# taz.de -- Was in Lemberg geschah | |
> Der englische Menschenrechtsanwalt Philippe Sands hat ein großartiges | |
> Buch geschrieben: ein fesselndes Familienmemoir, das die Geschichte von | |
> Tätern und Anklägern und die Geburtsstunde der internationalen | |
> Menschenrechte erzählt | |
Bild: Postkarte aus Lemberg, 1935. Dort laufen die Fäden zusammen, die Philipp… | |
Von Alexandra Senfft | |
Lebensläufe und berufliche Werdegänge sind häufiger, als uns bewusst ist, | |
von der Familiengeschichte geprägt – auch oder gerade, wenn diese nur | |
lückenhaft bekannt ist. Das realisierte auch Philippe Sands, als er sich | |
2010 für einen Vortrag über internationales Recht im ukrainischen Lwiw | |
aufhielt. An der Universität, die ihn eingeladen hatte, waren seine | |
Vorbilder Hersch Lauterpacht und Raphael Lemkin Studenten gewesen; sie | |
trugen das Völkerstrafrecht in die Welt hinaus. Doch kaum etwas erinnerte | |
noch an die jüdischen Juristen. Die einst kosmopolitische Stadt im Herzen | |
Europas hatte von 1914 bis 1945 acht verschiedene Herrscher erlebt. Doch | |
für Sands gab es hier auch einen starken persönlichen Bezug: Lwiw – | |
seinerzeit österreichisch Lemberg – war die Geburtsstadt seines Großvaters | |
Leon Buchholz. | |
Von der Frage einer Studentin nach Leon Buchholz überrascht, stellte der | |
renommierte Londoner Anwalt und Professor für internationales Recht fest, | |
wie wenig er über das Leben seiner Großeltern vor 1945 wusste. Er hatte sie | |
nur schweigsam erlebt. Wie war Leons Kindheit und spätere Existenz als | |
Spirituosenhändler in Wien gewesen?, fragte sich Sands. Warum blieben die | |
Umstände seiner Abreise nach Paris 1938 geheimnisumwoben? Warum war seine | |
Frau Rita ihm erst drei Jahre später gefolgt, während ihr Kleinkind – | |
Philippes Mutter Ruth – von einer wildfremden Engländerin vor den Nazis | |
gerettet wurde? „Wer war Miss Tilney?, fragte ich meine Mutter. Keine | |
Ahnung, antwortete sie ohne großen Enthusiasmus.“ | |
Sands beschloss, endlich die notwendigen Fragen zu stellen: Warum hatte er | |
ausgerechnet die juristische Laufbahn eingeschlagen, die mit „einer | |
unausgesprochenen Familiengeschichte verbunden war“? Er begab sich auf eine | |
sechsjährige, teils atemberaubende Recherchereise um die halbe Welt. | |
Buchholz, Lauterpacht und Lemkin hatten den Holocaust überlebt, ihre | |
Familien mit wenigen Ausnahmen jedoch nicht. Es gab über sie also nicht | |
mehr viele Quellen, kaum Zeitzeugen, die berichten konnten, Fotos besaßen. | |
In den USA sprach Sands mit seinem ehemaligen Dozenten für internationales | |
Recht, Eli, dem Sohn Hersch Lauterpachts. Dessen einzig verbliebene Nichte | |
traf er in Paris, in Israel die Nichte seines Großvaters Leon, in Montreal | |
Lemkins Neffen Shaul. Auch sie wussten wenig, doch für Sands genügend, um | |
einzelne Erinnerungsschnipsel wie ein Puzzle zu einem Gesamtbild zu legen. | |
Selbst die mysteriöse Miss Tilney, eine tief religiöse christliche | |
Missionarin, die aus Menschlichkeit Juden gerettet hatte, konnte er | |
identifizieren. | |
Parallel zu seiner Familie porträtiert Sands die beiden Juristen, die auf | |
getrennten, eher antagonistischen Wegen juristische Instrumente suchten, | |
um die Nazis vor Gericht zu belangen und Verbrechen wie ihre in der Zukunft | |
zu verhindern. Sands bringt ihr Dilemma auf den Punkt: „Trotz ihrer | |
gemeinsamen Herkunft und des geteilten Wunsches, eine effektive Lösung zu | |
finden, waren Lauterpacht und Lemkin über ebendiese Lösung in einer | |
entscheidenden Frage absolut unterschiedlicher Auffassung: Wie konnten | |
Gesetze helfen, Massenmord zu verhindern? | |
Schützt das Individuum, ist die Antwort Lauterpachts. Schützt die Gruppe, | |
ist die Antwort Lemkins.“ Lauterpacht schuf den Begriff „Verbrechen gegen | |
die Menschlichkeit“, der in die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse Eingang | |
fand, für die er die Rechtsgrundlagen mit verfasste. Lemkin prägte den | |
Begriff Genozid. Er siedelte den Völkermord nicht allein im Krieg an, | |
sondern schon lange davor – in der Ausgrenzung, Enteignung, | |
Entmenschlichung. Auch er beeinflusste die Nürnberger Prozesse, kämpfte | |
jedoch vergeblich darum, dass Genozid Bestandteil der Anklage würde. Erst | |
die Generalversammlung der Vereinten Nationen nahm Genozid 1946 als ein | |
Verbrechen gemäß dem Völkerrecht in ihre Resolution und 1948 in die | |
Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Verbrechens des | |
Völkermords auf. | |
Sands verwebt die komplexen Geschehnisse und Sachverhalte, die sich auf | |
verschiedenen biografischen, juristischen, historischen und zeitlichen | |
Ebenen entwickeln. Er berührt einige familiäre Geheimnisse, entstanden aus | |
den Tabus der damaligen Zeit. Elegant wechselt er die Perspektiven zwischen | |
Vergangenheit und Gegenwart. Dreh- und Angelpunkt bleibt Lemberg, das alle | |
Protagonisten in Verbindung zueinander setzt, ebenso wie eine weitere | |
Hauptfigur der Erzählung: Hans Frank, Generalgouverneur des von den Nazis | |
besetzten Polen. | |
Frank, selbst Jurist, war für die Ermordung der drei porträtierten Familien | |
verantwortlich. Lauterpacht erfuhr erst sehr spät, dass er in Nürnberg die | |
Männer anklagte, die seine Familie auf dem Gewissen hatten, allen voran | |
Frank. Die meisten von ihnen wurden zum Tode verurteilt. Die Gespräche | |
zwischen Philippe Sands und Hans Franks Sohn Niklas und die daraus | |
entstehende Freundschaft, aus der auch ein Film („My Nazi Legacy“, 2017) | |
hervorgegangen ist, bilden einen weiteren, berührenden Erzählstrang. | |
Sands ist ein genauer Kenner der Materie. Er formulierte die Anklage gegen | |
den chilenischen Diktator Pinochet, bearbeitete zahlreiche Fälle von | |
Massenmord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid wie etwa im | |
früheren Jugoslawien, in Ruanda, Irak, Syrien oder Afghanistan. Sein | |
trauriges Fazit: „Die guten Absichten aus dem Gerichtssaal 600 in Nürnberg | |
(sind) erfolglos geblieben.“ | |
Immerhin: 1998 nahm der Internationale Strafgerichtshof seine Arbeit auf. | |
Greise, die dem NS-System gedient haben, werden heute endlich vor Gericht | |
gestellt und verurteilt. | |
3 Mar 2018 | |
## AUTOREN | |
Alexandra Senfft | |
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