# taz.de -- Zukunftstal im Wandel | |
> Einst war es eine „Kolonie“ für Berliner Wohnungslose, heute ist Lobetal | |
> bekannt für seinen Biojoghurt sowie für seine sozialen und inklusiven | |
> Einrichtungen. Zu Besuch in einer Idylle zu Wahlkampfzeiten | |
Bild: Ein Mitarbeiter der Lobetaler Bio-Gärtnerei – ein Betrieb für Mensche… | |
Von Stefan Hunglinger | |
Das ist ein ganzes Stück weit von hier, das liegt ja mitten im Wald“, sagt | |
der Mann am Bahnhofsplatz in Bernau auf die Frage nach dem Ortsteil | |
Lobetal. Und wirklich, sieben Kilometer nördlich vom Stadtzentrum gibt es | |
erst mal nichts als Kiefernwald. Von hier also kommt der berühmte Lobetaler | |
Biojoghurt, hier also finden Menschen mit Behinderung spezielle | |
Wohnangebote und Arbeitsplätze in der Landwirtschaft. | |
Der Mechesee glitzert zwischen den Bäumen, eine sachliche Kirche, | |
Backsteinbauten sind zu sehen. „Martin-Luther-Haus“, „Paul-Gerhard-Haus�… | |
auch die Straßen in Lobetal tragen evangelische Namen. Der Eindruck: | |
märkisch-protestantische Idylle, fast wie zu Fontanes Zeiten. Doch an den | |
Laternenmasten erinnern die Wahlplakate der Freien Wähler daran, dass man | |
sich im Jahr 2019 und wenige Wochen vor der Brandenburger Landtagswahl | |
befindet. „Für Bürger statt Eliten! Gesunder Menschenverstand!“ steht | |
darauf. Wie verhält sich die abgeschiedene Idylle, wie verhalten sich die | |
ökosozialen Einrichtungen in Lobetal, zum Politischen? | |
„In der Gesellschaft verändert sich etwas, auch hier in Brandenburg“, sagt | |
Wolfgang Kern, Sprecher der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal bei einem | |
Rundgang durchs Dorf und meint damit die Rechten, die ihm zufolge auch in | |
den Reihen der Freien Wähler vorkommen. „Es ist nicht mehr | |
selbstverständlich, dass jeder Mensch mit Respekt und Würde ausgestattet | |
ist.“ Dafür stehe aber Lobetal mit seinen christlichen Grundsätzen, erklärt | |
Kern. „‚Dass ihr mir niemanden abweist!‘ war das Motto von Friedrich von | |
Bodelschwingh, dem Gründer, erzählt er später und deutet auf die | |
Jesus-Skulptur mit ausgebreiteten Armen, die unweit des Stiftungsgebäudes | |
steht und diesen Grundsatz ausdrücken soll. | |
1905 gegründet war Lobetal zunächst eine „Kolonie“ für arbeits- und | |
wohnungslose Berliner. Mit dem Projekt wollte der protestantische Pastor | |
und preußische Abgeordnete Bodelschwingh in Hoffnungsthal, wie die Gründung | |
zuerst hieß, eine kirchliche Antwort auf die soziale Frage und die | |
erstarkende sozialistische Arbeiterbewegung geben. „Arbeit statt Almosen“ | |
war damals die Devise und versprach verelendeten Männern für ihren Einsatz | |
in der Land- und Forstwirtschaft der „Anstalten“ eine gute Ernährung und | |
eine private Schlafkoje – im Vergleich zu den Berliner Massenunterkünften | |
ein attraktives Angebot. Lobetal wuchs und wurde 1929 eine eigenständige | |
politische Gemeinde. Anstaltsleitung und Bürgermeisteramt waren in | |
Personalunion vereint. | |
Doch nicht nur als Zufluchtsort für Wohnungslose hat Lobetal politische | |
Geschichte gemacht. 1990 kamen der frühere SED- und Staatschef Erich | |
Honecker und seine Frau Margot, zuvor Bildungsministerin der DDR, im Haus | |
des Lobetaler Pfarrers unter. Vor den Anfeindungen wütender Bürger*innen | |
sollte das Kirchenasyl die beiden schützen. In den Jahrzehnten zuvor hatte | |
sich Lobetal von der „Arbeiterkolonie“ zum Zentrum für Menschen mit | |
Behinderung und Epilepsiekranke in der DDR entwickelt. | |
