# taz.de -- Neue Karten müssen her | |
> Gehen, in Bewegung bleiben: Mit einer umfassenden Ausstellung sowie einem | |
> Film- und Musikprogramm versucht das „Projekt Migration“ im Kölnischen | |
> Kunstverein, Geschichte aus der Perspektive der Migrationsbewegungen zu | |
> erzählen | |
VON KATRIN BETTINA MÜLLER | |
Hinter dem Kölner Hauptbahnhof führt eine Eisenbahnbrücke über den Rhein, | |
und hier beginnt das „Projekt Migration“. Tazro Niscino hat die fast | |
hundert Jahre alte Reiterstatue von Wilhelm II. mit einem Gerüst und einer | |
Treppe umgeben. Ganz oben geht man durch eine Tür und steht in einem | |
Wohnzimmer. Es ist an einem Sonntag voller Besucher, hauptsächlich | |
Spaziergänger. Aus dem Couchtisch in der Mitte ragen Hals, Kopf und Helm | |
des letzten Kaisers des Deutschen Reiches, und mit ihm auf Augenhöhe sitzt | |
ein Besucher und fotografiert. „Und was hat das mit Migration zu tun?“, | |
fragen die meisten ungefähr zehn Sekunden nachdem sie durch die Tür | |
getreten sind. | |
Das ist auf Seite 262 des kleinen Ausstellungsführers gut erklärt, aber wer | |
den noch nicht hat, erhält Auskunft vor Ort: Erstens ist Kaiser Wilhelm II, | |
Enkel von Queen Viktoria aus England, ein schönes Beispiel dafür, dass | |
Migration in europäischen Adelshäusern üblich und politische Praxis war. | |
Zweitens begann mit der Großindustrie in der Zeit von Wilhelm II eine | |
Zuwanderungspolitik, die zwischen willkommenen und unwillkommenen Nationen | |
unterschied. Drittens steht der Kaiser für die kurze Epoche deutscher | |
Kolonialherrschaft. Auf diese Zusammenhänge kommt erst mal fast keiner. | |
Geschichte aus der Perspektive von Migrationsbewegungen und nicht aus der | |
Erzählung über Nationalstaaten wahrzunehmen ist eben noch immer eine | |
ungewohnte Übung. | |
Niscinos Installation ist wie ein Prolog: Wenn es auch im „Projekt | |
Migration“ nicht mehr um Kolonien, sondern um die Veränderungen in | |
Deutschland und Europa seit der Zeit der Gastarbeiter geht, erscheint das | |
doch oft wie eine Verlagerung der Kolonien nach innen. Im Kölnischen | |
Kunstverein und in nahe gelegenen, leer stehenden Büroetagen versinkt man | |
in Videoinstallationen, kann sich in Archive und Interviews einfriemeln und | |
historische Dokumente sehen, die einen weit verzweigten politischen und | |
geografischen Kontext mehr andeuten als ausbreiten können. Dafür gibt es | |
einen 900 Seiten starken Katalog, der nicht zuletzt die Aufgabe löst, | |
unterschiedliche Herangehensweisen aus Forschung, Dokumentation und Kunst | |
zusammenzubringen. Zusammengearbeitet haben am Projekt Migration DOMiT, ein | |
in Köln angesiedelter Verein, der ein Dokumentationszentrum aufbaut und | |
sich schon lange für ein Museum über die Migration einsetzt, der Kölnische | |
Kunstverein, Ethnologen und Anthropologen der Universität Frankfurt und die | |
Hochschule für Gestaltung und Kunst, Zürich. | |
So verschieden die Erzählweisen auch sind, gemeinsam ist ihnen das | |
Anliegen, Migration als zentrale Kraft gesellschaftlicher Veränderung | |
sichtbar zu machen. Doch der Weg dahin ist schwer, kann er doch kaum auf | |
Muster großer Erzählungen zurückgreifen. Deshalb sind viele der Beiträge | |
von Filmemachern und Künstlern auch damit beschäftigt, die Formen des | |
Erzählens selbst zu überprüfen. | |
Das „Projekt Migration“ greift ein Datum auf: Vor fünfzig Jahren wurde ein | |
deutsch-italienisches Anwerbeabkommen unterzeichnet, dem viele weitere | |
folgten. Zwanzig Jahre später ungefähr entstanden die ältesten Arbeiten, | |
die dieser Spur folgen. Im Kölnischen Kunstverein etwa wird man von den | |
Bewohnern eines Hauses in München empfangen, die Zelimir Zilnik 1975 | |
filmte: Sie kommen einzeln und aufgeregt die Treppe herab, nennen ihren | |
Namen, erzählen von ihrer Arbeit, in Deutsch und Italienisch, und erwähnen | |
auch ihre Mieten. Der kurze Film ist einerseits ein freundliches | |
Gruppenporträt, jeder hat seine Rolle in der Hand; andererseits ist er | |
Dokument einer Immobilienspekulation, die sich mit Mietwucher, | |
Überbelegung, Ghettoisierung und schließlich dem Abriss an den | |
Gastarbeitern bediente. | |
