# taz.de -- Die Nische polieren, bis sie glänzt | |
> FREIRAUM Matthes & Seitz ist der Verlag der Stunde. Die Bücher gewinnen | |
> Preise, abseitige Autoren macht das kleine Team in Prenzlauer Berg zum | |
> Verkaufsschlager. Was ist ihr Erfolgsrezept? | |
Bild: Helmholtzplatz, Prenzlauer Berg: In den Verlagsräumen sind Lektorin Meik… | |
Von Susanne MessmerFotos Karsten Thielker | |
Natürlich ist es ein Zufall. Und trotzdem: Es ist ein schönes Sinnbild, | |
dass es den Berliner Verlag Matthes & Seitz ausgerechnet in die Göhrener | |
Straße in Prenzlauer Berg verschlagen hat, die auch Göhrener Ei genannt | |
wird, wegen ihrer seltsamen, runden Hufeisenform. Es ist, als säße man | |
hier, in den Verlagsräumen von Matthes & Seitz, die sich über zwei kleine, | |
gegenüber liegende Ladengeschäfte verteilen, im Auge eines Sturms. Gleich | |
um die Ecke wimmelt es rund um Helmholtz- und Kollwitzplatz: die | |
Fresstempel, die Szenebars, die Kindercafés. | |
Denn solche Aufgeregtheiten lassen Andreas Rötzer, der den Verlag Matthes & | |
Seitz vor zwölf Jahren in Berlin neu gründete, kalt. Der 44-Jährige | |
unterhält sich lieber mit sanfter Stimme über seine Werkausgabe zu Warlam | |
Tichonowitsch Schalamow, zu der ihn ein Buch eben jenes Autors inspirierte, | |
das er im Antiquariat ausgegraben hatte. Die Werkausgabe führte zu einer | |
Neuentdeckung der Texte des russischen Autors in Deutschland. Seine Bücher | |
gehören zu den wichtigsten Schriften über die Gulags, die sowjetischen | |
Zwangsarbeiterlager. | |
Auch spricht Rötzer gern über das verworrene Diagramm hinter seinem | |
Schreibtisch, das vom Berliner Künstler und Philosophen des „überstürzten | |
Denkens“ stammt: Markus Steinweg, der gerade in aller Munde ist. | |
Oder über das erste Kinderbuch in seinem Programm, ein Buch über zwei Wale | |
von Esther Kinsky, die für ihren letzten Roman bei Matthes & Seitz gerade | |
den Chamisso-Preis, eine renommierte Auszeichnung, bekommen hat. | |
Andreas Rötzer, ein blasser schmaler Mann mit verschmitztem Lächeln, | |
unterhält sich also am liebsten über Nischen. Über Nischen, die er so | |
gründlich poliert und entstaubt, bis sie sehr viele Leser sehr sexy finden. | |
Hier, im Göhrener Ei, hat Andreas Rötzer, in aller Seelenruhe einen Verlag | |
entwickelt, der gerade als Verlag der Stunde gefeiert wird – von Kritikern, | |
von Buchhändlern, aber auch und vor allem von seinen Lesern. Im letzten | |
Herbst hat er mit einem seiner Bücher den Deutschen Buchpreis gewonnen. Man | |
erzählte sich auf der Frankfurter Buchmesse, den neuen Roman von Frank | |
Witzel – ein Autor aus dem Hessischen, den bis dato nur wenige kannten – | |
dieser neue, sperrige Witzel mit seinen 800 Seiten, den habe keiner haben | |
wollen, bis er dann bei Matthes & Seitz landete. Nächste Woche machen | |
Matthes & Seitz auf der Buchmesse in Leipzig schon wieder von sich reden. | |
Gleich zweimal wurden sie für den Leipziger Buchpreis nominiert, im Segment | |
Sachbuch und Übersetzung. | |
Aber was ist der Grund für die Preise, was macht Matthes & Seitz so | |
erfolgreich? Wie um alles in der Welt schafft es dieses gerade mal | |
achtköpfige Team, etwa 50 Bücher im Jahr zu veröffentlichen, die | |
gleichzeitig abseitig und stachelig sind, unterhaltsam und schön, gut | |
verkäuflich und viel rezipiert? „Wir funktionieren wie ein Thinktank“, | |
bringt es Verlagschef Andreas Rötzer selbst auf den Punkt. | |
Und wirklich: Nicht nur hier in den Verlagsräumen hat man das Gefühl, dass | |
bei Matthes & Seitz viel passiert. Dass hier alle sehr viel arbeiten, noch | |
