| # taz.de -- Das Gelbe vom Ei | |
| > Kristine Bilkau erzählt in ihrem Roman „Eine Liebe, in Gedanken“ eine | |
| > Geschichte aus den sechziger Jahren, in der Sehnsucht und Emanzipation in | |
| > Widerspruch geraten | |
| Bild: Denn „ich fürchtete“, stellt die erschrockene Erzählerin fest, „a… | |
| Von Carsten Otte | |
| In der Spüle liegt noch schmutziges Geschirr, im Topf ein gekochtes Ei. Mit | |
| dem Tod der Mutter hat die Tochter nicht gerechnet, auch wenn das Herz der | |
| alten Dame unregelmäßig schlug und mit zwei künstlichen Klappen versehen | |
| war. Es ist kein Zufall, dass die Ich-Erzählerin in Kristine Bilkaus | |
| Sehnsuchtsroman „Eine Liebe, in Gedanken“ in der Wohnung der Mutter über | |
| die Schwäche jenes Muskels nachdenkt, ist das Herz doch die Generalinstanz | |
| in der Gefühlsmetaphorik. | |
| Die Tochter löst nämlich nicht nur den Haushalt der Verstorbenen auf, sie | |
| taucht auch ein in das lebenslange Liebesdrama jener Frau, deren Herz an | |
| einem Mann hing, der sie in jungen Jahren ohne nachvollziehbare Begründung | |
| sitzenließ. | |
| Mitte der sechziger Jahre lernt Antonia, die sich kurz Toni nennt, den | |
| etwas ungelenken, aber durchaus aufrichtigen Edgar kennen und lieben, und | |
| obwohl die beiden mit antiquierten Moralvorstellungen zu kämpfen haben, | |
| schaffen sie es dennoch, ihre Gefühle auszuleben. Weder ein Arzt, der sich | |
| weigert, die Pille zu verschreiben, noch eine allzu neugierige Hauswirtin | |
| kann die Liebenden von ihrem Glück abhalten – zumal das Paar nicht nur im | |
| Hier und Jetzt lebt, sondern Pläne schmiedet für ein gemeinsames Leben. | |
| Die Freiheit, Sehnsüchte auch zu erfüllen, ist aber vor allem bei Edgar mit | |
| beruflichem Erfolg verknüpft. Nach einigen Misserfolgen bietet sich | |
| ausgerechnet in Hongkong eine Chance, die der ehrgeizige Mann nutzen | |
| möchte. Toni, die in ihrem Job zu überzeugen weiß, würde sogar kündigen, | |
| wenn sie ihren Liebsten nach Asien nur begleiten dürfte, doch der | |
| Angebetete möchte ihr die Strapazen des Neuanfangs in der Fremde nicht | |
| zumuten, und er hat wohl auch das Gefühl, sich und der Frau, die ihn | |
| umwirbt, etwas beweisen zu müssen. Es folgen Liebesschwüre in Briefen, | |
| seltene Telefonate und ein Heiratsversprechen, das Edgar kurz vor dem lang | |
| ersehnten Wiedersehen löst. | |
| Das einseitige Liebesaus aber wird Toni bis zu ihrem Tod nicht akzeptieren, | |
| und so hält sie die Gefühle in ihren Gedanken am Leben. Wenn schon das Herz | |
| leiden muss, soll der Geist von einer Liebe zehren, was Toni bald als eine | |
| Erfahrung erlebt, die wahrhaftiger erscheint als die kurze Zeit des | |
| Zusammenseins. | |
| ## Ehen gegen die Wand fahren | |
| Wie prägend und auch zerstörerisch eine solche Sehnsucht sein kann, muss | |
| nicht nur ihre Tochter ertragen, die sich fragt, warum die Mutter nach der | |
| bitteren Erfahrung mit Edgar eine Ehe nach der anderen gegen die Wand fährt | |
| und ihr eine ziemlich unübersichtliche Vätersituation zumutet. Da gibt | |
| es einen L., das ist der leibliche, aber abwesende Papa, dann noch einen | |
| Wolfgang, der die Mutter zwar auch nicht glücklich machen kann, sich aber | |
| zumindest für ihren Nachwuchs interessiert, und dann bleibt noch dieser | |
| Edgar allgegenwärtig, ein Phantommann in vielen Geschichten der | |
| sehnsüchtigen Mutter. | |
| Nicht einmal das erwachsene Kind, das mit Hanna längst eine volljährige | |
| Tochter hat, traut sich, die schönen und passenden Kleider der toten Mutter | |
| zu übernehmen. Denn „ich fürchtete“, stellt die erschrockene Erzählerin | |
| fest, „an den Kleidern hafteten die Sehnsüchte meiner Mutter wie | |
| ansteckende Viren“. Die Liebe der Mutter hat also längst die Gedanken der | |
| Tochter in Beschlag genommen, und so ist es auch kein Wunder, dass sie | |
| diese Geschichte endlich abschließen und herausfinden möchte, warum sich | |
| der geheimnisumwitterte Edgar von der so innig liebenden Toni getrennt hat. | |
| Die 1974 in Hamburg geborene und dort auch lebende Journalistin und | |
| Schriftstellerin Kristine Bilkau beeindruckt auch in ihrem zweiten Roman | |
| mit einer sehr feinfühligen Figurenzeichnung. Schon in ihrem Debütroman, | |
| „Die Glücklichen“, der von einem hippen Großstadt-Paar handelte, das | |
