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# taz.de -- nord🐾thema: Vom Turme hoch, da kommt er her
> Eigentlich ist Lübecks Petrikirche längst Experimentierraum geworden. Zum
> Weihnachtsmarkt kommt aber ganz traditionell der Nikolaus vom Dach
> geschwebt
Bild: Ein bisschen Sentimentalität zu Weihnachten muss sein: Sterntaler über …
Von Petra Schellen
Sieht ganz harmlos aus, der Turm von St. Petri. Sollte man gar nicht
meinen, dass da so ein Prominenter wie der Nikolaus angeschwebt kommen kann
zur alljährlichen Eröffnung des Weihnachtsmarkts, klammheimlich und im
Dunkeln.
Na ja, nicht ganz so heimlich, aber den hoch oben geparkten
Rentierschlitten versteckt er jedenfalls. Ist ja auch klar, es war ja schon
dämmrig, als kürzlich der Nikolaus – im echten Leben ein Kletterer des
örtlichen Alpenvereins – unter großem Hallo vom Turm der Lübecker
Innenstadtkirche kletterte.
Unten hat er Süßigkeiten verteilt und das Volk alsdann in den
Weihnachtsmarkt im Kirchenraum geleitet. Ein pompöser Auftakt ist das immer
für den hochkarätigen Kunsthandwerkermarkt in Lübeck, das sich seit ein
paar Jahren „Weihnachtsstadt“ nennt mit seinen vielen Märkten. Und
natürlich ist der Markt im Heilig-Geist-Hospital der berühmteste und
gemütlichste.
Aber er ist auch der drängeligste, und wer das nicht mag und trotzdem gutes
Kunsthandwerk sehen will, ist in St. Petri gut aufgehoben. Diese rund 800
Jahre alte gotische Kirche ist seit dem britischen Bombardement während des
Zweiten Weltkriegs 1942 – der Antwort auf die Zerstörung Coventrys durch
Deutschlands Wehrmacht – innen fast kahl. Denn als es an den Wiederaufbau
ging, gefiel keiner der eingereichten Entwürfe, und man erhob den
Minimalismus zum Konzept. Außerdem wurde die einstige Gemeinde der nahen
Marienkirche zugeschlagen. Wer hätte also zum Gottesdienst kommen sollen in
Lübecks kirchengesättigter Innenstadt.
Kurz und gut, man hat einen – nur noch gelinde religiös aufgeladenen – „…
für alle“ daraus gemacht. Zwar wurde die Petrikirche nicht entwidmet, es
gibt einen Pastor, und auch das Wort „Gott“ darf noch fallen. Aber Pastor
Bernd Schwarze hat ein Kuratorium neben sich, und gemeinsam entscheiden sie
über Kunst-, Theater- und Musikereignisse, auch über Vorträge und
Diskussionsabende mit Literaten und Wissenschaftlern, die aber immer auch
religiöse Fragen berühren.
Und problematisieren, denn „wie will man heute noch vermitteln, dass Gott
ernsthaft seinen Sohn Jesus geopfert habe?“ fragt der Pastor. „Da muss man
mit der Zeit gehen, und schon Luther hat gesagt, die Kirche sei eine
ständig zu reformierende.“
Dafür ist der lichte, kahle Raum der Petrikirche gut geeignet. Eine Tabula
rasa im Wortsinn ist das, ein von religiösen Implikationen weitgehend
unbelasteter Raum, in dem spirituelle Fragen hin- und hergewendet werden
können. Gern auch mit Ritualen, die nicht – das wäre zu viel Kirchensprech
und würde die Atheisten vergraulen – „Liturgie“, wohl aber „Inszenieru…
heißen dürfen. Und wenn er die samstäglichen 23-Uhr-“Petrivisionen“ als
„Nachtgottesdienst“ bezeichnete, wären die vielleicht auch nicht so gut
besucht, glaubt Pastor Schwarze. So ein Begriff schüfe eine viel zu hohe
Hemmschwelle.
Andererseits solle St. Petri keineswegs „Lübecks schickste Eventbude“ sein,
in der Konzerte und beliebige Partys liefen. Da soll schon noch ein Bibel-
oder Gottesbezug sein, auch den Altar will er in gewissem Rahmen geehrt
wissen. „Wenn ihn eine Tänzerin im Zuge einer plausiblen Inszenierung
betritt, ist das für mich in Ordnung“, sagt Schwarze. „Wenn aber
Instrumentalisten ihre Verstärkerboxen und Butterbrotpapiere drauflegen,
frage ich sie schon, ob sie das eigentlich in Ordnung finden.“ Crossmedial
und anregend sei, was er veranstaltet, sagt er. „Da kann an einem Abend auf
einen gregorianischen Chor durchaus eine Heavy-Metal-Band folgen.“
Dass das nicht alle gut finden, versteht sich, und während der Ausstellung
des umstrittenen Performers und Künstlers Jonathan Meese hat es in Lübeck
mächtig Debatten gegeben. Aber auch so bleibt man im Gespräch, zeigt
Präsenz, befördert und befeuert den Dialog über Sinn und Grenzen von
Religion und Kunst. Ein bisschen widerständig darf man sein.
Das will der vor 21 Jahren mit wenigen Buden gestartete Weihnachtsmarkt nun
gar nicht. Der will nur Raum zum Schauen und Schlendern in Café und
Kirchenschiff bieten, bestückt mit insgesamt 80 internationalen
Ausstellern, von denen einige zu Beginn, einige zum Ausstellerwechsel am
7./8. Dezember ihre Künste zeigen. Am 18. Dezember ist Schluss, weil der
Raum für die Gottesdienste am 22. und 23. Dezember vorbereitet werden muss.
Letzterer ist besagte „Petrivision“ und beginnt, wie üblich, um 23 Uhr; man
feiert also in den Heiligabend hinein, überlässt die klassischen
Weihnachtsgottesdienste aber den anderen Kirchen. Erst am 27. Dezember
tritt St. Petri wieder in Erscheinung, mit einem großen, von einer Stiftung
finanzierten Weihnachtsessen mit kleinen Geschenken für Obdachlose,
Arbeitslose sowie, inzwischen, immer mehr Rentner.
Das sei, sagt Pastor Schwarze, eine gute Tradition, denn auch wenn es in
St. Petri seit vielen Jahren – abgesehen von einzelnen Taufen, Hochzeiten
und Trauerfeiern – keine regulären Sonntagsgottesdienste mehr gibt: „Wir
wollen ein Ort für alle sein.“ Und Gottesdienste, sagt Pastor Schwarze,
böten die anderen Lübecker Kirchen in Hülle und Fülle. Und weil viele
Menschen die alten Rituale brauchten, werde das noch eine ganze Weile so
sein. „Aber wir in St. Petri verstehen uns als Experimentier-Ort und wollen
Formate für die Zukunft ausprobieren, an denen sich andere vielleicht
orientieren können.“
Weihnachtsmarkt in St. Petri, Lübeck: täglich 10–19 Uhr, bis 18. 12.
Eintritt 3 Euro
7 Dec 2019
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