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# taz.de -- Der Tempel von New York
> An der Ecke zur 5th Avenue steht mit Emanu-El eine der größten Synagogen
> der Welt. Gegründet wurde die Gemeinde von liberalen Juden aus
> Deutschland
Bild: Synagoge der Schönen und Reichen: der Temple Emanu-El vor der Trauerfeie…
Aus New York City Dorothea Hahn
Wer im Emanu-El Tempel an der Upper East Side nach der Person fragt, die
sich am besten mit den Spuren der deutschen Juden in der Reformgemeinde
auskennt, wird an den „Rabbi Emeritus“ verwiesen. Ronald Sobel war fast 30
Jahre lang der Chef-Rabbiner der Synagoge. Und er ist eines der letzten
Mitglieder der großen Gemeinde, das sich noch auf seine europäischen
Wurzeln beruft.
Die imposante neo-romanische Synagoge an der Ecke 65 Straße/5th Avenue
liegt in einer der elegantesten Gegenden der Stadt. Zu ihren
Gemeindemitgliedern gehören einflussreiche Power Broker:
Wall-Street-Manager, Immobilienmakler, Medienunternehmer, Showstars und der
ehemalige Bürgermeister Michael Bloomberg.
Was heute eines der Machtzentren in der Stadt ist, war bei der Gründung des
Cultus-Vereins im Jahr 1843 eine Gruppe von frisch eingewanderten Krämern.
Manche von ihnen hatten nichts weiter als einen Laden auf Rädern, mit dem
sie durch die Stadt zogen. Sie waren Teil der großen Auswandererbewegung,
die an die Versprechen der Aufklärung glaubte und die in den USA auf
religiöse und politische Freiheiten hoffte, die sie in Deutschland nicht
bekam.
Die 33 Männer, die den „Cultus-Verein“ gründeten, kamen aus allen Teilen
Deutschlands. Aber die neuen religiösen Ideen, die sie mitbrachten,
stammten ursprünglich aus Hamburg. Schon zwei Jahre nach dem
„Cultus-Verein“ gründeten sie eine Gemeinde, die sie „Emanu-el“ – Go…
mit uns – nannten. Es war die erste jüdische Reformgemeinde von New York.
Und nach Charleston und Baltimore die dritte in den USA. Die Gründer waren
in der großen Welle von westeuropäischen jüdischen Einwanderern in der
Mitte des 19. Jahrhunderts gekommen. In jener Zeit wuchs die jüdische
Bevölkerung in den USA von 15.000 Mitgliedern im Jahr 1840 auf 250.000 im
Jahr 1880.
In einer ihrer ersten liturgischen Reformen in New York ersetzten die
Gemeindemitglieder im Jahr 1848 das Hebräische durch ihre Muttersprache
Deutsch. Zu dem Zeitpunkt hatten sie bereits ihren gemieteten
Veranstaltungsraum im ersten Stock eines Hauses an der Grand Street in der
Lower East Side verlassen und eine ehemalige Methodistenkirche gekauft und
umgebaut. In den Folgejahren zog die Gemeinde in demselben schnellen
Rhythmus, in dem sie neue Mitglieder und neuen Wohnstand gewann, mehrfach
um. Dabei entfernte sie sich mit jedem Umzug weiter von dem Stadtteil, in
dem Einwanderer wohnten, die „frisch vom Boot“ kamen.
Was Rabbi Sobel über die 33 Gründer der Gemeinde erzählt, klingt wie
Erfolgsgeschichten aus einem amerikanischen Bilderbuch. Ein Immigrant der
ersten Generation, der Bayer James Seligman, wurde der Finanzberater von
US-Präsident Abraham Lincoln. Mehrere in New York geborene Kinder von
Gründungsmitgliedern der Gemeinde waren in den 60er- und 70er-Jahren des
19. Jahrhunderts sehr erfolgreich und gründeten die Kaufhäuser
Bloomingdales und Abraham & Straus und die Investmentbank Goldman Sachs.
Parallel zu ihrem schnellen Aufstieg in den USA reformierten die
Gemeindemitglieder auch ihre religiösen Traditionen. Sie installierten eine
Orgel in ihrer Synagoge und fügten erstmals Instrumentalmusik in ihre
Gottesdienste ein. 1854 taten sie einen weiteren großen Schritt, als sie
die getrennte Sitzordnung für Männer und Frauen abschafften.
Doch trotz der formalen Gleichberechtigung nahmen Frauen erst Jahre später
öffentliche Rollen in der Gemeinde ein. Als zwischen 1880 und 1920 eine
neue jüdische Einwanderungsbewegung vier Millionen Menschen aus Osteuropa
in die USA brachte, waren es Frauen, die bei Emanu-El die Verteilung von
Lebensmitteln, Kleidung und andere Hilfen organisierten. Bis zur ersten
Rabbinerin bei Emanu-El verging fast ein komplettes Jahrhundert. Heute hat
die Synagoge an der 5th Avenue drei Rabbinerinnen. Aber Joshua Davidson,
der Chefrabbiner, ist ein Mann.
Die Vorfahren des ehemaligen Chef-Rabbiners Sobel wanderten in der zweiten
großen Welle aus Osteuropa ein. „Meine Großeltern sprachen Jiddisch,
Polnisch und ein holperndes Englisch“, berichtet er. Als er 1962 seine
erste Stelle als „Assistant Rabbi“ in Emanu-El antrat, waren die Nachfahren
der deutschen Einwanderer nur noch eine Minderheit in der Gemeinde. Die
Gottesdienste wurden schon seit den 1870er-Jahren auf Englisch gehalten,
und die Gemeindemitglieder definierten sich mehrheitlich als „amerikanische
Juden“.
Aber das – nunmehr englische – Gebetbuch basierte noch auf den alten
Traditionen. Und bei der Auswahl der Musik für die Gottesdienste wählte die
Synagoge oft europäische Komponisten aus.
In seiner Amtszeit als Chefrabbiner von 1973 bis 2002 trieb Sobel die
Reformen weiter voran. Unter anderem streckte er die Hand zu katholischen,
protestantischen und muslimischen Gemeinden in New York aus, trat der
ökumenischen Gruppe „Partnership of Faith“ bei und sprach von der Kanzel
der St Patrick’s Cathedral.
Der gegenwärtige Chef-Rabbiner setzt die Tradition der ausgestreckten Hand
fort: Vor Kurzem lud er unter anderem Salman Rushdie, die ehemalige First
Lady Michelle Obama und Khizr Khan in seine Gemeinde ein, den aus Pakistan
eingewanderten Vater eines im Irak-Krieg gefallenen US-Soldaten. Er umwirbt
auch die LGBT-Community: Paaren, die in Israel keine religiöse Trauung
bekommen, bietet er eine Zeremonie in seinem Tempel an.
New York hat – nach Tel Aviv – die zweitgrößte jüdische Bevölkerung der
Welt. Das Reformjudentum, dessen Ideen von individueller Freiheit vom
ersten Moment an ideal in das neue Land passten, hat längst die Mehrheit
der New Yorker Synagogen erobert. Emanu-El ist aber immer noch die größte
Synagoge der USA und eine der größten der Welt – unter der hohen,
prächtigen Decke des Tempels beten an hohen Feiertagen mehrere Tausend
Menschen.
9 Dec 2017
## AUTOREN
Dorothea Hahn
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