# taz.de -- „Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie“ | |
> ARMUT Der Schweizer Publizist Jean Ziegler hat eine bittere Bilanz seiner | |
> Arbeit als UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung vorgelegt | |
sonntaz: Herr Ziegler, mit dem Titel Ihres Buches, „Wir lassen sie | |
verhungern. Die Massenvernichtung in der Dritten Welt“, nehmen Sie uns alle | |
in Haftung. Muss das sein? | |
Jean Ziegler: Das muss sein. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter | |
zehn Jahren. 57.000 Menschen sterben täglich am Hunger und ein Siebtel der | |
Menschheit ist permanent schwerstens unterernährt. Und das auf einem | |
Planeten, der laut FAO 12 Milliarden Menschen ernähren könnte. Aber 85 | |
Prozent der auf dem Weltmarkt gehandelten Grundnahrungsmittel werden von | |
zehn Konzernen beherrscht, die jeden Tag durch Preisbildung entscheiden, | |
wer stirbt und wer lebt. Dafür sind wir alle verantwortlich, weil wir diese | |
mörderischen Mechanismen der kannibalischen Weltordnung problemlos brechen | |
könnten. Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. | |
Warum dieses Buch? | |
Ich war von 2000 bis 2008 der erste UN-Sonderberichterstatter für das Recht | |
auf Nahrung. Dieses Buch ist die Abrechnung. Jetzt kann ich endlich sagen, | |
wer die Halunken sind, aber auch, wen ich selbst verraten habe. Als ich bei | |
den Majabauern in Guatemala war, habe ich in ihren Augen plötzlich Hoffnung | |
gesehen, Hoffnung auf Landreform, auf genügend Ernährung. Die hatten keine | |
Ahnung, wer die UNO ist – aber ein Weißer mit diesen großen Autos und | |
seinem ganzen Tross, der musste doch mächtig sein. Drei Monate später hat | |
der amerikanische Botschafter vor der UN-Generalversammlung alle meine | |
Empfehlungen sabotiert. Der wesentlichste mörderische Mechanismus aber ist | |
derzeit die Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel. Der Mais ist deshalb | |
in den letzten fünf Monaten um 63 Prozent gestiegen. Die großen Hedgefonds | |
sind alle von Immobilien auf Nahrungsmittel umgestiegen. Goldmann-Sachs | |
offeriert schon wieder Derivate – aber jetzt auf Reis, Mais, Getreide, | |
Soja, Zucker. Hinzu kommt, dass Hunderte von Millionen Tonnen von | |
Nahrungsmitteln verbrannt werden, um Agrartreibstoffe herzustellen. Das ist | |
ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. | |
Ihr Hungerbuch kommt im falschen Moment. In der Armutsbekämpfung gibt es | |
Fortschritte. | |
Wenn Sie sich die Bevölkerungs- und die Hungerkurve anschauen, dann gibt es | |
zwar statistische Fortschritte. In absoluten Zahlen aber hat das Verhungern | |
zugenommen. Also was soll das?! Gilt es inzwischen als Erfolg, dass mehr | |
Menschen am Hunger sterben, weil gleichzeitig noch mehr Menschen geboren | |
werden? | |
Ihre zentrale Forderung lautet: Nahrung muss ein öffentliches Gut werden. | |
Was ändert das? | |
Ganz einfach: Grundnahrungsmittel werden der Börse entzogen. Ihr Besitz | |
wird zu einem einklagbaren Menschenrecht gemacht. | |
Sie trauen hier aber weder der UNO noch der WTO oder gar dem IWF. Wer soll | |
die Aufgabe einer Regulierung übernehmen? | |
Wir brauchen einen Aufstand des Gewissens, der unsere Regierungen zur | |
Radikalreform zwingt. Im Süden gibt es die Bauerngewerkschaften, die in | |
Honduras, Indonesien, auf den Philippinen, im Nordsenegal im Aufstand sind | |
und die Ackerflächen besetzen. Davon spricht in Europa kein Mensch. | |
Sie sind Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des | |
UN-Menschenrechtsrates. Was ist Ihre Forderung an den Rat? | |
Es geht um die Forderung nach einer Konvention für die Rechte der Bauern. | |
Die Hälfte der Menschheit lebt noch immer auf dem Land. Sie erlebt derzeit | |
einen ungeheuren Landraub durch die Konzerne, Hedgefonds und Banken – oft | |
in Komplizität mit den korrupten lokalen Regierungen. Allein im letzten | |
Jahr sind laut Weltbank in Afrika 41 Millionen Hektar Land den Bauern | |
entzogen und ausländischen Investoren übergeben worden. | |
Der deutsche Botschafter der Vereinten Nationen in Genf engagiert sich vor | |
allem bei der Frage des Trinkwasserschutzes. | |
Das ist gut. Deutschland hat hier wundersamerweise eine sehr mutige | |
Position und lässt sich dabei auch auf einen Streit mit Konzernen wie | |
Nestlé ein, die die Wasserversorgung privatisieren wollen. | |
Was, Herr Ziegler, ändert sich, wenn Ihr Buch zum Bestseller wird? | |
Das Buch muss eine Waffe für die Bürgerinnen und Bürger sein. Wenn es sich | |
gut verkauft, desto besser! FRITZ VON KLINGGRÄFF | |
3 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
FRITZ VON KLINGGRÄFF | |
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