Heute ist der 700-Seelen-Ort – 2002 eingemeindet nach Bernau – die Zentrale | |
von Einrichtungen der Alten-, Sucht-, Kinder- und Jugendhilfe, nicht nur | |
hier im Dorf, sondern verteilt über ganz Brandenburg und drei weitere | |
ostdeutsche Bundesländer. Über 3.000 Plätze bietet die Stiftung insgesamt | |
an. Insbesondere die Betriebe für Menschen mit Behinderung sind bekannt, | |
darunter eine Milchwirtschaft, eine Kreative Werkstatt, eine ökologische | |
Gärtnerei und die Biomolkerei. Auch Geflüchtete sind in den letzten Jahren | |
in Lobetal untergekommen und konnten teils Arbeit in den Einrichtungen | |
finden. | |
„Bis vor 30 Jahren waren wir noch eine Insel“, sagt Hans-Günther Hartmann, | |
Chef der Milchwirtschaft, Ortsvorsteher von Lobetal und Vorsitzender des | |
Fördervereins der Stiftung in Personalunion, „aber wir öffnen uns mehr und | |
mehr“. | |
Das aktuelle Lobetal-Magazin, das im Empfangshaus ausliegt, berichtet von | |
dieser Öffnung und auch von den letzten politischen Besuchen hier. | |
Landtagspräsidentin Britta Stark (SPD), der Cottbusser Bürgermeister Holger | |
Kelch (CDU) und die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock sprachen im Juni | |
beim Jahresfest. „Wenn es um Zukunftsfragen geht, können wir von Lobetal | |
vieles lernen“, wird Stark im Heft zitiert. | |
Die Parteien der drei Politiker*innen wie auch die von Bernaus | |
Bürgermeister André Stahl (Linke) sehen sich mit Umfragen konfrontiert, | |
nach denen die AfD am 1. September als stärkste Kraft aus der Landtagswahl | |
hervorgehen könnte. Gilt den Politiker*innen die ökosoziale | |
Wirtschaftlichkeit Lobetals als Modell für den ländlichen Raum in | |
Brandenburg? Flüchten sie im Wahlkampf in diese Idylle, weil sie die | |
Wutbürger*innen ohnehin nicht mehr erreichen können? | |
Günther Krug befindet sich in einer Krise nicht parteipolitischer Art. Er | |
lebt und arbeitet seit den 80er Jahren in Lobetaler Einrichtungen. Gerade | |
sitzt er an seinem Maltisch in der Kreativen Werkstatt und experimentiert | |
mit Erdpigmenten in dunklen Tönen. „Herr Krug ist in einer kreativen Krise. | |
Deshalb probieren wir neue Techniken aus“, erklärt die Kunsttherapeutin Ana | |
Furelos, die hier unterstützend arbeitet. Im Galerieraum der Werkstatt kann | |
man sehen, wie Krug vor der Krise gemalt hat: Großformatige Bilder mit | |
leuchtenden Farbstreifen hängen dort. „Manche Künstler kommen nach der | |
Arbeit hier her, manche sind schon in Rente. Aber wir sind keine bloße | |
Freizeitwerkstatt“, erklärt Furelos. Sie erzählt, dass die Bilder, die hier | |
entstehen, in Bernau und Berlin ausgestellt und verkauft werden. „Sogar ein | |
Museum in Serbien möchte jetzt Bilder von uns haben.“ | |
Das Gespräch wird unterbrochen von Wolfgang Seeber von der Lobetaler | |
Biogärtnerei. Er und zwei Kollegen fahren wie jeden Dienstag und Freitag | |
mit einem Handwagen durch den Ort und verkaufen ihre Produkte an die | |
Mitarbeitenden. Ana Furelos zeigt sich begeistert über die gelben Tomaten, | |
die heute zu haben sind. | |
Auf drei Hektar Land und 700 Quadratmetern Gewächshausfläche wird in | |
Lobetal Gemüse angebaut. „Wir haben vor allem alte Sorten, keine Hybride“, | |
erklärt Henrik Wolf, der die Gärtnerei leitet. „Unsere Spezialität ist der | |
Spargel, den wir ohne Folie anbauen, und unsere Kartoffeln. Die werden auch | |
in der Markthalle Neun in Berlin verkauft“, erzählt der studierte Geograf, | |
