# taz.de -- Lichte Momente | |
> Kino Zur Berlinale gehen? Eigentlich feiert man in Berlin doch das ganze | |
> Jahr über Filmfestspiele. Gerade den kleinen Kinos mit ihrem | |
> ambitionierten Programm geht es überraschend gut. Ein langer Tag im | |
> Lichtspielhaus – vom ältesten bis zum jüngsten Kino in der Stadt | |
Bild: Ein guter Ort für Leidenschaft: Carla Molina hat ihn für sich mit ihrem… | |
Von Susanne Messmer | |
An diesem eisgrauen Montagnachmittag wirkt das Foyer des Kinos Moviemento | |
wie ein warmes Nest. Der Blick schweift über mehrfach überklebte | |
Filmplakate, die sich schon wellen, über die Maschinen für süßes und | |
salziges Popcorn, ein Schild, das behauptet „Lecker Wein“. | |
Tom Tykwer hat hier mal die Karten abgerissen. | |
Das Moviemento ist das älteste Kino der Stadt. 1907 wurde es eröffnet. Vor | |
110 Jahren. | |
Heute hat es drei Säle, 233 Sitzplätze. Es ist erst 14.30 Uhr, trotzdem | |
sind Leute da. Eine Frau um die fünfzig mit einer alten Berlinale-Tasche | |
bestellt einen Kakao. In Saal 3 plaudern zwei Freundinnen um die vierzig, | |
ein Paar um die sechzig kommt an, sie balanciert behutsam heißen Tee an | |
ihren Platz. | |
Der Plan für heute: ein Selbstversuch. Vier gute Filme in vier schönen | |
Kinos, Programm- oder Filmkunstkinos. In diesen Kinos also, wie sie gegen | |
Ende der 1920er Jahre an der Ostküste der USA entstanden, für ein Publikum, | |
das sich nach Filmen jenseits der großen Studioproduktionen sehnte. Mit dem | |
Start der Filmfestspiele in dieser Woche mag man fragen: Braucht der | |
Berliner die Berlinale überhaupt? Und wie geht es den kleinen Kinos? Kann | |
man dort nicht sowieso an 365 Tagen im Jahr in der Stadt Filmvielfalt | |
genießen, Schönes, Experimentelles oder auch Abseitiges in netten Kinos | |
sehen? | |
Eine der Freundinnen im Moviemento, die in der Zeitung Maria heißen will, | |
erzählt. Sie ist Lehrerin, hat heute ihren freien Tag. Ein- bis zweimal die | |
Wochen gehe sie ins Kino, sagt sie, meist ins Moviemento, manchmal auch in | |
eins der vielen anderen im Kiez. Was mag sie am Kino? Den guten Film, | |
natürlich. Das Gefühl, unter Leuten zu sein, auch wenn sie fremd sind. Vor | |
allem aber: „Man muss das Handy ausschalten.“ Maria hat also an diesem | |
Montag den richtigen Film gewählt. | |
Gleich beginnt Jim Jarmuschs „Paterson“ – ein Film über einen Gedichte | |
schreibenden Busfahrer, der bereits Anfang November ins Kino kam. | |
„Paterson“ ist eine Liebeserklärung an Menschen, die sagen, auch ohne Handy | |
und Fernseher glücklich zu sein, die jeden Abend noch einmal in die Bar | |
gehen, um in Gesellschaft zu sein. „Paterson“ ist seinen Fans geradezu auf | |
den Leib geschrieben. Der Film spricht Leute an, die Netflix benutzen und | |
fernsehen, die aber trotzdem noch die Verabredung mit Unbekannten in einem | |
dunklen Raum suchen. Sie wollen gemeinsam lachen, heulen und schweigen. Im | |
Moviemento seit 110 Jahren. | |
## Events als Angebot | |
„Es gibt inzwischen ganz gute Tiefkühlpizza, und trotzdem gehe ich noch zum | |
Italiener“, bringt es drei Stunden später Andrea Stosiek in der Bar des | |
Kinos Sputnik auf den Punkt, wenige Fahrradminuten entfernt vom Moviemento. | |
Gleich ist „Erzähl es niemandem!“ zu sehen, ein konzentrierter | |
Dokumentarfilm über die Norwegerin Lillian Berthung, die sich während des | |
Zweitens Weltkriegs in einen deutschen Besatzer verliebte. | |
Zu dritt sitzt man im Kino, auch ein Paar über sechzig, direkt aus der | |
Nachbarschaft. Der typische Programmkinobesucher, wie sie Stosiek vom | |
Sputnik beschreibt, die Dame um die vierzig, meist Akademikerin, meist mit | |
gutem Gehalt, bleibt an diesem frühen Abend aus. Andrea Stosiek freut sich | |
trotzdem. Das Kino im fünften Stock der Höfe am Südstern mit den zwei Sälen | |
und den 97 Plätzen brummt derzeit. 31.000 Besucher 2016: „Das ist gut für | |
uns“, sagt sie. Davon kann sie selbst leben, ein Mitarbeiter in Vollzeit, | |
vier in Teilzeit. | |
Stosiek kann viele erfolgreiche „Brotfilme“, wie sie sagt, aber erst Wochen | |
