dass die Demokratien sich auflösen. Es gab in der jüngeren
Geschichte des Kapitalismus Ausnahmen wie das Pinochet-Regime. Aber in der
Regel schätzen es die Mächtigen, wenn Gesetze eingehalten werden.
Kapitalismus braucht also Demokratie?
Ja, normalerweise. Es ist interessant, dass die so genannten
Technokraten-Regierungen in Italien und Griechenland, die durch die
Finanzkrise ins Amt kamen, die Selbstzerstörung der Demokratie eher
gestoppt haben. Die Herrschaft der politischen Klasse in Griechenland, die
die Medien kontrolliert und keine Steuern zahlt, ist ins Schwanken geraten
– wobei man die Entwicklung nach der letzten Wahl erst abwarten muss. Auch
in Italien ist mit Berlusconi, der die Macht massiv missbraucht, ja nicht
die Demokratie untergegangen.
Aber Rom und Athen zeigen auch etwas ganz anderes: Ministerpräsident Mario
Monti arbeitete zuvor für die Investmentbank Goldman Sachs. EZB-Chef Mario
Draghi war Leiter der Europa-Abteilung von Goldman Sachs, in den USA waren
die Finanzminister, die den Finanzsektor deregulierten, zuvor bei Goldman
Sachs. Zeigt diese personelle Verwebung nicht, dass die Finanzindustrie die
demokratischen Institutionen gekapert hat?
Oh, ja. Aber es zeigt auch, dass die Finanzindustrie die Demokratie als
Schutz schätzt. Es gibt auch global weniger Diktaturen als früher. Die
Haltung der USA gegenüber Diktaturen in Lateinamerika und im Nahen Osten
hat sich verändert. Früher haben die USA demokratische Bewegungen rabiat
unterdrückt – irgendwann haben sie, beschleunigt seit dem Zusammenbruch der
Sowjetunion, verstanden, dass Demokratien mehr Stabilität bringen als
Diktaturen.
Dann ist ja alles gut.
Nein, durchaus nicht. In den jetzigen Demokratien dürfen die Bürger wählen,
aber was sie damit beeinflussen können, ist begrenzt. Die Politiker, die
sie wählen, dürfen die Finanzmärkte nicht zu arg verärgern, sonst droht
eine schlimme Krise. Im Grunde akzeptieren Bürger und Politiker bis jetzt
diese Spielregel. Und deshalb ist Demokratie für Finanzmarktakteure eine
komfortable Sache. Es gibt keine Unruhen, keinen Militärputsch. Das ist
doch angenehm.
Das ist eine Schrumpfform von Demokratie. Ist die Aushöhlung der Demokratie
durch den Finanzkapitalismus eigentlich neu? Oder gehört der Angriff auf
die Demokratie seit jeher zum Kapitalismus?
Es gab verschiedene Perioden – und von Beginn an ein paradoxes Verhältnis
zwischen Demokratie und Kapitalismus. Einerseits hat der
Industriekapitalismus jene Reformen ermöglicht, die zur Demokratie gehören.
Andererseits haben Kapitalbesitzer seit jeher zu viel Demokratie
gefürchtet. Wir müssen uns vor Augen halten, dass die Demokratieform, von
der wir gerade reden, in Nordwesteuropa seit 1945 existiert, in den USA
etwas länger. Wir neigen dazu, uns als Regelfall zu verstehen. Aber
welthistorisch geht es um eine überschaubare Region in einem begrenzten
Zeitraum. Nach dem Sieg über den Nationalsozialismus begriffen die Eliten,
dass Demokratie eine gute Sache war. Das US-Modell zeigte zudem, dass
Demokratie günstigerweise auch mit sehr viel Ungleichheit zu haben war. In
dieser Phase dominierten Kapitalgruppen, die sich selbst als nationale
Akteure begriffen und deren Profit wiederum von einem florierenden
Massenkonsum abhängig war. Das Ergebnis war ein Klassenkompromiss: Die
Arbeiter bekamen mehr Rechte, das System war stabil, der Sozialstaat wurde
ausgebaut, die Gewinne sprudelten. Alle waren zufrieden.
Und dann?
Dann hat sich das Kapital internationalisiert und national entbettet. Der
Chef von General Motors hat 1956 gesagt: Was gut ist für General Motors,
ist gut für die USA. Ein berühmter Satz. Weniger bekannt ist, was der Boss
von Volvo in den 80er-Jahre gesagt hat: Schweden braucht Volvo, aber Volvo
braucht Schweden nicht. Das zeigt den Sprung von dem eingebetteten,
korporatistischen Kapitalismus zu dem globalisierten System. Der
deregulierte, virtuelle Finanzkapitalismus ist dessen verschärfte Form.
Idealisieren Sie im Rückblick nicht die fordistische Phase? Auch der
Wohlfahrtsstaat war ein Klassenkompromiss, keine wahre Demokratie.
Es gibt in einer Demokratie immer nur Kompromisse. Demokratie besteht aus
Machtbalancen, der totale Sieg einer Gruppe ist in der Regel der Tod der
Demokratie. Das Paradebeispiel dafür ist der Religionskompromiss in den
Niederlanden im 19. Jahrhundert, als Katholiken, Säkulare und Protestanten
Frieden schlossen. Weil jede Gruppe wusste, wenn sie versuchen würde zu
siegen, würden sich alle anderen gegen sie verbünden.
Also halten Sie nichts von der Idee nichtrepräsentativer oder wahrer
Demokratie?
Was soll das sein? Ich denke nicht, dass es eine Mehrheit für die
Abschaffung des Kapitalismus gibt. Die marxistischen Konzepte, die wahren
Interessen der Bürger zu definieren und ihre konkreten Willensäußerungen zu
ignorieren, sind gescheitert. Kapitalismus gehört in all seinen
Verästelungen zu dieser Gesellschaft.
Die Schlüsselfrage ist: Hat Politik die Möglichkeit, den Märkten Regeln zu
setzen, die deren Macht entscheidend beeinträchtigt? Oder haben wir es mit
der „marktkonformen Demokratie“ zu tun, von der Angela Merkel redet?
Wir haben marktkonforme Demokratien, und es ist schwer zu sagen, ob sie
stabil sein können. Wir sehen, dass die Regierungen in den USA und
Großbritannien, die die Deregulierung der Finanzmärkte vorangetrieben
haben, langsam begreifen, dass sie den Bürgern nicht noch mehr zumuten
können. Das ist das optimistische Szenario: Die Politik versteht, dass sie
dem Begehren der Bürger nach mehr sozialer Absicherung Rechnung tragen
muss. Das Problem ist: Wenn die Regierung den Sozialstaat renoviert, die
Steuern erhöht, beginnt die Kapitalflucht. Das Einzige, was dagegen hilft,
sind internationale Abkommen. Das Kapital agiert längst und in enormer
Geschwindigkeit transnational, die Politik muss das auch tun. Das ist enorm
kompliziert und komplex – gerade wenn man den halsstarrigen Widerstand
gegen internationale Regulierungen in Großbritannien anschaut.
Und was ist das pessimistische Szenario?
Die Protestbewegungen gegen den Finanzmarktkapitalismus sind zu flüchtig,
die nationalstaatlichen Egoismen zu stark. Die Flexibilisierung der
Arbeitsmärkte geht weiter, die Chance für kollektives Handeln schwindet.
Und woran glauben Sie?
Ich weiß es nicht. Es kann noch viel mehr sozialen Zerfall geben, so wie in
Griechenland. Die Märkte und ihre Agenten werden versuchen den Bürgern so
viel an sozialstaatlichen Leistungen und sozialen Sicherheiten zu nehmen,
wie es geht. Und das beschädigt das demokratische System: Es gibt mehr
Nichtwähler, mehr Protestwähler, was wiederum die Legitimität der
Regierungen schwächt. Das kann ein Kreislauf werden, der schneller wird.
Dann droht der Zerfall des demokratischen Systems?
Ja, die Gefahr gibt es wirklich. Aber man muss das ganze Bild der
Demokratie sehen, nicht nur Parteien und Staat. Wir erleben seit Jahren den
Abstieg der großen Parteien – aber auch den Aufstieg von Bürgerinitiativen,
NGOs und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die weder zum Markt noch
zum Staat gehören. War es denn wirklich so viel besser, als die
Großorgansationen in den 70er Jahren alles unter ihren Fittichen hatten und
meinten alle Probleme lösen zu können? Ich glaube, die Individuen haben im
Kapitalismus des 21. Jahrhunderts ein kompliziertes, aber auch ein reiches
Leben – sie haben nicht eine, sondern viele Identitäten. Die Fragmentierung
und soziale Zerklüftung hat auch positive Seiten. Die Individuen sind
anders geworden, wählerischer, komplizierter, facettenreicher. Deshalb wäre
es für die Sozialdemokratie oder linke Politik auch ein furchtbarer Irrtum
zu glauben: Lasst uns in die 70er Jahre zurückkehren – dann wird alles gut.
Aber die Bürger wollen und brauchen soziale Sicherheiten.
Ja, natürlich. Aber einen Sozialstaat, der nicht Vorschriften macht, was
für sie gut ist, sondern Hilfen gibt, damit sie selbst wählen können. Der
Sozialstaat wird dadurch übrigens nicht billiger – im Gegenteil.
23 Jun 2012
## AUTOREN
TANIA MARTINI / STEFAN REINECKE
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