der zuvor im Ökodorf Brodowin gearbeitet hat. | |
Neben Wolfgang Seeber arbeiten hier noch etwa 60 Beschäftigte. „Wir sind | |
der Lobetaler Betrieb für Menschen, die mehr Ruhe brauchen, die | |
Steppenwölfe. Bei uns kann jeder in seiner Ecke des Feldes arbeiten“, | |
erklärt Wolf. Besonders für Suchtkranke und Autist*innen habe die ruhige | |
Gartenarbeit Vorteile. | |
Wie Henrik Wolf hat auch Reinhard Manger früher für Brodowin gearbeitet. | |
Seit fünf Jahren leitet der gebürtige Schwarzwälder jetzt die Lobetaler | |
Molkerei im nahe gelegenen Biesenthal, in der 36 Menschen mit und ohne | |
Behinderung arbeiten. Neben dem Laden-Café in Biesenthal werden auch | |
Supermärkte und Berliner Restaurants und Kitas von der Bio-Molkerei | |
beliefert. „Durch die Krise der konventionellen Landwirtschaft wurde vieles | |
hier in der Gegend aufgegeben“, erzählt Manger. 2005 sei die Landwirtschaft | |
in Lobetal auf biologischen Betrieb umgestellt worden. „Wir konnten durch | |
eine eigene Wertschöpfungskette und die integrative Arbeit die | |
Landwirtschaft erhalten.“ Allerdings erkennt Manger eine Skepsis gegenüber | |
mittlerem Unternehmertum in der Region. Schon in Brodowin habe er erfahren, | |
wie argwöhnisch initiatives Unternehmertum – zumal ökologisches – von | |
vielen im Landkreis Barnim aufgenommen wird. „Sind wir denn schon Elite?“, | |
fragt der Molkereileiter. | |
Manger erzählt auch, dass am Nachmittag wieder politischer Besuch ansteht. | |
Und wirklich, wenig später halten der CDU-Spitzenkandidat Ingo Senftleben | |
und seine „Bock auf Brandenburg“-Wahlkampfgruppe mit Fahrrädern am | |
Ladencafé. Organisiert haben den Besuch in Biesenthal Bürgermeister Carsten | |
Bruch und Sabine Buder aus dem CDU-Ortsverband. „Ich schwärme für Herrn | |
Senfleben“, sagt Buder. Er stehe für Erneuerung in der Partei, wollte auch | |
die Wahlliste paritätisch und aus allen Wahlkreisen besetzen, erklärt die | |
Tierärztin. Bis vor zwei Jahren habe sie noch SPD und Grüne gewählt, als | |
sie aber – auch in Reaktion auf das Erstarken der AfD in Brandenburg – | |
politisch aktiv geworden sei, habe sie sich entschieden, dies in der CDU zu | |
tun. | |
Trifft man denn am Lobetaler Biocafé die Menschen, die potenziell die AfD | |
wählen? „Ja, hier kommen tatsächlich eher die zugezogenen Ökos hin“, mei… | |
Buder. „Man kann hier eigentlich schon von Parallelgesellschaften sprechen, | |
von zwei Schichten. Deshalb bin ich in die CDU gegangen, weil die noch am | |
ehesten die Brücke zwischen diesen Schichten schlagen“, erzählt die | |
Urbiesenthalerin. | |
„Es geht nicht darum, eine Antwort auf die AfD zu finden, sondern auf die | |
Bedürfnisse der Menschen“, erklärt Senftleben am Rande des Molkereibesuchs. | |
Er wolle die Rahmenbedingungen für das Handwerk stärken und | |
Studienabschlüsse einfacher machen. Auch Handyempfang und schnelles | |
Internet möchte er überall in Brandenburg garantieren. | |
Die Zeit drängt, Senfleben und seine Fahrradgruppe müssen weiter zum | |
nächsten Termin in Biesenthal, zum Verbandstoff-Hersteller TZMO, einen | |
wichtigen Arbeitgeber im Ort. Müde sieht Senftleben aus, der wochenlange | |
Wahlkampf zehrt offenkundig. „Es wird immer gesagt, dass die Politiker die | |
Menschen politikverdrossen machen. Ganz ehrlich, die Wähler machen aber | |
auch die Politiker politikverdrossen“, sagt Sabine Buder und steigt aufs | |
Rad. | |
12 Aug 2019 | |
## AUTOREN | |
Stefan Hunglinger | |
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