Von 1976 stammt eine große Diaserie, die Candida Höfer den „Türken in | |
Deutschland“ widmete. Sie fotografierte viele der kleinen Läden, Gruppen | |
auf der Straße, Familien an öffentlichen Orten und ließ die Protagonisten | |
dabei Aufstellung nehmen wie für das Familienalbum. Ein privater Stolz | |
spricht oft aus den Bildern, man wundert sich vielleicht etwas, wie wenig | |
sich das Bild der Läden seitdem verändert hat. Plötzlich fällt etwas anders | |
auf, hier und in vielen der privaten Fotos aus dem Archiv DOMiT: wie | |
alltäglich europäisch die Kleidung der aus der Türkei gekommenen Frauen | |
über lange Zeit war. | |
Den Wegen über das Wasser ist Marcel Odenbachs poetisch-historischer | |
Video-Essay „Vom Kommen und Gehen“ (1995) gewidmet: Segelschiffe, | |
Ausflugsdampfer und Frachter werden in einer doppelten Projektion begleitet | |
von Flüchtlingsschiffen und U-Booten, die die Oberfläche der Gegenwart | |
durchstoßen. Odenbachs Beitrag hätte auch in vielen anderen internationalen | |
Kunstprojekten, die den Auswirkungen der Globalisierung folgen, Teil sein | |
können; denn tatsächlich ist die Kunst seit gut zehn, fünfzehn Jahren damit | |
beschäftigt, das Driften der Identitäten zwischen den Kontinenten zu | |
verfolgen. Die Dynamik der Migration ist sozusagen eine der | |
Hauptenergiequellen des Kunstbetriebs geworden. Gerade deshalb aber ist es | |
umso seltsamer, dass deren Geschichte trotzdem voller weißer Flecken ist. | |
Die Weltläufigkeit des britischen Commonwealth etwa hat in der Bild- und | |
Kunstproduktion einen viel größeren Effekt hinterlassen als die Geschichte | |
der Gastarbeiter in Deutschland – als ob deren Spuren im Konsum unmittelbar | |
verzehrt worden wären. Diese spezifisch deutsche Lücke will das Projekt | |
Migration beackern. | |
Für viele der Künstler heute liegt der Blick nach Osteuropa und zu den | |
jüngeren Verwerfungen nationaler Grenzen näher. Die Künstlerin Ann-Sofi | |
Siden hat an der Grenze Deutschland/Tschechien die dort entstandene | |
Prostitution recherchiert und erzählt davon mit Polaroidporträts und in | |
Tagebuchnotizen, die Gespräche mit Frauen, Kunden und Zuhältern | |
wiedergeben. In Berlin hat Tobias Zielony junge Männer fotografiert, nachts | |
im Park und in einem schmuddeligen Kino, wartend, schlafend und vom | |
Blitzlicht aus der Deckung gerissen. Man weiß nicht, von wo sie kommen, | |
aber der Kontext der Ausstellung bildet einen klaren Subtext zu ihrem Markt | |
der Körper. | |
Wer das Bild einer multikulturellen Buntheit von dieser Ausstellung | |
erwartet, wird überrascht sein, wie anders sie die Akzente setzt. Das | |
Kartenmaterial und die Sprache politischer Verwaltungen, die von der Gruppe | |
„An Architektur“ aufbereitet werden, verweisen ebenso wie die spezielle | |
Ausländer- und Zuwanderer-Ikonografie demografischer Grafiken, die Harun | |
Farocki in einem Stummfilm Revue passieren lässt, auf den engen | |
Zusammenhang von Migration und Sicherheitspolitik. „Ansturm auf Europa“ und | |
„Einfallstor Adria“ als Beschriftung einer Karte spricht eben eine ganz | |
andere Sprache als die Verzeichnung von „Camps for Foreigners in Europe“ | |
oder die Markierung „Mourir aux portes de L’Europe“. Die zuletzt genannte | |
Karte ist eines der bedrückendsten Ausstellungsstücke, eine Statistik über | |
die Toten, die auf Flüchtlingsschiffen im Mittelmeer ertranken oder in | |
Lastwagen erstickten. Von dieser Kontur der Festung Europa zieht die | |
Ausstellung eine Linie zurück, wenn sie in den dokumentarischen Kapitel | |
unter anderem vermittelt, wie die Anwerbepolitik der frühen Bundesrepublik | |
in der Zeit des Kalten Krieges auch Mittel der Konsolidierung des Westens | |
war. | |
Im Raum mit dem Kartentisch ist auch eine Arbeit von Christian Philipp | |
Müller, „Grüne Grenze“, die den Maßstab der Wahrnehmung wieder ändert. … | |
Serie von Dias zeigt die Rückenansicht eines Wanderers, der über Bäche | |
springt, sich durch Gestrüpp arbeitet und sich eine Topografie Schritt für | |
Schritt erarbeitet. Daneben hängen Landschaftszeichnungen im Stil alter | |
Stiche und Wegbeschreibungen, die über die wenig kontrollierte Grenzen | |
zwischen Deutschland, Österreich, Tschechien, Ungarn, Italien und der | |