| ökonomisch wie emotional ins Straucheln gerät, überzeugte sie mit der | |
| Fähigkeit, den durchaus dramatischen Abstieg der Protagonisten sowohl | |
| empathisch als auch dezent zu erzählen. Im neuen Roman gelingt der Autorin | |
| nun, was leicht hätte schiefgehen können, nämlich das pathosfreie | |
| Ausformulieren einer im Kern unfassbar pathetischen Geschichte. | |
| ## Telefonate, Telegramme | |
| So ermöglicht vor allem die kluge Wahl der Erzählperspektiven, der | |
| Kitschfalle zu entgehen. Die erste Person Singular der Tochtererzählung | |
| bietet zunächst eine authentische Suchbewegung, die nicht nur das Leben mit | |
| der melancholischen Mutter schildert, sondern eben auch über die Sehnsüchte | |
| der Erzählerin aufklärt. Davon abgesetzt ist das erzählerische Zentrum, in | |
| dem der Anfang, das Aufblühen und das jähes Ende der Liebe von Toni und | |
| Edgar in den sechziger Jahren in Telefonaten, Telegrammen und in Prosa | |
| geschildert werden. Ohne sich dabei in einer literarischen | |
| Requisitenschieberei zu ergehen, schildert Bilkau das Grundproblem dieser | |
| Zwischenepoche sehr anschaulich: Noch nicht dem Mief der Nachkriegszeit | |
| entronnen, erobern sich die Menschen schon einige Freiheiten, die später | |
| dann endgültig durchgesetzt werden. | |
| Zur Epoche passt der auktoriale Tonfall dieser Passagen, wobei die | |
| Erzählgöttin durchaus mit der Ich-Erzählerin der Rahmenhandlung identisch | |
| ist. „Ich wünschte mir ein Ineinander der Zeiten“, heißt es in Bilkaus | |
| Roman, und dieser Wunsch wird über die doppelte und gleichsam zur Einheit | |
| sich entwickelnde Erzählstruktur tatsächlich eingelöst. Bilkau gelingt | |
| dieses Ineinander der Zeiten, auch weil sie eine kleine Genealogie der | |
| innerfamiliären Frauenemanzipation entwirft. | |
| Es gibt, so behauptet der Roman, zwei sich abwechselnde Muster weiblicher | |
| Sehnsüchte in der Abfolge von Mutter und Tochter: „Eine hatte Freiheit | |
| gesucht. Ihre Tochter hatte sich nach Beständigkeit gesehnt. Und deren | |
| Tochter sehnt sich wieder nach Freiheit.“ Wobei Bilkau die statische | |
| Gegenüberstellung dieser Grundmotive im Text bricht, indem die konträren | |
| Sehnsüchte als stark miteinander verflochten dargestellt werden. Denn Toni | |
| sucht nicht nur die Freiheit vom Zwang gesellschaftlicher Vorgaben, sie ist | |
| in ihrer Liebe zu jenem Mann, den sie eigentlich will, äußerst beständig, | |
| und sie nimmt sich wiederum die Freiheit, die Liebe in Gedanken | |
| weiterzuführen. | |
| ## Vermisste Leidenschaft | |
| Die Tochter, vom sehnsüchtigen Liebeswunsch der Mutter erschüttert, lebt | |
| zwar in familiär beständigen Verhältnissen, merkt aber doch, wie | |
| berauschend die leidenschaftliche Liebe sein kann, die sie bislang nicht | |
| erlebt zu haben scheint, und genau deshalb sucht sie auch die Nähe zum | |
| betagten Edgar. | |
| Vieles bleibt offen in diesem durchkomponierten Roman, und nicht zuletzt | |
| machen diese Leerstellen den literarischen Reiz des Textes aus. Auch die | |
| Erzählerin muss lernen, dass ein kleiner Kontrollverlust nicht in der | |
| Katastrophe enden muss. So lässt sie den Freiheitsdrang von Tochter Hanna, | |
| die eine große Interrailreise antritt, nicht im mütterlichen Sorgenlamento | |
| untergehen und emanzipiert sich von den eigenen Ängsten. | |
| Kristine Bilkau findet im schwermütigen Grundton ihres Romans übrigens oft | |
| heitere Motive, etwa wenn die Erzählerin von ihrer frühkindlichen und bis | |
| ins Erwachsenenalter gepflegten Vorliebe berichtet, vom Ei nur das Gelbe zu | |
| essen. Womit sie, jedenfalls im übertragenen Sinn, ihrer Mutter Toni | |
| ähnelt, die sich auch nicht mit dem blassen Drumherum abgeben wollte. | |
| Sprachlich wie inhaltlich zeigt Kristine Bilkau, wie eine | |
| Sehnsuchtsgeschichte aus vergangenen Tagen in zeitgemäße Literatur | |
| verwandelt werden kann. Für die Liebe, die in Gedanken lebt, gibt es kaum | |
| einen passenderen literarischen Ort als Bilkaus so stimmigen und | |
| berührenden Roman. | |
| Kristine Bilkau: „Eine Liebe, in Gedanken“. Luchterhand Verlag, München | |
| 2018, 253 Seiten, 20 Euro | |
| 28 May 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Carsten Otte | |
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