# taz.de -- Hilferuf aus Wilhelmsburg | |
> BRANDBRIEFE Schulleiter warnen: 40 Prozent der Schüler haben später keine | |
> Chance auf dem Arbeitsmarkt. Sie fordern eine „neue Form von Schule“ | |
Seit Herbst wird in Hamburg wieder der Lernstand der Schüler untersucht – | |
und die Rückmeldungen für die Kinder auf den Elbinseln Veddel und | |
Wilhelmsburg sind so ernüchternd, dass Schulleiter Kay Stöck von der Schule | |
Stubenhöfer Weg einen Brandbrief entwarf. 14 Schulleitern haben den Brief | |
inzwischen unterschrieben: In Sorge um die Kinder und in Fürsorge für die | |
Mitarbeiter zeigen sie kollektiv ihre Überlastung an. | |
Für die so genannten „Kermit“-Tests, die in Klassen 3,5 und 8 schon in | |
früheren Jahren durchgeführt wurden, liegt eine Auswertung für die ganze | |
Elbinsel-Region vor. In den Grundschulen beherrschen demnach die Hälfte der | |
Drittklässler Rechnen, Lesen und Schreiben nur auf „Erstklässler-Niveau“. | |
In den Jahrgängen 5 bis 8 der Stadtteilschulen liegen 50 bis 70 Prozent der | |
Schüler im untersten Leistungsbereich und nur zwei Prozent im „oberen | |
Bereich“. Nahezu alle Leistungsstärkeren besuchten das einzige Gymnasium | |
vor Ort, so der Brief. Doch auch dort gebe es im Vergleich zu anderen | |
Gymnasien Lernrückstände von bis zu einem Jahr. | |
Das Fazit der Schulleiter: 40 Prozent der Elbinsel-Schüler haben von ihren | |
Schulleistungen her „kaum eine Chance, auf dem regulären Arbeitsmarkt | |
unterzukommen“. „Die Kinder sind nicht dumm“, sagt Stöck zur taz. Sie k�… | |
zu 80 bis 90 Prozent aus Migrantenfamilien und hätten viele persönliche | |
Probleme. Hinzu komme ein hoher Anteil mit erheblichen Erziehungsdefiziten. | |
Die Lehrer müssten ständig Regeln setzen und seien dadurch „extrem unter | |
Stress“. | |
Nötig sei, ähnlich wie bei der Berliner Rütli-Schule, „radikal neu zu | |
denken“. Dafür müsste die Regionale Bildungskonferenz | |
Entscheidungskompetenz bekommen. Stöck: „Wir brauchen eine Bildungspolitik | |
für Wilhelmsburg“. | |
Mit Hilfe eines externen Organisationsentwicklers müsse eine „neue Form von | |
Schule“ entstehen. Die Kinder bräuchten praktische Erfahrungen, etwa in | |
Produktionsschulen oder Schülerfirmen, die sie motivieren. Bestimmte Fächer | |
wie Mathe müssten sie aber auch „knallhart bimsen“. Und die Schulen | |
bräuchten die Freiheit, abseits formaler Prüfungsordnungen Abschlüsse zu | |
vergeben. Hinzu kommen materielle Forderungen wie Doppelbesetzung, kleine | |
Klassen mit nur 19 Kindern, mehr therapeutische Unterstützung und | |
„Netzwerkmanager“. | |
Die Schulbehörde sehe das Schreiben „konstruktiv“, sagt Sprecher Peter | |
Albrecht. Die Schulleiter haben am Montag ein Gespräch mit Schulamtsleiter | |
Norbert Rosenboom. Stöck ist enttäuscht, dass Schulsenator Ties Rabe (SPD) | |
nicht dabei ist. Das kritisiert auch Grünen-Politikerin Stefanie von Berg. | |
Es sei mutig von den Schulleitern, die Realität anzusprechen. Nehme Rabe | |
die Sache nicht ernst, könnten weitere Briefe aus ähnlichen Stadtteilen | |
folgen. „Der Senator muss sich persönlich mit dem Problem befassen.“ KAIJA | |
KUTTER | |
12 Dec 2012 | |
## AUTOREN | |
KAIJA KUTTER | |
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