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# taz.de -- Ziemlich abgedreht
> In Stuttgart beginnt die Turn-Weltmeisterschaft, und weil US-Star Simone
> Biles neue Tricks draufhat, gerät ein Problemthema des Sports in den
> Hintergrund
Bild: Missbrauchsopfer und Schraubenkönigin: US-Turnerin Simone Biles
Aus Stuttgart Sandra Schmidt
Da ist sie wieder, diese wundersame Frau namens Simone Biles. Wo immer sie
auftritt, dreht sich alles um sie. Auch bei der am heutigen Freitag
beginnenden Turn-Weltmeisterschaft in Stuttgart, bei der es für fast 600
Athleten aus 93 Nationen nicht nur um Titel, sondern vor allem um die
Olympia-Qualifikation für Tokio geht. Das US-Frauenteam ist als Weltmeister
des Vorjahres bereits qualifiziert und die Prognose, dass Simone Biles
voraussichtlich auch in diesem Jahr so gut wie alles gewinnen wird, fällt
selbst dem Laien leicht.
Aber Biles wäre nicht Biles, hätte sie nicht für neuen Gesprächsstoff
gesorgt. Der lautet Triple double und Double double und meint einen
gehockten Doppelsalto mit drei Längsachsendrehungen am Boden und einen
gehockten Doppelsalto mit zwei Längsachsendrehungen als Abgang vom
Schwebebalken. Beide Elemente hatte Biles vor einigen Wochen erstmals
gezeigt, mit jener scheinbaren Mühelosigkeit, mit der sie seit Jahren den
Schwierigkeitsgrad im Frauenturnen immer weiter nach oben schraubt. Für die
Aufnahme der Elemente in den offiziellen Katalog des Internationalen
Turnerbundes müssen sie nun in Stuttgart gelingen.
Während die US-Delegation einen Ausflug in die Stadt machte, saßen Simone
Biles und ihr Trainer Laurent Landi am Dienstag vor der Presse, um
ausschließlich über diese Elemente zu sprechen. Die 22-Jährige erklärte,
sie habe mit ihnen schon „früher mal gespielt“, aber nie geglaubt, dass sie
sie je im Wettkampf zeigen würde: „Es fühlt sich an, als wäre es nicht
wahr. Ist es aber.“ Sie kündigt an, den Triple double bei jedem ihrer
Auftritte in Stuttgart zu zeigen. Und sagt, nie darüber nachzudenken, wie
viele Goldmedaillen sie gewinnen kann. Sie sehe sich auch nicht als
„Superstar“: „Ich habe das Gefühl, wenn ich mich selber so bezeichnen
würde, dann würde ich mehr Erwartungen und Druck spüren. Wenn ich antrete,
versuche ich nur Simone zu sein, denn am Ende des Tages bin ich erst mal
ein Mensch und dann Simone Biles.“Seit ihrem ersten WM-Sieg im Mehrkampf
2013 gibt Biles freilich Anlass für die Bezeichnung Superstar. Seitdem hat
sie 20 WM-Medaillen gewonnen und seit ihren vier Siegen bei den Olympischen
Spielen in Rio wird sie regelmäßig in einem Atemzug mit Usain Bolt und
Michael Phelps genannt.
So eine Turnerin ist ein Geschenk für eine Sportart, die eher selten die
Schlagzeilen beherrscht. Ein Geschenk für die Ausrichter in Stuttgart, die
alle Karten für die Wettbewerbe mit Biles verkauft haben. Ein Geschenk für
den Weltverband, dessen Imagekampagnen von der immer lächelnden und nie
verletzten Turnerin profitieren. Vor allem aber ein Geschenk für den
US-Verband USAG, denn so lange Biles turnt, wird vor allem über Biles
berichtet. Dabei gäbe es viel zu erzählen über die USAG nach dem Fall Larry
Nassar, jenem 20 Jahre lang tätigen und im letzten Jahr verurteilten
Teamarzt, der Hunderte von Turnerinnen missbraucht hatte, angeblich ohne
dass es irgendwer im Verband oder seitens der Trainer mitbekommen haben
will.
Der damalige Präsident Steve Penny trat nur widerwillig zurück und ist
mittlerweile angeklagt, belastende Dokumente aus der berüchtigten
Trainingsranch der Károlyis vernichtet zu haben. Nachfolgerin Kerry Perry
trat nach neun Monaten zurück, ihre Nachfolgerin Mary Bono wiederum nach
nur vier Tagen. Seit Februar dieses Jahres steht Li Li Leung dem Verband
vor. Vergangenen November entschied das Olympische Komitee der USA, dem
Verband die Lizenz zu entziehen, weshalb der rechtliche Status der
Organisation bis heute teilweise ungeklärt ist. Kurz darauf meldete der
Verband, der alle großen Sponsoren verloren hat und sich millionenschweren
Schadensersatzforderungen ausgesetzt sieht, ein Insolvenzverfahren an.
Berichtet wurde darüber wenig, hatte Biles doch gerade sechs WM-Medaillen
in Katar gewonnen. Auch über die Toptrainer aus Nassars Zeiten, die das
Weite gesucht haben und nun zum Beispiel für Australien oder China
verantwortlich zeichnen, wird selten gesprochen. Als nun im August die kurz
zuvor zur USAG-Athletensprecherin ernannte Trainerin Anna Li zurücktrat,
nachdem Vorwürfe wegen erniedrigender Trainingspraktiken bekannt geworden
waren, hatte Biles gerade erstmals ihren Triple double geturnt. So ist die
schwarze Turnerin in medialer Hinsicht die Rettung für einen Verband, aus
dem es ansonsten nur schlechte Nachrichten gibt. Biles selbst hatte im
Januar 2018 bekannt gegeben, auch von Larry Nassar missbraucht worden zu
sein, aber im Verfahren gegen ihn nicht ausgesagt. Bei den
US-Meisterschaften vor wenigen Wochen warf sie dem Verband unter Tränen
vor, er sei nicht imstande, „seinen einzigen Job zu erledigen: uns
Turnerinnen zu schützen“.
4 Oct 2019
## AUTOREN
Sandra Schmidt
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