nach dem Kinostart zeigen, wegen der Konkurrenz, die größer und daher | |
besser vernetzt ist. Dafür veranstaltet sie Sommerkino, das British Shorts | |
Filmfestival, Filmgespräche, ein Open Screening für unbekannte Regisseure | |
und jeden Sonntag seit seiner Premiere 2012 den Musikfilm „Sugar Man“. Die | |
Events sind das eine, sagt Stosiek. Das andere ist: „Man muss sein Publikum | |
kennen.“ | |
„Events werden als Überlebensstrategie oft überbetont“, spitzt es auch | |
Christian Berg von der Filmförderanstalt Medienboard Berlin-Brandenburg zu. | |
Sein Unternehmen hat noch vor wenigen Jahren viele kleinen Kinos in Berlin | |
vor der Pleite bewahrt, indem es ihnen finanziell bei der Umstellung auf | |
die digitale Vorführtechnik half. Und umstellen mussten die Kinos: Eine | |
analoge Filmkopie kostete den Verleiher mehr als 15.000 Euro, eine digitale | |
kostet nur noch 100. So kommen die Filme mit mehr Kopien in den Umlauf. Die | |
kleinen Kinos kommen prinzipiell auch schneller an die großen Filme heran. | |
Nun freut sich Berg, dass derzeit kaum Kinos schließen in Berlin, dass nach | |
wie vor neue aufmachen. Und dass sich immer wieder welche neu erfinden – so | |
wie letztes Jahr das Eiszeit in Kreuzberg. | |
Das Erfolgsrezept sind nicht die Events, sondern es ist die Verankerung im | |
Kiez, sagt Berg. „Man muss intelligente Nischen besetzen.“ | |
Die Zukunft gehört dem kleinen Kino mit dem Betreiber als Intendant und | |
Ansprechpartner, der oft anwesend ist. Das sagen auch die Zahlen: Laut | |
einer Erhebung der Filmförderungsanstalt glänzt Berlin mit der höchsten | |
Programmkinodichte bundesweit, Tendenz steigend. Während 2009 noch 67.503 | |
Einwohner auf einen Programmkinosaal kamen, waren es 2015 nur noch 33.510, | |
statt über 50 gibt es heute über 100 Programmkinos. Und das trotz des viel | |
beklagten Sterbens der alten Kinos am Kurfürstendamm. Aber das ist die | |
Kehrseite zur Erfolgsstory der Kleinen. Denn die riesigen Paläste mit oft | |
nur einem großen Saal waren zu unbeweglich, um sich von den Multiplexen | |
unterscheiden zu können. Nur noch die Astor Filmlounge, der Zoopalast und | |
das Cinema Paris sind von den 22 Kinos übrig, die es mal am Ku’damm gab. | |
## Das Kino als Kurator | |
Der Dokumentarfilm über die mutige Norwegerin ist vorbei. Jetzt ist es | |
nicht mehr nur kalt, sondern auch noch dunkel draußen. Der Selbstversuch | |
geht weiter. | |
Das nahe gelegene Yorck ist ein kuschliges Kino. Hier an der Yorckstraße | |
trat die Berliner Yorck-Gruppe ihren Siegeszug an. Heute gehören der Gruppe | |
12 Kinos in der Stadt, seit 2008 wachsen die Besucherzahlen stetig, so | |
Geschäftsführer Christian Bräuer. Und das, obwohl 2016 deutschlandweit kein | |
besonderes Kinojahr war – 13 Prozent weniger Besucher als im Rekordjahr | |
2015. Insgesamt lösten 121,1 Millionen Besucher eine Kinokarte an der | |
Kasse, 18,1 Millionen weniger als 2015. Doch die Programmkinos waren | |
nicht davon betroffen, sondern nur die Multiplexe, so Thomas Schulz von der | |
Filmförderungsanstalt FFA. | |
Was also ist die Strategie der Yorck-Gruppe? Zum einen ist sie einfach | |
groß, hat viel mehr Standing gegenüber den Verleihern als die ganz Kleinen | |
und bekommt wichtige Filme früher. Zum anderen macht sie zahllose Events, | |
die Abende mit den Überraschungsfilmen, also Sneak Previews, oder die | |
wöchentliche schwule Filmnacht Mongay. Teil der Strategie ist es aber auch, | |
die Fülle zu sortieren. Denn aufgrund der Digitalisierung, die alles | |
einfacher macht, kommen immer mehr Filme ins Kino, 2016 waren es 610, also | |
fast 100 mehr als 2009. Daher, so Bräuer, wird es immer wichtiger, „die | |
Filme zu kuratieren“. | |
Und daher, so fügt er an, ist auch die Berlinale so wichtig in Berlin. | |
Tolle Programmkinos hin, riesige Filmauswahl her. Die Berlinale wirkt wie | |
ein Schaufenster. So mancher Film, der ein wenig schwierig ist, schafft es | |
im Berliner Kinobetrieb nur, weil er schon einmal auf der Berlinale lief. | |
Weil ihn die Berlinalefreaks verpasst haben oder weil sich der Film | |
herumgesprochen hat. | |
Aber wie kann die Yorck-Gruppe so erfolgreich sein, wenn die Anbindung an | |
die Nachbarschaft so wichtig ist? Verliert man mit 12 Kinos nicht den | |
Überblick über die Kieze? | |
Am Montagabend läuft im Yorck ein Film, der ebenso in einem Multiplex | |
laufen könnte, „Kundschafter des Friedens“. Eine nette Klamotte über | |
Rentner mit DDR-Geheimdienst-Vergangenheit inklusive grauhaariger | |
Starbesetzung (Henry Hübchen, Winfried Glatzeder, Michael Gwisdek). | |
Tatsächlich sind etwa 30 Zuschauer gekommen, die meisten haben dieselbe | |
Haarfarbe wie Hübchen, Glatzeder und Gwisdek. | |
„Unsere Klientel ist älter geworden“, sagt Einlasser Ronny Gräber und dan… | |
mit einer Art liebevollem Amüsement in der Stimme: „Die Wahrscheinlichkeit, | |
hier in so einem Film zu landen, ist deshalb ziemlich hoch.“ Gräber sagt, | |
er kenne einen großen Prozentsatz derer, die hier ins Kino gehen. Er ist | |
hier der Mann, der die Anbindung an den Kiez garantiert, ans oft arrivierte | |
Publikum des Yorck, Zuschauer wie Zahnarzt Winfried, der schon immer hier | |
um die Ecke wohnt, oder Juristin Petra, die sich seit der Rente zum zweiten | |
Mal das Jahresabo der Yorck-Gruppe zum Geburtstag geschenkt hat. Dass sich | |
das Programm des Yorck kaum von dem eines Multiplex-Kinos unterscheidet, | |
ist diesen Zuschauern egal. Sie würden trotzdem nie in ein Multiplex gehen. | |
## Die Nähe zum Publikum | |
15 Fahrradminuten weiter ist es wieder die Kinobetreiberin selbst, Carla | |
Molino, die die Nachbarschaft pflegt. Seit drei Jahren betreibt sie mit | |
Lebenspartner Daniel Wuschansky und Kristian S. Pålshagen aus Norwegen das | |
Il Kino in der Neuköllner Nansenstraße: die letzte Station des | |
Selbstversuchs, das jüngste Kino Berlins. Molino, eine Frau mit Augen wie | |
Giulietta Masina, kommt aus Rom, dort ging sie ins Kino, seit sie drei war. | |
Selbst, als sie als Richterin arbeitete, schaute sie sich manchmal sonntags | |
drei Filme hintereinander im Kino an. | |
2010 baute Molino einen Filmclub auf, dann kam sie nach Berlin und fand | |
bald die Räume, in denen sich Il Kino befindet – wie schon in Rom inklusive | |
Café. | |
Ein Saal, 52 Plätze. 1.000 Zuschauer im Monat, sagt Molino – genug, um zu | |
überleben. Wochentags werden vier Filme gezeigt, am Wochenende sieben. Alle | |
in Originalversion oder mit englischen oder deutschen Untertiteln. | |
Zielgruppengerechter geht es nicht in Kreuzkölln. Denn hier wohnen | |
wahrscheinlich die meisten Kinoverrückten in Berlin, die höchstens | |
gebrochen Deutsch sprechen. Tatsächlich sitzen am Nachbartisch drei | |
Amerikanerinnen, die sich über ihren Arbeitstag unterhalten. Einen Tisch | |
weiter spricht ein Paar italienisch miteinander. | |
Das Il Kino ist ein Kino für Expats. Ein Ort, wo man sich bei einem guten | |
Glas Rotwein oder mit Panini in Filmstimmung bringt – oder aus dem Saal | |
kommt und nicht lange überlegen muss, wo man ein bisschen hängen bleiben | |
und das gerade Gesehene noch einmal durchsprechen kann. Immer, so Molino, | |
ist einer der drei Betreiber hinterm Tresen, wischt die Tische, reißt die | |
Karten ab – oder sie sitzen selbst im Kinosaal und diskutieren mit den | |
Zuschauern nach dem Film. | |
Auch, wenn Carla Molino tagsüber vor allem mit Buchhaltung, Einkauf und | |
Marketing beschäftigt ist. Auch, wenn sie die Filme, die sie für ihr Kino | |
ansehen muss, oft nur noch spätabends auf dem Computer ansehen kann: Die | |
Cineastin aus Rom hat eine Nische gefunden. | |
Sie ist im Film ihres Lebens. | |
Aber nun ist es 22 Uhr vorbei, eine Fahrradklingel ertönt – das Zeichen für | |
den Filmbeginn. | |
„Suburra“, ein italienischer Film, der abstrakte | |
Gesellschaftsbeschreibungen derart konkret herunterbricht, dass einem | |
schlecht werden kann: Männer wühlen anderen Männern so lang mit Messern in | |
den Eingeweiden herum, bis das Gurgeln aufhört. | |
Kino, das einen nicht einfach kalt lässt. Es ist der letzte Film an diesem | |
langen Kinotag. | |
11 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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