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# taz.de -- Ganz wie die Großväter
> Vor 50 Jahren teilten Roosevelt, Churchill und Stalin bei der
> Jalta-Konferenz die Welt unter sich auf. In Maastricht trafen sich nun
> erstmals die drei Enkel der Staatsmänner, um über Europa zu diskutieren –
> wobei sich vor allem Stalin über seinen streitbaren Nachfahren gefreut
> hätte
AUS MAASTRICHTBERND MÜLLENDER
Als der kleine drahtige Mann das Podium betritt, intoniert ein
Jazz-Quartett schön verswingt die „Internationale“. Einzelne der rund 800
ZuhörerInnen grinsen. Der Diskutant wird als Jewgeni Dschugaschwili
vorgestellt, Enkel des einstigen Marschalls der Roten Armee und
Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare der Union der Sozialistischen
Sowjet-Republiken, Joseph Wissarionowitsch Dschugaschwili, Kriegsname:
Stalin.
Höflicher Applaus plätschert durch das Auditorium des Kongress-Centers von
Maastricht. Der 69-jährige Stalin-Spross sollte zum Star des Tages werden.
Die Universität Maastricht hatte zur Eröffnung einer neuen Politik-Fakultät
(„Graduate School of Governance“) eine, so der Gründungsdirektor,
„provokante, riskante und herausfordernde Idee“: 60 Jahre nach der
Konferenz von Jalta (siehe Kasten) laden wir einfach die Enkel der drei
Verhandler vom Februar 1945 ein. Und so sitzen neben Dschugaschwili Curtis
Roosevelt (75) und Winston S. Churchill (65). Ihr Thema: „Yalta And
Beyond“, Europa zwischen Kriegsgeburt damals und Pubertätsproblemen heute.
Erstmals seit 1945 waren drei Familienmitglieder der Jalta-Führer wieder an
einem Tisch, dort, wo 1992 die Verträge von Maastricht unterzeichnet worden
waren. Diverse EU-Größen sind in den niederländischen Südzipfel gekommen,
Vertreter von Weltbank und OECD, lokale Größen aus Wirtschaft und
Gesellschaft, Politiker und Diplomaten aus aller Welt.
Die Eröffnungsansprache hatte Hollands Kultusministerin übernommen, die
Grußworte des Bürgermeisters galten „der Wiedervereinigung jener Familien,
die damals den Weg Europas vorgezeichnet haben“. Nur die Königin fehlte.
Jewgeni Dschugaschwili, der Gast aus dem georgischen Tiflis, beginnt
streitlustig: „Churchill und Roosevelt waren damals schon Feinde der
Sowjetunion. 1941 waren wir allein. 1942 waren wir allein und 1943 auch.
Alle Versprechen einer neuen Front im Westen wurden vertagt und vertagt.“
Churchill schüttelt belustigt den Kopf und erklärt, die Invasion habe eben
eine Vorbereitungszeit von zwei Jahren gebraucht. Dschugaschwili grimmig:
„Während wir gegen die Nazis gekämpft haben, haben ihre Leute in London
herumgesessen, Mister Churchill!“ Das Publikum klatscht, nur vereinzelt
murren welche.
Dschugaschwili, der Einzige ohne Schlips auf dem Podium, ist pensionierter
Oberst der Roten Armee und studierter Militärhistoriker: „Nur die Gefahr
vereinte die drei von damals. Sobald der Krieg vorüber war, wollte
Churchill Moskau bombardieren. Er wollte einen neuen Krieg und unser Land
strangulieren.“ Dessen Enkel protestiert: „So ein Unfug!“ Dschugaschwili
behauptet, er habe Dokumente. Leider kann er sie nicht vorweisen. Später
zeigt er die Kopie einer Pensionsbescheinigung seiner Armee. Warum, weiß
man nicht recht.
Aber der Mann mit dem grauen Schnauzbärtchen à la Großpapa meint es sehr
ernst: „Sehr stolz“ sei er, Stalins Enkel zu sein, natürlich wisse er um
dessen Image als Despot, „aber die Reputation ist bei uns ganz anders als
hier im Westen. Stalin hat die Wehrmacht im Osten besiegt, die westlichen
Supermächte aus Russland herausgehalten, den Frieden gesichert und
erfolgreich die Armut bekämpft.“
Die beiden Enkel-Kollegen lauschten den Lobpreisungen des Russen mit streng
durchgebürstetem Diplomaten-Habitus und lieferten ansonsten die bekannte
Statements von Gut und Böse, von der kommunistischen Gefahr, von den Werten
des Westens, den Marktkräften. Dschugaschwili: „Natürlich, Sie müssen Ihre
Kartoffeln überall verkaufen.“ Churchill, ein Abziehbild des eloquenten
britschen Konservativen: „Und Sie machen den besten Wodka draus.“ Immerhin,
da hatten beide gemeinsam was zu lachen.
Churchill, ein charmanter Ultra, saß 27 Jahre für die Konservativen im
britischen Unterhaus und war zeitweilig verteidigungspolitischer Sprecher
von Maggie Thatcher. Ein Mann, der die Sowjetunion wie Reagan gern „Reich
des Bösen“ nannte und jetzt behauptete: „Ohne den Westen wäre die Rote
Armee damals bis zur Nordsee marschiert.“
Curtis Roosevelt, lange Jahre UN-Diplomat der USA, in Maastricht mit seinen
75 Jahren das älteste der Kindeskinder, beklagte „die heutige europäische
Arroganz, über die USA zu urteilen“. Richtig sei vielmehr: „Wir sind nun
mal die letzte Supermacht. Das ist zu akzeptieren.“ Aber der asketische
Alte mit holländischen Vorfahren sagte auch: „Der Fall der Berliner Mauer
wurde in den USA als Event betrachtet. Niemand machte sich Gedanken, was
das für Russland bedeuten würde.“
Im Publikum sitzen auch einige Russen, die manchmal schallend auflachen
oder demonstrativ applaudieren zu den in schnellem Russisch vorgetragenen
Worten ihres Landsmannes. Und sie protestieren, weil die englische
Übersetzung auf dem Monitor selten mitkommt und Passagen offenbar
unterschlägt. In einer Pause schimpft Dschugaschwilis Sohn Jacob, 33, der
Papa aus Georgien bei dessen erster offizieller Mission in den Westen
begleitet hat: „Da geht so viel verloren. Sehr ärgerlich.“ Stalins Urenkel
dokumentiert die Veranstaltung per Handycam. Er berichtet, sein Vater sei
Mitgründer der „Union der Offiziere, für deren Einzug ins russische
Parlament er sich bei der Wahl 2000 engagiert hat“. Diese Union sei „keine
stalinistische Partei, aber schon so eine Art Kommunisten“. Hier in
Maastricht zeige Papa „eine gute Performance“.
## „Stalin war wie Napoleon“
Jakob Dschugaschwili hat es vor einigen Jahren während seiner Zeit als
Kunststudent in Glasgow zu einer gewissen Berühmtheit gebracht, als ihn
viele Zeitungen Großbritanniens wegen seiner ausladenden Aktmalereien
verbunden mit der seiner besonderen Herkunft seitenlang porträtierten. Der
Londoner Times erklärte Dschugaschwili, Stalin bedeute so viel wie „man of
steel“, der Stählerne also: „Er war ein großer Führer, wie Napoleon,
Dschingis Khan und Cäsar.“ Worauf das Blatt ihn „den großen Urenkel eines
Tyrannen“ nannte. Die Mail On Sunday höhnte geschichtsbewusst: „Unter
Stalin wäre ein solcher Künstler im Gulag verschwunden.“
In der Maastrichter Diskussion mit Studenten erklärt Vater Dschugaschwili,
es mache ihn „krank“, zu sehen, „wie arm Russland geworden ist. Und ich b…
sehr traurig, wie überwältigend reich die Menschen hier sind.“ Und mit
funkelnden Augen fügt er hinzu: „Jelzin hat bei uns alles zerstört.“ Beim
Thema Irak wird er besonders giftig: „Wenn heute dort Patrioten für ihre
Freiheit kämpfen, nennt das der Westen Terrorismus.“
Churchill lobt die Irak-Besatzung schnell als „exzellenten Job“, Demokrat
Roosevelt spricht überraschend von „einem großen Fehler“. Dschugaschwili,
bestärkt von so viel Zuspruch: „Der Westen hat heute keine Alliierten mehr,
sondern nur noch Interessen. Der Irak wurde versklavt. Ihr
Marionetten-Regime dient nur dazu, an Rohstoffe zu kommen. Ihr nächstes
Ziel ist dann bald Russland.“
Auch Veronica, 21, aus Minsk lauscht den Diskussionen. Seit elf Jahren ist
sie im Westen und studiert in Maastricht internationale Politik. Natürlich,
sagt sie in perfektem Englisch, sei Jewgeni Dschugaschwili „nicht aus
unserer Welt“, aber „so enthusiastisch über die Geschichte, wie wir junge
Leute es aus den Erzählungen unserer Großeltern kennen. Viele Menschen in
Russland leben noch so stark in der Vergangenheit.“ Ihre Kommilitonin,
Irina, 22, aus Kiew, ergänzt: „Dschugaschwili hat mit viel Liebe, Seele und
Herz über Russland gesprochen, beeindruckend und toll.“ Ihr mache es
„richtig Angst, dass das Publikum hier kein Gefühl für diese Seite der
Geschichte hat“. Beide sprechen sehr differenziert über den Graben zwischen
den Kulturen: „Es wird mal unser Job sein, da Brücken zu schlagen.“
Je länger der Nachmittag dauert, desto bizarrer wirkt die Veranstaltung.
Immer frappierender ähneln die drei Enkel in Aussehen und Argumenten ihren
Großvätern, deren überlebensgroße Fotos grobkörnig wie Mahnmale hinter
ihnen hängen. Dem Jung-Churchill fehlt nur eine Zigarre. Der Moderator
spricht Dschugaschwili einmal versehentlich mit „Mister Stalin“ an. Niemand
schien es zu merken. Fühlten sich alle längst auf einer Zeitreise, 60 Jahre
zurück?
„Mir ging das stellenweise wirklich so“, sagte nachher Professor Chris de
Neubourg, Direktor der neuen Fakultät: „Man spürte ganz intensiv, so könnte
das 1945 gewesen sein, so haben die Großväter damals miteinander geredet.“
Seltsam intensiv fand er die Statements, fast unheimlich. „Ich habe immer
wieder gedacht, genau so haben die drei Originale damals auch
zusammengesessen.“
## Komplimente auf dem Klo
Churchills Nachfahre meinte nachher: „Schon als wir drei uns gestern Abend
beim Dinner kennen gelernt haben, haben wir schnell festgestellt, wie sehr
unsere Meinungen unsere Großväter spiegeln.“ Dschugaschwili habe ihm einmal
gesagt: „Mister Churchill, da klingen sie jetzt aber anders als Ihr
Großvater.“ Diese Bemerkung, lächelt der Brite, habe er „als großes
Kompliment aufgefasst“.
Später, nach Ende der Debatten, wird er sich revanchieren – auf dem
Pissoir. Vor dem Pinkelbecken neigt Churchills Enkel seinen Kopf zu
Nebenmann Jacob Dschugaschwili: „Ihr Vater“, sagt er anerkennend, „ist
wirklich ein großer Kämpfer.“
7 Oct 2005
## AUTOREN
BERND MÜLLENDER
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