Schweiz führen. Was Müller im Gestus des Freizeitvergnügens aufführt, | |
verlagert eine abstrakt gewordene Ordnung zurück in die Erfahrung des | |
Körpers. Hier darfst du gehen, hier nicht, hier darfst du leben, hier | |
nicht. Die Gründe dafür kommen nie aus dem eigenen Leben, sie sind immer | |
historisch gesetzt. | |
Überhaupt, das Gehen. Gehen, gehen, Plastiktüten tragen, unermüdlich sind | |
die „Bag people“ auf schmalen Trampelpfaden unterwegs in den Bildern von | |
Mladen Stilinovic, der ebenfalls nur Rückenansichten zeigt. Stilinovic | |
folgte den Plastiktütenträgern zwischen Vororten Zagrebs und einem | |
Schwarzmarkt, der nach dem Zusammenbruch des Sozialismus als Mittel des | |
Überlebens entstand. Mit dem Thema der neuen Armut berühren die Bilder eine | |
der Motive der Fortsetzung der Migration. Wolfgang Tillmanns hat davon | |
einen weiteren Schauplatz aufgenommen, die Polenmärkte in Berlin 1989. | |
Gehen, gehen, immer in Bewegung sein zeichnet auch die Musikvideos von | |
Brother’s Keepers und Advanced Chemistry aus, die in den Ausstellungen | |
laufen. Körperliche Unruhe, nicht ankommen, unterwegs sein wird so zu einer | |
Bewegung, die zwischen den unterschiedlichen Erzählformen und kulturellen | |
Idiomen des „Projekts Migration“ vermittelt. | |
Dem „Soundtrack der Migration“ gelingt es am einfachsten, ein Bild von der | |
Veränderung der Alltagskultur durch die Einwanderer und die nachfolgenden | |
Generationen herzustellen. Deshalb ist es nur logisch, dass die Ausstellung | |
durch Wochenenden mit Musikprogrammen ergänzt wird. Auch die Ausstellung | |
selbst ist kein Schlusspunkt des „Projekts Migration“, das vor drei Jahren | |
von der Kulturstiftung des Bundes angestoßen wurde, sondern sie versteht | |
sich vielfach als Fenster, um auf laufende Forschungs- und | |
Sammlungsprojekte aufmerksam zu machen. Den großen Entwurf eines anderen | |
Blicks auf die Geschichte, zu dem die Wandtexte immer wieder Anlauf nehmen, | |
zu füllen gelingt dem Material dabei noch nicht; zu sehr zerfranst die | |
Geschichte zwischen Zugriffen der Dokumentation und der Kunst, und wohl | |
auch zwischen den unterschiedlichen Interessen der Träger des Projektes. | |
Doch gerade dadurch stellt sich auch ein Gefühl dafür her, wie viele | |
Geschichten noch unerzählt blieben, und man beginnt die Ausmaße der offenen | |
Fragen zu ahnen. | |
Was die Migration zum Beispiel für die Entwicklung der Herkunftsländer | |
bedeutet hat, beginnt man sich vor eine Vitrine aus dem DOMiT-Archiv zu | |
fragen: Hier liegen Straßenkarten, private Fotos von „Ersten Autos“ und | |
ihren stolzen Besitzern, Fotos von Autoleichen an den Transitwegen und | |
Grundrisse der Häuser, von denen die Rückkehrer träumten. Und wieder muss | |
ein kleiner Ausschnitt genügen, obwohl man inzwischen oft erfahren hat, wie | |
groß die Unterschiede zwischen den verschiedenen Migrationskulturen sind: | |
„Deutschländersiedlung“ heißt die Dokumentation der Filmemacherin Aysun | |
Bademsoy. Wie Luxustouristen im eigenen Land, in neuen Häusern, gut | |
eingerichteten Wohnungen und bewachten Siedlungen außerhalb der Städte | |
leben die „Deutschländer“, und was sie vor allem aus Deutschland mit in die | |
Türkei zurückgebracht haben, scheint das Gefühl der Isolation und des | |
verlorenen Zusammenhalts. Verlorene Lebenszeit scheinen den Älteren ihre | |
Arbeitsjahre in Deutschland, während die Jüngeren, dort geborenen, in der | |
Türkei oft nichts mehr mit sich anzufangen wissen. Wenn sie davon erzählen, | |
werden für einen Moment auch die Konflikte zwischen den Generationen der | |
Migranten spürbar und ihre ganz unterschiedliche Bewertung der eigenen | |
Vergangenheit. Wohl auch darin liegt begründet, warum die Erzählungen der | |
Geschichte so bruchstückhaft bleiben müssen. | |
„Projekt Migration“, im Kölnischen Kunstverein und an weiteren Orten in | |
Köln, Di.–So. 13–19 Uhr, Do. 13–21 Uhr, bis 15. Januar 2006. Katalog 48 … | |
Veranstaltungen unter [1][www.projektmigration.de] | |
7 Oct 2005 | |
## LINKS | |
[1] http://www.projektmigration.de | |
## AUTOREN | |
KATRIN BETTINA MÜLLER | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |