# taz.de -- Vollgas statt Tempolimit | |
> Die Ampelkoalition braucht eine ganz neue Klimapolitik. Sie muss | |
> Chefsache mit Vetomacht sein – und sehr detailliert | |
Von Bernhard Pötter | |
Eines der zentralen Probleme der deutschen Klimapolitik ließ sich am | |
Dienstag dieser Woche kurz vor Mitternacht im ZDF begutachten. In der | |
Talkshow von Markus Lanz saß rund um den grünen Co-Chef Robert Habeck eine | |
qualifizierte Runde aus Politik und Journalismus, um gepflegt über die | |
Ampelverhandlungen zu diskutieren. Aber sobald es um Klimaschutz ging, | |
konzentrierten sich die Fragen des Moderators auf Nebensächlichkeiten: | |
Fleisch essen. Inlandsflüge. Und immer wieder: Tempolimit auf der Autobahn. | |
Das wird es nicht geben. Die Grünen haben in den Sondierungen der FDP | |
nachgegeben. Tempo 130 wäre vernünftig und wünschenswert. Deutschland würde | |
damit endlich in den Kreis der verkehrspolitisch zivilisierten Länder | |
aufsteigen. Und doch ist das grüne Nachgeben ein kluger strategischer Zug. | |
Denn mit ihm wird eine ideologisch verzerrte Scheindebatte beendet: | |
Verbotspartei gegen „Freie Fahrt für freie Bürger“. Tempo 130 würde auf … | |
Autobahnen Leben retten, auf jeden Fall. Aber eine Maßnahme, die im besten | |
Fall zwei von 800 Millionen Tonnen CO2 einspart, ist kein Lackmustest für | |
gute oder schlechte Klimapolitik. | |
Genau so aber schien es bei Lanz. So wogte der Vorwurf „Verrat“ hin und | |
her, alte und neue grüne Versprechen wurden hervorgekramt. Die Debatte | |
bildete damit das tiefergelegte Niveau des Wahlkampfs beim Thema | |
Klimaschutz ab: kleingekocht auf empörungsgerechte Häppchen und den | |
FDP-Vorwurf an die Grünen, eine „Bullerbü“-Idylle mit Lastenrädern zu | |
propagieren. | |
Aus dieser Debatte auf Vorschulniveau müssen die VerhandlerInnen, die die | |
nächste Regierung des mächtigsten EU-Staates bilden wollen, schnell | |
aussteigen. Und Kompromisse bei den wirklich wichtigen Fragen finden, um | |
der gigantischen Herausforderung zu begegnen, die ein klimaneutrales | |
Deutschland in nur noch 24 Jahren bedeutet. Im Sondierungspapier haben SPD | |
(Mindestlohn, Rente) und FDP (Schwarze Null, keine Steuererhöhungen) ihre | |
Pflöcke eingeschlagen. Die Klimaschutzideen der Grünen (Solardächer, | |
Kohleausstieg) klingen wolkiger mit „sollen“ und „wollen“. Das ist zum … | |
den komplexen Themen geschuldet, zum Teil aber wohl auch einem | |
„Klimakanzler“ in spe Olaf Scholz, der klare Aussagen zu dem Thema scheut. | |
Genau die muss es aber in einem Koalitionsvertrag geben, wenn die Ampel | |
irgendwie Ernst machen will mit dem großen Versprechen, dieses Land | |
klimaneutral neu aufzustellen. Im Schlafwagen kommt man nicht zur „grünen | |
Null“. Dafür müssen die VerhandlerInnen an vielen kleinen Rädchen im | |
Maschinenraum der deutschen und europäischen Volkswirtschaft drehen. | |
Diese Liste ist lang und längst nicht abgeschlossen. Erste Erkenntnis: Es | |
gibt keinen Masterplan, der jetzt schon für alle Probleme und Widerstände | |
eine Lösung hat. Aber eine Strategie muss klare Leitplanken bieten, worauf | |
sich BürgerInnen und Unternehmen langfristig einzustellen haben. | |
Zum Beispiel – auf einen steigenden CO2-Preis im nationalen | |
Emissionshandel. Dieses zentrale Thema wurde absurderweise im Wahlkampf | |
ebenso ausgeklammert wie im Sondierungspapier der Ampel. Dabei ist klar: | |
Die Preise müssen steigen, um die höheren Klimaziele zu erreichen, wie es | |
die grüne Kandidatin Annalena Baerbock schon im Frühjahr gefordert hat – | |
und dafür von Olaf Scholz als unsozial hingestellt wurde. Jetzt muss die | |
Ampel – mitten in einer Debatte um steigende Energiepreise – hier Klarheit | |
schaffen oder andere Maßnahmen wie Verbote finden, um die CO2-Einsparungen | |
zu schaffen. Gar nicht so einfach, Baerbock nachträglich recht zu geben, | |
ohne Scholz nachträglich bloßzustellen. | |
Fast noch wichtiger ist es, einen praktikablen Weg zu finden, diese | |
Einnahmen transparent an die BürgerInnen zurückzugeben – und Klimaschutz | |
damit sozial gerecht zu machen. Denn vor allem die ärmere Bevölkerung, die | |
weniger heizt, konsumiert und Auto fährt als die Reichen, muss trotz | |
höherer Preise entlastet werden. Das ist technisch und datenschutzrechtlich | |
nicht einfach, aber machbar. Und es zahlt sich für alle aus: Denn ein | |
jährlicher Scheck zu Weihnachten über 50 bis 70 Euro pro Kopf ist eine viel | |
bessere Werbung für die Energiewende als die Senkung der Strompreise, die | |
niemand wirklich bemerkt. Vor einer Woche wurde zum Beispiel die EEG-Umlage | |
auf den Strompreis fast halbiert. Jubelschreie der VerbraucherInnen waren | |
nicht zu hören. | |
Der zentrale Punkt ist der Ausbau der erneuerbaren Energien. Ihn wollen | |
alle, aber der Teufel steckt im Detail. Die neue Koalition muss Flächen | |
bereitstellen und Kommunen besser finanziell beteiligen, Verfahren | |
beschleunigen, aber ohne kurzen Prozess mit berechtigten Ängsten und | |
Artenschutz zu machen. Viele Konzepte für diese kleinen, aber | |
entscheidenden Veränderungen liegen in den Schubladen, etwa der „Stiftung | |
Klimaneutralität“ des grünen Ex-Staatssekretärs Rainer Baake. Man muss aber | |
den Mut haben, sie rauszuholen. | |
Was bislang völlig fehlt, ist der Blick nach Brüssel. Effektiver | |
Klimaschutz muss klare Vorstellungen für die Zukunft des | |
EU-Emissionshandels entwickeln und die EU-Kommission beim Klimaschutzpaket | |
„Fit for 55“ unterstützen. Dieser Umweg über Brüssel wird zu Hause vieles | |
erleichtern. Anders als viele glauben, entscheidet sich weder der | |
Kohleausstieg „idealerweise bis 2030“ noch das Aus für den | |
Verbrennungsmotor 2035 in Berlin. Diese Entscheidung geben EU-Regeln für | |
den Emissionshandel und die Flottengrenzwerte für CO2 vor. | |
Zu Hause wiederum hat eine rot-grün-gelbe Koalition eine große Chance: | |
Klimapolitik als Sozialthema zu definieren. Höhere CO2-Kosten müssen in | |
Zukunft zwischen Mieter und Vermieter gerecht geteilt werden, ein | |
Energiegeld und Hilfen zum Energiesparen greifen den Ärmeren unter die | |
Arme. Dazu muss eine große Anstrengung kommen, um HandwerkerInnen zu finden | |
und auszubilden, die Gebäude dämmen und nachhaltige Heizungen bauen. Ein | |
besseres Programm für all die Schlagworte wie Beschäftigung, Wachstum, | |
Mittelstandsförderung und Innovation werden SPD, FDP und Grüne kaum finden. | |
Schon das würde für die nächsten vier Jahre ausreichen. Es gibt aber noch | |
einen richtig dicken Brocken – den klimaneutralen Umbau der deutschen | |
Industrie. Nach Jahrzehnten des Zögerns und Bremsens sind nun auch weite | |
Teile der wichtigen Auto-, Chemie-, Stahl-, und Zementindustrie ganz | |
begeistert von neuen CO2-armen Techniken und Märkten. Der Bundesverband der | |
deutschen Industrie BDI hat gerade in einer Studie klargemacht, dass und | |
wie er den Pfad zur Klimaneutralität gehen will. Hier müssen die | |
Koalitionäre darauf achten, die richtigen Projekte wie grünen Wasserstoff | |
schnell zur Marktreife zu bringen. Sie müssen aber auch klarmachen, was | |
teure Irrwege sind – etwa der im Positionspapier erwähnte Verbrennungsmotor | |
für synthetische Kraftstoffe, eine Spielwiese für superreiche | |
Porschefahrer. Neue fossile Anlagen dürfen nicht mehr in Betrieb gehen (was | |
inzwischen selbst der BDI so sieht). Dafür muss Sterbehilfe für alte | |
Anlagen organisiert werden. Diesen Prozess muss die Politik ausreichend | |
fördern, ohne die Industrie allzu üppig mit Steuergeld zu alimentieren, wie | |
es lange beim Emissionshandel der Fall war. | |
Wird Ihnen schon ganz schwindelig angesichts dieser Herausforderungen? Es | |
kommt noch mehr: Die Ampel muss sich auch darauf vorbereiten, mit | |
absehbaren klimapolitischen Niederlagen umzugehen. Sobald eine Regierung | |
steht, gilt der Verweis auf die Versäumnisse der Vorgängerregierung – so | |
gerechtfertigt er ist – als Ausrede. Schon jetzt ist klar, dass in den | |
nächsten Jahren viele Vorgaben des Klimaschutzgesetzes etwa bei Verkehr und | |
Gebäuden gerissen werden. Was dann? Das Gesetz ist da unklar. Also müssen | |
die Koalitionäre Maßnahmen finden, die mittelfristig Emissionen senken, | |
auch wenn jährlich die Obergrenzen überschritten werden. Also muss etwa die | |
Kohleverbrennung noch schneller reduziert werden, um Versäumnisse beim | |
Verkehr auszugleichen. Und etwa der Bundesverkehrswegeplan oder die | |
Gebäudeplanung, die bisher Dutzende Milliarden in Beton und Benzin | |
investieren, müssen so umgebaut werden, dass sie dem gesetzlichen Ziel der | |
Klimaneutralität bis 2045 entsprechen. Das wäre doch mal eine schöne | |
Aufgabe für eine Enquetekommission des Bundestags. | |
Dagegen ist die bange Frage „Wer soll das alles bezahlen?“ vergleichsweise | |
einfach zu beantworten. Die Suche nach den 25 bis 50 Milliarden Euro, die | |
der Staat jährlich für die Transformation aufbringen muss, ist kreativ | |
lösbar. Die 50 Milliarden Euro, mit denen jährlich Flugbenzin, Diesel oder | |
Dienstwagen umweltschädlich subventioniert werden, bieten sich an. | |
Entscheidend wird allerdings, wie sich die Koalition grundsätzlich zur | |
Klimapolitik aufstellt. Scheinbar logisch ist die Aufgabenteilung, die der | |
klassischen Definition von „Nachhaltigkeit“ entspricht: das Soziale (SPD im | |
Kanzleramt) mit dem Ökonomischen (FDP bei Finanzen) und dem Ökologischen | |
(Grüne beim Klima/Umwelt) zu versöhnen. Aber das ist das Denken von | |
gestern. Der Weg zu einem klimaneutralen Deutschland wird nur als Anliegen | |
der gesamten Koalition funktionieren. Bisher ist davon allerdings noch | |
nicht viel zu sehen. Olaf Scholz hat zwar im Wahlkampf versprochen, als | |
„Kanzler für Klimaschutz“ das Thema als „Chefsache im Kanzleramt“ | |
voranzutreiben. Aber das klingt eher wie eine Drohung, wenn man seine | |
bisherige Klimabilanz betrachtet. | |
Also braucht es wohl doch ein Superministerium für Klima und | |
Transformation, das ähnlich wie Kanzler und Finanzminister mit einem | |
Vetorecht drohen kann. Dann müssten die Grünen von dort den gesamten | |
Regierungsapparat auf Klimaschutz verpflichten können, um die | |
entscheidenden Weichen für die nächsten zehn Jahre zu stellen. | |
Logisch wäre das. Einfach ist es nicht, weil Scholz nicht noch eine zweite | |
NebenkanzlerIn akzeptieren will, der oder die ihm in vier Jahren das Amt | |
streitig macht. Aber die Lösung dieses Dilemmas ist nur der letzte Knoten, | |
den die Koalitionäre in den nächsten Wochen entwirren müssen. Die Aufgabe | |
ist gewaltig, die Zeit drängt. Da braucht es kein Tempolimit, sondern | |
Vollgas. Selbstverständlich aus einem Elektromotor mit Grünstrom. | |
23 Oct 2021 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Pötter | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |