# taz.de -- RuheinsLebenbekommen | |
> Wenn ein Mensch an Krebs stirbt, ist das Weiterleben für die Angehörigen | |
> oft sehr belastend. Martina und Pauline Ackermann erzählen, wie sie mit | |
> dem Tod des Ehemanns und Ziehvaters umgehen | |
Bild: Martina Ackermann und ihre Tochter Pauline vor ihrem ehemaligen Zuhause i… | |
Von Heike Haarhoff | |
Neulich rief ein guter Freund an, sie hatten sich länger nicht gesehen, er | |
klang besorgt. Ob es ihr gut gehe, fragte er vorsichtig. „Ja, klar, | |
wieso?“, antwortete Martina Ackermann, unbekümmert und fröhlich, vielleicht | |
ein wenig erstaunt. Weil er am Grab gewesen sei, sagte der Freund. Weil er | |
gesehen habe, wie es dort aussehe. Es schien ihm unangenehm zu sein, | |
darüber zu sprechen. Er machte eine Pause. Aber die wäre gar nicht nötig | |
gewesen. Martina Ackermann begriff auch so: Das Grab ihres verstorbenen | |
Ehemanns sah vermutlich ein wenig wilder aus als gewöhnlich, und das konnte | |
der Freund sich offenbar nur so erklären, dass es ihr selbst sehr schlecht | |
gehen müsse. Ansonsten hätte sie sich doch gekümmert, hätte aufgeräumt und | |
geschmückt. Hätte, wie sie es selbst manchmal sagt, „ihn hübsch gemacht“. | |
Wie in den vielen Jahren zuvor. | |
Oje, durchfuhr es sie. Sicher, sie hatte die Grabpflege ein wenig schleifen | |
lassen zuletzt, aber aus anderen Gründen. Die Zwillinge musste sie durchs | |
Abitur coachen, zuvor schon hatte sie ihren Job als Architektin in Berlin | |
auf Vollzeit aufgestockt, was sonst, wenn eine allein sich selbst und zwei | |
inzwischen erwachsene Menschen ernähren muss. Und dann ist da dieser Mann | |
in Süddeutschland. Acht Autostunden von ihr entfernt lebt er, er | |
beschäftigt sie sehr. Sie weiß selbst noch nicht, was genau daraus werden | |
wird, dafür ist es noch zu frisch, aber erst mal fühlt es sich gut an. Es | |
ist, als habe das Leben, dem sie stets mit Schwung begegnet war, bis es sie | |
vor bald zehn Jahren ausknockte und ihr alles nahm, ihre Liebe, ihre | |
Unbeschwertheit, ihre Zuversicht, es ist, als habe dieses Leben sich | |
plötzlich wieder an sie erinnert und meine es noch einmal gut mit ihr. Aber | |
wie dem Freund am Telefon auf die Schnelle erklären, dass ihr der Sinn | |
gerade nicht nach Unkrautjäten und Blätterfegen am Grab ihres verstorbenen | |
Ehemanns steht? | |
„Plötzlich kam ich in eine Rolle, wo ich mich selbst verteidigen sollte, | |
Motto: Nach nur fast zehn Jahren trauert sie nicht mehr? Ja, was ist das | |
denn?“ Martina Ackermann ringt – mit sich, mit der Erinnerung, mit dem | |
Schimmer in ihren Augen. Dann lacht sie leise, beinahe wie über sich | |
selbst: „Natürlich kriegst du da ein schlechtes Gewissen.“ Ihre Tochter | |
Pauline sieht sie an, sie sagt: „Ach, Mama.“ Die beiden Frauen, 51 und 20 | |
Jahre alt, haben lange überlegt, ob sie dieses Gespräch führen sollen. Ob | |
sie ihren Gefühlen, über die Jahre scheinbar gebändigt und doch | |
unberechenbar, ähnlich einer Löwin in Gefangenschaft, freien Lauf lassen | |
sollen. Und vor allem: ob sie, für andere nachlesbar, preisgeben wollen, | |
wie es ist und was davon auch zehn Jahre später noch bleibt, wenn das Leben | |
einer Familie aus den Fugen gerät. Weil einer von ihnen, der Ehemann und | |
Ziehvater Thorsten Ackermann, im Herbst 2007, da ist er gerade 45 Jahre alt | |
geworden, mit Blutungen und Bauchschmerzen zum Arzt geht, von einem | |
apfelsinengroßen Tumor im Darm erfährt und eineinhalb Jahre später stirbt. | |
Weggeht für immer, in einer Nacht an der Schwelle zum Frühling im März | |
2009. Seine Frau, Martina Ackermann, und seine Ziehkinder, die Zwillinge | |
Pauline und Oskar, damals kaum elf Jahre alt, zurücklässt. Und es sich für | |
diese anfühlt, als würde ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen. | |
„Ich möchte das Thema Tod und Trauer eigentlich nicht mehr haben, ich | |
möchte wieder glücklich sein, ich möchte, dass mein Leben auf die Zukunft | |
gerichtet ist“, sagt Martina Ackermann, sie klingt entschieden. Fast zehn | |
Jahre sind vergangen seit jener Nacht im März 2009, als der gefürchtete | |
Anruf kam aus der Klinik in Berlin, in der ihr Mann lag, und sie nur noch | |
„funktionierte, funktionierte, funktionierte“, wie sie sagt, die Kinder | |
weckte, die Oma herzukommen bat und dann mit gefühlt 150 Stundenkilometern | |
allein durch Berlin raste, als gehe es um das Leben, und das ging es ja | |
auch. Schließlich die Krankenhauspforte, die Ärztin, die sie wortlos in den | |
Arm nahm. Sie war zu spät gekommen, jahrelang hat sie sich das nicht | |
verziehen, er habe noch einmal gerufen, erfuhr sie später, seine Worte | |
hatte niemand verstanden, dann sei er friedlich eingeschlafen. | |
„Jeder“, sagt Pauline, „braucht da seine Zeit, aber ich denke, man muss | |
irgendwann zulassen, dass man abschließt und dann neue Menschen in sein | |
Leben lässt. Wenn ich sterbe, möchte ich auch nicht, dass die Menschen ewig | |
um mich trauern, sondern dass sie ihr Leben weiterleben.“ | |
Und jetzt sitzen die beiden Frauen doch an einem Tisch im Wohnzimmer einer | |
Freundin und ehemaligen Nachbarin und reden – über damals und über heute, | |
über das Bangen, das Hoffen, den Verlust, über das, was ihnen als | |
Angehörige eines todkranken Menschen gutgetan hat im Umgang mit Ärzten, | |
Behörden, Familie und Freunden und über das, worauf sie vielleicht lieber | |
verzichtet hätten; Mutter und Tochter, nur einen Steinwurf entfernt von | |
ihrem alten Leben: Das Haus im Berliner Norden, das Martina Ackermann und | |
ihr Mann Thorsten Ackermann einst für sich und die Kinder eingerichtet | |
hatten, liegt auf der anderen Straßenseite. Man braucht kein Fernglas, um | |
zu beobachten, mit welcher Selbstverständlichkeit sich die neuen Eigentümer | |
darin bewegen, so als habe es nie etwas anderes gegeben. Martina Ackermann | |
sagt: „Das Haus war ein Ding, das wir uns zu zweit angeschafft hatten, nur | |
für uns und die Kinder. Später gab das Haus uns Halt, über seinen Tod | |
hinaus. Sein Geist war noch da.“ | |
Sein Geist. Pauline und ihr Zwillingsbruder Oskar sind zweieinhalb, als | |
ihre Eltern sich trennen. In dem Berliner Mietshaus, in dem die Kinder | |
fortan mit ihrer Mutter leben, gibt es im oberen Stockwerk einen | |
alleinstehenden Mieter, Thorsten Ackermann, er vertreibt Sanitär- und | |
Heizungsanlagen. Nebenbei verrichtet er Hausverwaltertätigkeiten; ein | |
Kümmerer, stets zur Stelle, ideenreich, hilfsbereit und gut gelaunt. Der | |
zweieinhalbjährigen Pauline allerdings geht er eines Nachmittags mit seinem | |
Frohsinn so gehörig auf den Wecker, so jedenfalls erzählt es Martina | |
Ackermann, dass sie ihn einen „Blödmann“ schimpft. „Mama“, wendet die | |
Tochter ein, „das war bestimmt bloß eine Trotzphase.“ Was immer es war, der | |
Nachbar spricht die Mutter auf die Rotznäsigkeit der Tochter an, und diese | |
malt ihm als Entschuldigung einen Kopffüßler. Er revanchiert sich mit einer | |
Einladung zum Spaghetti-bolognese-Essen in seiner Küche, und weil keine | |
Wohnung jemals fertig eingerichtet ist, verabreden die Nachbarn einen | |
gemeinschaftlichen Ausflug zu Ikea, später leihen sie sich CDs, Grönemeyer | |
mögen sie besonders. | |
Als Pauline Thorsten Ackermann und ihre Mutter eines Sonntags eingenickt | |
auf der Wohnzimmercouch findet, wundert sie sich nicht, „es war irgendwie | |
normal, dass er da war“, sagt sie. Und genauso normal ist es, dass er | |
bleibt. „Er hatte sich immer Kinder gewünscht, aber das hatte nicht | |
geklappt“, sagt Martina Ackermann. „Jetzt hatte er uns.“ Uns, zwei | |
Kleinkinder und eine Frau, mit deren trubeligem Leben er nicht fremdelt, | |
im Gegenteil, er kann gar nicht genug davon bekommen, Oskar feuert er | |
so lange an, bis der furchtlos ohne Stützräder Fahrrad fährt, Pauline föhnt | |
er gegen ein imaginäres „Luftgeld“ die langen blonden Haare zu | |
märchenhaften Feenfrisuren, und wenn die Zwillinge mit ihrer Mutter ihn, | |
einen tiefgläubigen Christen, vom Konzert seines Posaunenchors in der | |
Kirche in Pankow abholen, dann stellt er sie voller Stolz vor: seiner | |
Familie, seinen Freunden, seinen Kollegen. Im Mai 2004 heiraten Martina und | |
Thorsten Ackermann. | |
Die Patchworkfamilie zieht um in ein Einfamilienhaus, erbaut um 1900, aber | |
was sind schon ein paar schiefe Wände und morsche Fenster, wenn die Frau | |
Tischlerin und Architektin ist und der Mann Heizungsexperte und | |
Hobbymonteur? Bei der Risiko-Lebensversicherung, die die Eheleute | |
abschließen, um die Rückzahlung ihres Hauskredits auch für den | |
unwahrscheinlichen Fall abzusichern, dass einem von ihnen etwas zustoßen | |
sollte, kreuzt Thorsten Ackermann unter dem Punkt „Vorerkrankungen“ das | |
Kästchen „keine“ an. Seine Colitis ulcerosa, eine chronische | |
Darmerkrankung, die er seit Jugendtagen hat und die laut Statistik das | |
Risiko erhöht, an Darmkrebs zu erkranken, vergisst er. „Er hatte da nicht | |
irgendwelche Hintergedanken, ich schwöre. Wir hatten diese Krankheit beide | |
überhaupt nicht auf dem Schirm. Sie verläuft in Schüben, geht oft mit | |
Stress einher. Aber in der Zeit, in der wir zusammen waren, gab es keinen | |
Schub und keine Beschwerden.“ | |
Im Gegenteil, alles ist auf Wachstum und Zukunft ausgerichtet. Im Sommer | |
2007 legen die Ackermanns sich ein neues Familienmitglied zu: Manni | |
Münsterländer, ein aufgekratzter Jagdhundwelpe, der bevorzugt Wildschweine | |
im Tegeler Forst verfolgt und einen unersättlichen Bewegungsdrang hat. Als | |
der örtliche Tierarzt im Oktober 2007 zum Tag der offenen Tür in seine | |
Praxis lädt, sind Manni, sein Frauchen und sein Herrchen selbstverständlich | |
unter den Gästen. Eine gute Woche später macht eine schlimme Nachricht die | |
Runde in der Nordberliner Nachbarschaft: Thorsten Ackermann liegt im | |
Krankenhaus, notoperiert am Darm, er hat Krebs. So richtig glauben kann das | |
zunächst niemand. | |
„Er hatte einen Termin zur Darmspiegelung, er hatte gesagt, es gehe ihm | |
nicht so gut, ich war arbeiten und kam später dazu“, erinnert sich Martina | |
Ackermann. „Sie haben uns sofort in die Klinik geschickt.“ Es ist ein | |
Schlag, aber noch scheint er verkraftbar: Der Chirurg, der sie empfängt, | |
ist ein guter Bekannter, er ist der Vater eines Klassenkameraden der | |
Zwillinge. „Ich dachte, das gibt es doch nicht!“, sagt Martina Ackermann. | |
„Im Krankenhaus, in dieser Anonymität, einen vertrauten Ansprechpartner zu | |
haben, der fürsorglich mit uns umging, das hat uns ein Fünkchen Hoffnung | |
gegeben.“ | |
Krebs, das ist kein einmaliger Eingriff und gut. Krebs, das ist zäh, | |
zermürbend, zeitaufwendig, für Patienten wie für Angehörige. Kaum ist die | |
eine Therapie abgeschlossen, beginnt die nächste, dann die übernächste. Mit | |
immer neuen Herausforderungen. Nur dass anfangs die wenigsten all dies | |
ahnen. Als Thorsten Ackermann aus seiner ersten Narkose erwacht, sieht er, | |
wie seine Exkremente durch einen Schlauch aus seinem Bauch herauslaufen in | |
einen Plastikbeutel. Ein künstlicher Darmausgang, ein Stoma, erklären ihm | |
die Ärzte, wenn er Glück habe, nur eine vorübergehende Maßnahme, nach der | |
Chemo sehe man weiter. Für die Mediziner ist es eine Routinesache, für | |
Thorsten Ackermann ist es Kontrollverlust, Scham, Demütigung. „Er stand zu | |
Hause im Bad, der Kot lief aus seinem Bauch, er weinte. Er wusste beim | |
besten Willen nicht, wie er mit dem Teil duschen sollte“, sagt Martina | |
Ackermann. Also kümmert sie sich. Informiert sich in Selbsthilfeforen im | |
Internet, empfängt eine professionelle Stoma-Schwester. Überlegt, wie sie | |
ihm klarmachen soll, dass sich aus ihrer Sicht nichts ändert zwischen | |
ihnen. Sie sagt: „Er war doch mein Mann.“ | |
Schließlich weiht sie seine beiden besten Freunde in intime Details ein, | |
„so ein ‚Ding‘ macht ja auch Geräusche“. Bei einem Abendessen kommen d… | |
Eheleute und die Freunde überein, dass ein offensiver Umgang mit der | |
Situation für sie alle das Beste ist: „Mach das zum Klingelton von deinem | |
Handy“, prustet einer der Freunde. | |
Krebs, das ist eine Krankheit, schleichend und widerwärtig, und je länger | |
sie dauert, desto mehr Handicaps kommen dazu. Die Chemotherapie, die | |
Thorsten Ackermann macht, um den Tumor im Darm zu bekämpfen, führt dazu, | |
dass seine Nieren nicht mehr richtig funktionieren. Er braucht Stents, | |
Röhrchen,durch die der Urin abfließen kann. Sie werden unter Narkose | |
eingesetzt und müssen alle paar Monate ausgetauscht werden, bei akuten | |
Beschwerden auch spontan. „Und dann sitzt du bei der Arbeit, und um 12 Uhr | |
mittags klingelt das Telefon, und er sagt, er ist jetzt im Krankenhaus“, | |
sagt Martina Ackermann. „Oder du begleitest ihn zur Chemo, und das Handy | |
klingelt, und die Schule teilt dir mit, dass Pauline sich gerade das | |
Handgelenk gebrochen hat.“ Es ist ein Leben im permanenten Ausnahmezustand, | |
aber die Verzweiflung, die Überlastung, die Zerrissenheit und das ewig | |
schlechte Gewissen, keinem wirklich gerecht werden zu können, all das wird | |
ihr erst später bewusst. „Manchmal frage ich mich, warum wir uns nie eine | |
Haushaltshilfe genommen haben.“ | |
Februar 2009, der Krebs hat sich im ganzen Körper ausgebreitet, die Nieren, | |
die Lunge, es gibt wenige Organe, die nicht befallen sind. Die Ärzte sagen, | |
dass sie nichts mehr tun können. Eine Palliativmedizinerin macht einen | |
Hausbesuch, eindringlich empfiehlt sie psychologische Hilfe für die Kinder. | |
Oskar und Pauline, damals kurz vor ihrem 11. Geburtstag, stehen daneben, | |
hören alles mit. Martina Ackermann schickt die Ärztin zum Teufel. | |
„Warum du?“, fragt ihr Vater seinen Schwiegersohn. „Ich habe es nicht in | |
der Hand“, erwidert Thorsten Ackermann. „Aber der da oben wird es wissen.“ | |
Die Zuversicht, die er aus seinem Glauben schöpft, wird ihn tragen und | |
trösten, bis zuletzt. Seine Frau und er führen Gespräche – über das, was | |
sie noch tun müssen, und das, was sie noch tun wollen in der Zeit, die | |
ihnen bleibt. Aber Thorsten Ackermann will mehr. Er will auch über die | |
Zukunft reden, über eine Zukunft ohne ihn. „Öffne dich wieder dem Leben“, | |
bittet er seine Frau eines Abends. „Das hat mich total wütend gemacht.“ | |
Loszulassen, ihn, aber auch ihre eigene Lebensplanung, es fällt ihr schwer, | |
Jahre danach noch. „Aus heutiger Perspektive“, sagt sie, „kann ich nur | |
jedem raten, das Thema Tod früh ins Leben zu holen. Es nimmt einem die | |
Angst davor.“ | |
„Ich weiß noch, wie es an dem Morgen war, nachdem er gestorben war“, | |
erinnert sich Pauline. Sie lag im Bett und spielte Nintendo, unten hörte | |
sie die Stimmen ihrer Mutter und ihrer Oma, die in der Nacht herbeigeeilt | |
war, um auf die Enkel aufzupassen, nachdem das Krankenhaus angerufen hatte. | |
„Was ist mit Thorsten?“, fragte sie, unten angekommen. Die beiden Frauen | |
weinten, erklärten, trösteten. „Dann bin ich wieder hochgegangen und habe | |
zu Oskar gesagt, geh mal runter, ist was Wichtiges. Und dann habe ich | |
weiter Nintendo gespielt.“ | |
Es sind so bemerkenswerte wie minutiöse Details, die die Erinnerung von | |
Mutter und Tochter auch zehn Jahre später prägen. Und vielleicht liegt das | |
daran, dass es eben keineswegs so ist, dass mit dem Tod alles aufhört, im | |
Gegenteil, für viele Angehörige fängt damit die Belastung erst so richtig | |
an, und deswegen gibt es auch kein Vergessen. | |
„Als ich sein Zimmer betrat, lag er da, er war noch warm und lächelte ein | |
bisschen“, sagt Martina Ackermann, „es war, als habe er endlich loslassen | |
können.“ Sie weiß noch, wie sie sitzen bleiben wollte bei ihm, ihn | |
betrachten, ihm letzte Worte sagen oder vielleicht auch nichts sagen, | |
nichts denken, nichts tun. Bloß da sein. In der Logik der | |
Krankenhausökonomie ein unvertretbarer Luxus: Denn nun wurde nicht nur sein | |
Zimmer für den nächsten Patienten desinfiziert, sondern es sollte überhaupt | |
keinen Platz mehr für ihren Mann in dem Klinikum geben; bis mittags, hieß | |
es, müsse er geholt werden. Von wem und wohin? Ihre Sache. Martina | |
Ackermann klaubt seine Habseligkeiten zusammen, wie auf einer Flucht, ein | |
T-Shirt, das er oft trug, stopft sie geistesgegenwärtig in eine gesonderte | |
Plastiktüte, sein Geruch, sie will ihn bewahren, er wird ihr in den | |
nächsten Wochen und Monaten Halt geben. | |
Sie packt die Kinder auf die Rückbank, zusammen erkunden sie die | |
nächstgelegenen Friedhöfe. „Irgendwie war das auch eine schöne Atmosphäre… | |
sagt Pauline, „wir haben immer überlegt, was Thorsten sagen würde, und das | |
war trotz allem auch witzig.“ „Zeit zum Trauern“, sagt ihre Mutter, „war | |
jedenfalls nicht.“ Und daran ändert sich, so zumindest ist ihre Erinnerung, | |
im ganzen nächsten Jahr, wenig. | |
„In der Schule hieß es, der Vater der Zwillinge ist gestorben, unsere | |
Lehrerin war völlig fertig.“ Für sie und ihren Bruder aber ist es, als | |
werde da über andere gesprochen. Um zu begreifen, zu verarbeiten, Worte zu | |
finden für das Geschehene, beginnt das Kind Pauline, Tagebuch zu führen. | |
Sie hält bis heute daran fest. „Manchmal, wenn es schwierig war für mich, | |
habe ich es aufgeschrieben und gedacht, na gut, jetzt kann es zumindest | |
nicht mehr weg, und ich denke morgen darüber nach.“ | |
Daneben bekommen Rituale eine große Bedeutung in ihrem Leben. „Anfangs hat | |
Opa bei jedem Essen einen Teller für Thorsten mitgedeckt, und als er | |
anfing, das zu vergessen, habe ich es schnell gemacht.“ Sie hatten ihm alle | |
versichert, dass seine größte Sorge, eines Tages von ihnen vergessen zu | |
werden, „totaler Quatsch“ sei. Zweimal im Jahr, zu seinem Geburtstag im | |
September und zu seinem Todestag im März, versammeln sich seine Freunde und | |
seine Familie an seinem Grab und holen ihn, wie Martina Ackermann sagt, „in | |
unsere Mitte“. Decken werden ausgebreitet, Sektflaschen entkorkt, | |
Picknickkörbe ausgepackt, für den Jubilar gibt es Blumen und Kerzen. Einmal | |
fährt – zufällig – ein Polizeiwagen am Friedhof vorbei. „Acki“, ruft … | |
der Freunde, „deine Party ist wieder mal zu laut, die Bullen kommen!“ | |
Zum Grab radelt Pauline später, als Jugendliche, manchmal allein, manchmal | |
mit ihrem Bruder. „Ich habe dann immer mit ihm geredet, überhaupt finde ich | |
reden sehr wichtig.“ Ihr Bruder macht diese Dinge eher mit sich selbst aus, | |
seit jeher. Auch jetzt überlegt er lange, ob er an dem Gespräch mit seiner | |
Schwester und Mutter teilnehmen möchte. Er sagt zu, er sagt ab, er sagt: | |
vielleicht. Am Ende kommt er nicht. | |
Ein Krebstod bedeutet für die Angehörigen ja nicht nur, dass ein geliebter | |
Mensch vor der Zeit gehen muss, obwohl das allein bereits Schicksal genug | |
ist. Ein Krebstod, das sind die vielen Entbehrungen während der Krankheit, | |
die sie erleben, und das sind nach dem Tod häufig weitere Einbußen, | |
Folgeverluste gewissermaßen. | |
Im Frühsommer 2009 kommt der Brief von der Lebensversicherung. Prima, denkt | |
Martina Ackermann. Denn die Risikolebensversicherung, die ihr Mann und sie | |
abgeschlossen haben, müsste sie, davon jedenfalls geht sie aus, von ihrem | |
größten Sorgenkind, dem Hauskredit, entlasten. Das Schreiben ist kurz, die | |
Buchstaben tanzen vor ihren Augen. Die Colitis ulcerosa verschwiegen, liest | |
sie, objektiv falsche Gesundheitsangaben bei Vertragsschluss, vorsätzlich | |
oder grob fahrlässig, in jedem Fall ein schwerer Verstoß gegen die | |
Vertragsbedingungen. Daher keine Auszahlung der Vertragssumme. Stattdessen | |
Kündigung mit sofortiger Wirkung, hochachtungsvoll. Martina Ackermann | |
zwingt es in die Knie: Thorsten Ackermann, ihr stets redlicher, viel zu | |
früh an Krebs verstorbener Ehemann, wird posthum zum Versicherungsbetrüger | |
erklärt?! Diesmal sind es die Ärzte aus dem Krankenhaus, die ihr unter die | |
Arme greifen. Ihr Mann, bescheinigen sie ihr, sei schlussendlich nicht an | |
seinem Tumor im Darm gestorben, sondern an einem seltenen, aggressiven | |
Tumor in seinen Lungen. Aber was ist Ursache, was Wirkung? Ein Anwalt sagt, | |
sie könne es darauf ankommen lassen, vor Gericht stünden die Chancen | |
fifty-fifty. „Aber du führst keinen Prozess als junge Witwe gegen einen | |
Versicherungskonzern, das machst du nicht“, sagt Martina Ackermann. Pauline | |
sieht ihre Mutter an, in ihrem Blick mischen sich Bestürzung, Mitgefühl, | |
Empörung. Sie sagt: „Ich bin froh, dass ich das als Kind nicht hören | |
musste.“ | |
Noch ist die Vorstellung, sich jemals von dem Haus zu trennen, für sie alle | |
unmöglich. Martina Ackermanns Alltag ist wie von einer Stechuhr getaktet. | |
Morgens um halb sechs dreht sie eine Runde mit dem Hund, weckt die Kinder, | |
schmiert Schulbrote, hetzt zur Arbeit, erledigt auf dem Rückweg die | |
Familieneinkäufe, korrigiert Hausaufgaben, kocht, geht mit dem Hund raus, | |
putzt, wäscht, überweist Rechnungen, geht noch einmal mit dem Hund raus, | |
fällt erschöpft ins Bett. Sie sagt: „Und dann ist Winter, minus 15 Grad, du | |
musst zur Arbeit, und die Lampe an deinem Auto hat den Geist aufgegeben.“ | |
Und die Nachbarin, die zufällig vorbeikommt, sieht nichts von deinen | |
tiefgefrorenen Händen, hört nichts von deinen Flüchen, tut nichts, um dir | |
zu helfen. Sondern fängt ein philosophisches Gespräch über die Schönheit | |
der kalten Jahreszeit an. „In solchen Momenten kotzt du nur noch ab“, sagt | |
Martina Ackermann. „Du weißt plötzlich, du bist von nun an Frau und Mann in | |
einem, du bist von nun an zuständig für alles – und bist im Zweifel | |
allein.“ | |
Als es wieder Frühling wird, hat Manni, der Jagdhund, plötzlich mysteriöse | |
offene Stellen am Bein. Eine Bisswunde? Eine Hautkrankheit? Der Tierarzt | |
schaut besorgt: Der Hund hat sich selbst verletzt, eine psychische Störung, | |
er braucht mehr menschliche Aufmerksamkeit. Im Hundeauslaufgebiet erwähnt | |
eine Bekannte eine Familie mit einem behinderten Kind, die viel Zeit hat | |
und einen Hund sucht. Sie besucht die Familie. Sie fasst einen Entschluss. | |
Martina Ackermann ist Architektin. Sie weiß, wie man organisiert und | |
Aufgaben verteilt. Für sich und ihre Kinder knüpft sie ein Netzwerk | |
wertvoller Helfer. „Ich habe Menschen dazu gewonnen, von denen ich es nie | |
für möglich gehalten hätte, dass sie mich bedingungslos unterstützen“, sa… | |
sie. Aber manche der Freunde und Bekannten haben eigene Ideen davon, was | |
ihr guttun müsste. Ein Jahr nach dem Tod ihres Ehemanns stellen sie ihr | |
einen Witwer vor, er ist der Überraschungsgast auf einer Party, der einzige | |
Single. Martina Ackermann flieht. Die Freunde fühlen sich vor den Kopf | |
gestoßen. „Das ist das Schlimmste“, sagt sie, „wenn die Leute sich von d… | |
abwenden, wenn sie sich nicht mehr kümmern, weil sie finden, jetzt ist mal | |
genug getrauert. Denn du willst ja gefragt werden. Aber du willst auch die | |
Freiheit haben, ja oder nein sagen zu dürfen zu ihrer Hilfe.“ | |
Im Sommer 2012, bald dreieinhalb Jahre nach dem Tod ihres Mannes, fasst sie | |
mit Oskar und Pauline wieder einen Entschluss. Sie möchte keine Baustelle | |
mehr meistern müssen daheim. Und sich vielleicht auch befreien, nicht | |
länger Getriebene eines Traums sein, der nicht mehr so ausgehen kann, wie | |
er hätte ausgehen sollen, aber für den das Haus für immer stehen wird. „Es | |
war schwer“, sagt Pauline. | |
Und heute, viele Jahre und mehrere Umzüge später? Pauline und ihre Mutter | |
stehen am Fenster der ehemaligen Nachbarin und Freundin, sie gucken auf ihr | |
altes Zuhause. Was sie sehen, ist eine Erinnerung, vielleicht eine der | |
schönsten, die sie teilen, aber sie tut nicht mehr weh. Pauline sagt: „Ich | |
kann nicht mehr mit ihm reden, ich kann ihn nicht mehr umarmen, aber ich | |
kann an ihn denken, und das ist gut.“ Martina Ackermann sagt: „Der Punkt | |
kommt irgendwann, dass man alles ausräumt. Man kann ihn nicht bestimmen, er | |
kommt einfach.“ Eine letzte Kiste mit Dingen von ihm hat sie noch, aber | |
beim nächsten Umzug will sie auch sie loswerden. Was dann noch bleibt und | |
bleiben soll, weil sie ihr heilig sind, sind ihr Ehering in einer Schatulle | |
und die Briefe, die ihr Mann und sie sich geschrieben haben. „Aber dann“, | |
sagt Martina Ackermann, „würde ich einfach gern etwas mehr Ruhe in mein | |
Leben bekommen.“ | |
Heike Haarhoff ist taz-Redakteurin für Medizinthemen. Derzeit forscht sie | |
an der Universität Bochum über „Religiöse Pluralität und ihre Regulierung | |
in der Region“. Der vorliegende Text ist dem Buch „Wir sind für dich da! | |
Krebs und Familie“ entnommen, das am Montag bei Herder erscheint. Heike | |
Haarhoff ist die Freundin und ehemalige Nachbarin, von der im Text die Rede | |
ist. | |
5 Oct 2019 | |
## AUTOREN | |
Heike Haarhoff | |
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