Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die vergessenen Verfolgten
> ArmutDie Berlinerin Ilse Heinrich wurde 1944 ins KZ Ravensbrück
> deportiert. Heute klärt sie Schülerinnen und Schüler auf: Die
> Nationalsozialisten verfolgten Bedürftige als „asozial“ und
> „arbeitsscheu“
Bild: Häftlingsfrauen flechten in Ravensbrück Strohschuhe, im Regal sind die …
von Diana Pieper
Die vier goldenen Stolpersteine liegen mitten auf dem Alexanderplatz.
Mittags reflektieren sie das Sonnenlicht. Sie befinden sich unweit der
Weltzeituhr, schwer zu verfehlen. Ihr Platz ist symbolisch: Keines der hier
genannten Opfer, das von den Nationalsozialisten als „asozial“ und
„arbeitsscheu“ verfolgt, deportiert oder in den Suizid getrieben wurde, hat
hier jemals gewohnt. Vielleicht hält manch ein Passant einen kurzen Moment
inne und liest den Hinweis: „Menschen ohne festen Wohnsitz wurden von den
Nazis als asozial und arbeitsscheu stigmatisiert und kriminalisiert,
verfolgt und ermordet.“
Der belebte Platz wurde bewusst ausgewählt, um die Öffentlichkeit auf die
Schicksale der Verfolgten aufmerksam zu machen. Denn noch immer sind ihre
Geschichten kaum in der Erinnerungskultur verankert. Geschichten, wie sie
Ilse Heinrich erzählen kann.
Die heute 92-Jährige ist eine der letzten noch lebenden Zeitzeugen, die im
Nationalsozialismus völlig willkürlich als „Asoziale“ verfolgt wurden.
Aufgewachsen auf einem Bauernhof in der Nähe von Wismar war sie gerade
einmal drei Jahre alt, als ihre Mutter an Tuberkulose starb. Die neue Frau
ihres Vaters hatte keine tröstenden Worte für sie übrig, sagt Ilse
Heinrich. Stattdessen schickte sie Ilse nach dem Schulabschluss zum
Arbeiten aufs Feld.
Eigentlich wollte Ilse Heinrich Säuglingsschwester werden. Doch eine
Ausbildung war ihrem Bruder vorbehalten. So verließ sie mit 15 Jahren ihre
Familie. Sie fand Arbeit bei einer Bäuerin, die am Stadtrand lebte und sich
allein um zwölf Kinder kümmern musste. Ilse fühlte sich gebraucht und war
froh, jeden Abend ein warmes Essen und ein Dach über dem Kopf zu haben. Die
Nachbarn beschimpften das Mädchen jedoch als „Herumtreiberin“. Sie beäugt…
argwöhnisch, dass sich ein junges Mädchen vom Land eigenständig und ohne
Erlaubnis in der Stadt niederließ. Schnell diffamierte sie auch die Polizei
als „arbeitsscheu“ und zwang sie 1943, in einem Arbeitshaus des Schlosses
Güstrow zu arbeiten.
## Ein Begriff mit Geschichte
„Arbeitsscheu“ – das war ein Begriff, den nicht erst die
Nationalsozialisten einführten. Bereits im Zuge der fortschreitenden
Industrialisierung war es in Europa und den USA üblich, arbeitsunfähige
oder bedürftige Menschen in sogenannte Arbeitshäuser einzuweisen. Das
sollte als „erzieherische Maßnahme“ dienen und staatliche
Fürsorgeleistungen minimieren. Auch im deutschen Kaiserreich und in der
Weimarer Republik waren bedürftige Menschen Ziel von staatlicher Repression
und wurden in Arbeitshäuser eingewiesen.
Die Nationalsozialisten erhoben die Arbeitsfähigkeit zum festen Bestandteil
ihrer Kernideologie. Im „Reichsbürgergesetz“ von 1935 hieß es, nur wer
„gewillt und geeignet ist, in Treue dem Deutschen Volk und Reich zu
dienen“, sei ein vollwertiges Teil der „Volksgemeinschaft“. Arbeit wurde
zum Dienst am Volke.
Zwar hatte die Wirtschaftskrise viele junge Männer in die Armut getrieben.
Aber wehe dem, der nicht jeden Tag gewissenhaft seiner Arbeit nachging oder
keinen offiziell angemeldeten Arbeitsplatz hatte. Diese „Landstreicher“,
Tagelöhner und „Bettler“ wurden als „Asoziale“ diffamiert. Sie wurden
beschuldigt, nicht fähig oder willens zu sein, ihren Dienst an der
„Volksgemeinschaft“ zu leisten. Auch „freizügige“, non-konforme Frauen,
Kleinkriminelle, Suchtkranke sowie Sinti und Roma fielen darunter. Außerdem
Kranke und Bedürftige oder Jugendliche, die in Schwierigkeiten geraten
waren.
Der Begriff war nicht eindeutig definiert, er stand stellvertretend für
alle Menschen, die der sozialen Norm nicht entsprachen. „Asozial“ wurde zum
Stigma, zur willkürlichen Fremdzuschreibung, die jeden treffen konnte. Über
Bildungseinrichtungen und Medien infiltrierte die NS-Regierung die
Bevölkerung mit Propaganda. Sie stellte „Asoziale“ als Schmarotzer dar, die
dem Staat und der „Volksgemeinschaft“ auf der Tasche lägen.
## Im Optimierungswahn
Die Verfolgung dieser Menschen war außerdem Teil der NS-Rassenideologie.
Der rassenhygienischen Logik folgend, musste die Vererbung „minderwertiger“
Eigenschaften zum Wohl der „Volksgemeinschaft“ verhindert werden. In den
Arbeitshäusern wurden daher Zwangssterilisationen an den Inhaftierten
durchgeführt, die die Verantwortlichen mit fadenscheinigen medizinischen
Diagnosen zu begründen versuchten. Ganze „asoziale Familien“ wurden Opfer
dieses Optimierungswahns.
Ab 1933 führte die Polizei systematisch „Bettler-Razzien“ durch. Auch die
Wohlfahrtsämter bauten ihre Repressionsmaßnahmen aus – dabei folgten sie
jedoch keiner zentralen Anweisung, sondern handelten nach eigenem Ermessen.
Ab 1937 gab die Reichsführung der Gestapo und Kriminalpolizei Anweisungen
zu konzertierten Aktionen. Eingeführt wurde nun beispielsweise die
„Vorbeugungshaft“. Im Juni 1938 fielen zehntausende Männer, darunter viele
Erwerbslose oder Kleinkriminelle, der „Aktion Arbeitsscheu Reich“ zum
Opfer. Davon betroffen waren aber auch Sinti und Roma sowie Juden. Sie
wurden in Konzentrationslager deportiert. Im Konzentrationslager
Ravensbrück machten die sogenannten Asozialen vor dem Krieg sogar die
größte Häftlingsgruppe aus.
Auch Ilse Heinrich wurde im Sommer 1944 aufgefordert, ihre Sachen zu
packen. Kurz schöpfte sie Hoffnung. Doch die anfängliche Freude wich
schnell der Erkenntnis: Nicht der elterliche Hof war das Ziel der Reise.
Ilse wurde in das Frauen-KZ Ravensbrück deportiert. „Sie schoren uns die
Köpfe kahl, dann mussten wir uns nackt ausziehen und wurden in den
Desinfektionsraum geführt. Wir haben uns so geschämt“, erzählt sie. Nach
der entwürdigenden Prozedur gab man Ilse Heinrich ihre gestreifte
Häftlingskleidung. Der schwarze Winkel kennzeichnete sie für alle sichtbar
als „Asoziale“. Damit stand sie am untersten Ende der Häftlingshierarchie.
In ihrer Baracke lebte sie mit den anderen Häftlingen zusammengepfercht auf
engstem Raum. Täglich wurden sie zu Akkordarbeit gezwungen.
Ilse Heinrich berichtet von drakonischen Strafen, unerträglicher Kälte und
Hunger. Sie beschreibt das Konzentrationslager als einen Ort des Grauens,
der jede menschliche Regung in ihr betäubte: „Ich war irgendwann gar nicht
mehr bei Sinnen – ja, völlig benommen. Ich wollte nur noch sterben, endlich
erlöst sein“, erzählt sie unter Tränen.
1945, kurz vor der Befreiung durch die Alliierten, erkrankte Ilse Heinrich
an Typhus und überlebte nur mit der Hilfe einer couragierten
Häftlings-Krankenschwester.
## Sie holt die Tochter zurück
Doch auch nach ihrer Befreiung ging es mit Entmündigung und Erniedrigung
weiter. Soldaten der Roten Armee vergewaltigten die völlig ausgemergelte
und entkräftete Ilse. Als sie eine Tochter bekam, entzog ihr das Jugendamt
gegen ihren Willen das Sorgerecht. Und ihre eigene Familie weigerte sich,
sie wieder aufzunehmen.
Als sie mit Fabrikarbeit genug Geld angespart hatte, holte sich Ilse
Heinrich ihre Tochter zurück. Sie hatte nur noch ein Ziel: Westberlin.
Schon nach kurzer Zeit lernte sie ihren zukünftigen Mann kennen und
gründete eine Familie. Heute erinnert sie sich: „Zum ersten Mal in meinem
Leben war ich glücklich und hatte ein Zuhause gefunden. Ich bin ein
Stehaufmännchen und habe mir alleine geholfen.“ Ihr ganzes Leben lang
arbeitete sie hart, niemals beschwerte sie sich. Wer ihr zuhört, bekommt
eine leise Ahnung von ihrem außergewöhnlichen Durchhaltevermögen.
## „Wir sind die Letzten“
Doch nicht jeder schaffte es nach Kriegsende, wieder auf die Beine zu
kommen. Viele Opfer und ihre Angehörigen fanden nur schwer Anschluss an die
Gesellschaft. Denn obwohl sich in der Bundesrepublik der Nachkriegsjahre –
wenn auch spät – eine gesellschaftliche Debatte über die Verbrechen der
Nationalsozialisten entwickelte, setzte sich ihre Stigmatisierung fort –
auch weil die Verfolgung von „Asozialen“ nicht als etwas spezifisch
Nationalsozialistisches gesehen wurde.
Sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR wurden „Bettler“ und
„Landstreicher“ weiter inhaftiert, im Westen bis 1969, im Osten sogar bis
zur Wiedervereinigung. Und während politisch, rassistisch und religiös
Verfolgte Anspruch auf Entschädigung hatten, wurden „Asoziale“ vom § 1 des
Bundesentschädigungsgesetzes nicht berücksichtigt. Erst in den achtziger
Jahren führten die Länder Härtefonds für die „vergessenen Verfolgten“ e…
Doch eine breite öffentliche Debatte war dem nicht vorausgegangen.
Ilse Heinrich wusste daher nichts von ihrem Recht auf Entschädigung.
Niemand hatte sich nach Kriegsende für ihre Geschichte interessiert. Erst
in den neunziger Jahren trat die Forscherin Christa Schikorra an sie heran
und motivierte sie, Entschädigungen zu fordern. Nur weil ein Dokument
belegte, dass sie deportiert worden war, enthielt sie eine Entschädigung
und eine monatliche Zusatzrente. Die Forscherin bewegte Ilse Heinrich auch
dazu, ihre Geschichte öffentlich zu machen. Regelmäßig hält sie Vorträge.
2009 erhielt sie in Brandenburg das Landesverdienstkreuz, vor zwei Jahren
das Bundesverdienstkreuz. „Eine kleine Genugtuung“, freut sie sich, wenn
auch eine späte.
Wichtiger sind ihr die regelmäßigen Besuche bei Schulklassen. Sie will
junge Menschen darüber aufklären, wohin es führt, wenn Menschen aus der
Gesellschaft ausgeschlossen werden. „Wir sind schließlich die Letzten“,
gibt sie zu bedenken.
## Stigmatisiert bis heute
Bis heute gibt es keine zentrale Opfervertretung für die sogenannten
Asozialen. Auch das ist ein Grund dafür, dass sie im Erinnerungsdiskurs
wenig Beachtung finden. Der Historiker Oliver Gaida sieht Kontinuitäten in
der Ausgrenzung von Randgruppen in der Gesellschaft: „Obwohl die
Stigmatisierung von Armut im Nationalsozialismus eine nie dagewesene Form
erreichte, fing sie weder erst 1933 an noch hörte sie 1945 auf. Sie hält
bis heute an.“
Auch die Forschung ist nur rudimentär ausgeprägt. Es gibt kaum
Publikationen. Die Lebenswege der Verfolgten müssen vor allem über die
Täterinnen und Täter und die Verfolgerakten erschlossen werden. Wieder
einmal zeige sich, dass die angeblich mustergültige Aufarbeitung der
nationalsozialistischen Verbrechen ein Mythos sei, meint Gaida. Auf
Initiative der Humboldt-Universität wurden im April die vier
Stolpersteine auf dem Alexanderplatz verlegt. Oliver Gaida recherchierte
die Biografien der Opfer.
Es sind bis jetzt die einzigen Stolpersteine für sogenannte Asoziale in
Berlin.
24 Dec 2016
## AUTOREN
Diana Pieper
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.