mehr wagen, und dass hier jeder mit jedem über alles spricht – ganz egal, | |
ob gerade einer der Lektoren, Tilman Vogt oder Meike Rötzer, auf einen | |
Sprung herüberkommen oder kurz eine Übersetzerin hereinschneit. | |
Und die Fans und Leser der Bücher dieses Verlags? Sie haben auch in vielen | |
Buchhandlungen, von denen einige in dieser Stadt eine eigene Ecke für den | |
Verlag eingerichtet haben, das Gefühl, abgeholt zu werden. Sie haben das | |
Gefühl, an etwas teilnehmen zu dürfen, was sich frisch anfühlt und | |
aufregend. Auch die Autoren von Matthes & Seitz sehen das so: „Die machen | |
gerade den Diskurs“ – so formuliert es Zora del Buono, die kürzlich ihr | |
bislang erfolgreichstes Buch bei Matthes & Seitz veröffentlicht hat, „Das | |
Leben der Mächtigen“, ein Buch über Bäume, das in der Reihe „Naturkunden… | |
erscheinen ist. | |
Überhaupt, die „Naturkunden“. Vielleicht lässt sich an ihnen am besten | |
erzählen, was Matthes & Seitz anders machen als die anderen und welche | |
Lesergruppen der Verlag sehr gezielt bedient. Gegründet hat Rötzer sie vor | |
vier Jahren, gemeinsam mit der Autorin Judith Schalansky, die die Reihe | |
herausgibt. Die Idee: Das sogenannte Nature Writing nach Deutschland zu | |
holen, das literarische Schreiben über Natur, das in den USA eine lange | |
Tradition hat. Die „Naturkunden“, bislang 26 bibliophile Bücher, schlugen | |
voll ein: besonders die Tierporträts, 18 Euro teure Bändchen über | |
unterschätzte Tierarten wie Krähen, Schweine, Esel. Viele von ihnen | |
erreichten Auflagen im fünfstelligen Bereich. | |
## Die „Naturkunden“-Reihe: analoge Gegenwelten | |
Es ist, als seien die „Naturkunden“ direkt auf die Bedürfnisse einer sehr | |
bestimmten Zielgruppe hin konzipiert worden. Die Bücher sind hübsch | |
illustriert, auf schönem Papier in Deutschland gedruckt, einige haben sogar | |
teuren Kopffarbschnitt: das heißt, die Schnittkanten der oberen | |
Seitenränder sind farbig. Die „Naturkunden“-Bändlein sind ein Statement in | |
einer Buchbranche, die in Zeiten zunehmender Digitalisierung im Umbruch | |
ist. „Digitalisierung?“, fragt Andreas Rötzer nur zurück und wischt mit | |
einer nonchalanten Bemerkung das Thema E-Books und E-Reader vom Tisch. „Das | |
wird so in Deutschland nicht mehr kommen“, sagt er. „Das ist nur eine | |
Brückentechnologie.“ | |
Die „Naturkunden“ treffen eine Sehnsucht vieler Großstädter – besonders | |
vielleicht all jener, die sich eher mit Google Maps durch die freie Natur | |
bewegen als zu Fuß. Die aber trotzdem finden, in dieser Welt sei alles in | |
viel zu großem Maße erklärt, begriffen, erforscht und vermessen. Es sind | |
genau diese Leser, die finden: Die Natur ist eine analoge Gegenwelt. Sie | |
ist das letzte Funkloch, in dem wir Kontakt zum Außeralltäglichen aufnehmen | |
können. Auch wenn wir natürlich wissen, dass selbst die wildeste Landschaft | |
schon längst kein unbeschriebenes Blatt mehr ist. | |
Verlagsleiter Rötzers ist der Sohn eines Metzgers und einer Angestellten. | |
In deren Haushalt gab es nur ein Buch, nämlich eine Ausgabe von Leo | |
Tolstois „Anna Karenina“. Bis heute, sagt er, verspürt er eine Art | |
„Bildungsnachholbedürfnis“. Nach dem Studium musste Rötzer sich seine | |
Promotion finanzieren. Also fing er als Buchhalter beim alten Verleger Axel | |
Matthes an, der Matthes & Seitz 1977 mit Claus Seitz gegründet hatte. | |
Damals hatte der Verlag Kultstatus, es war ein 68er Verlag, Matthes & Seitz | |
verlegten vor allem die französischen Renegaten der Avantgarde in | |
Deutschland: Antonin Artaud und George Bataille zum Beispiel, die bis heute | |
weitergeführt werden von Rötzer. „Das hatte für mich einen großen Zauber�… | |
sagt er, „ich war anfangs sogar ehrfürchtig.“ | |
Vielleicht musste genau so einer kommen wie Andreas Rötzer, um einen | |
solchen Verlag in Schwingungen zu versetzen. Ein Verrückter, ein | |
Ehrfürchtiger, der von sich sagt, dass er alle seine Bücher liebt. Aber | |
auch ein Marketingexperte, der es versteht, schwierige Literatur als | |
Hochgenuss zu verkaufen. | |
Themen entdecken, Experimente wagen und damit für eine Zielgruppe | |
publizieren, die genau dies schätzt, die sich eingebunden fühlt in diesen | |
„Vibrations- und Kommunikationsraum“, wie der Verlag einmal beschrieben | |
wurde: Das ist es, was Matthes & Seitz besser kann als viele andere, auch | |
viele andere größere Verlage. | |
Und das finden auch die Autoren bei Matthes & Seitz. Zum Beispiel Zora del | |
Buono mit ihrem Buch über Bäume, über das sie anderntags bei einem | |
Spaziergang durch den Kreuzberger Viktoriapark erzählt. Von Anfang an habe | |
sie sich „verstanden“ gefühlt vom Verlag, aufgenommen „wie in einer | |
Familie“. Stunden habe sie mit ihrer Lektorin telefoniert. Was zählt es da | |
schon, dass sie, obwohl das Buch sicher in die dritte Auflage geht, bislang | |
gerade mal ihre Reisen zu den Bäumen in ganz Europa und Amerika | |
refinanziert hat? | |
„Bei mir steht die Ökonomie erst an dritter oder vierter Stelle“, sagt auch | |
Philipp Schönthaler an einem Morgen voller Frühlingslicht im Kreuzberger | |
Café. Sein drittes Buch, ein Sachbuch über den Survival-Trend in den 80er | |
Jahren, als sich wohlsituierte Westeuropäer freiwillig in Urwäldern | |
aussetzen ließen, ist gerade bei Matthes & Seitz erschienen. | |
## Selbstausbeutung? Ja sicher, sagt der Verlagschef | |
Er fühle sich hier vor allem unterstützt und inspiriert, sagt Schönthaler. | |
Sein Buch entstand aus der Idee zu einem Aufsatz. Andreas Rötzer ermutigte | |
ihn, mehr daraus zu machen. Und als er sein erstes Manuskript lieferte, | |
riet ihm Lektor Tilman Vogt, es um literarische und popkulturelle Bezüge | |
anzureichern, es damit anschlussfähiger zu machen. Was macht es da, dass | |
Schönthaler, der erst vor Kurzem beschlossen hat, die Uni endgültig zu | |
verlassen und freier Autor zu werden, noch nicht so genau weiß, ob er durch | |
diese literarische Nische, die er da gefunden hat, eines Tages die Miete | |
wird zahlen können. Er ist in einem Laden gelandet, wo Dinge ermöglicht | |
werden. Das ist ihm das Wichtigste. | |
Selbstausbeutung? Ja sicher, sagt Rötzer. Ausbeutung der Autoren, bei | |
kleinen Verlagen oft ein Thema? Die Vorschüsse bei Matthes & Seitz können | |
sich, auch in den Fällen Zora del Buono und Philipp Schönthaler, mit denen | |
der großen Konkurrenz messen, sagt Rötzer. Außerdem war Rötzer auch vier | |
Jahre Buchhalter bei einem Verlag, der damals mit dem Rücken zur Wand | |
stand. Als Rötzer den Verlag kaufte, gab es bei Matthes & Seitz nur noch | |
acht laufende Projekte. Heute sind es an die 200, sagt er. Bilanzieren muss | |
Rötzer auch können, ohne rechnen geht es nicht. | |
Und was macht er mit dem Geld, das er zum Beispiel durch den Deutschen | |
Buchpreis für Frank Witzel verdient hat? Der vielleicht wichtigste | |
Buchpreis im Lande treibt die Auflagen zuverlässig in die Höhe. „Bisher | |
haben wir nur eine höhere fünfstellige Stückzahl verkauft“, winkt Rötzer | |
ab, Auflagen wie diese sei man gewohnt. | |
Erst später verrät Andreas Rötzer: Es wird dank Buchpreis ein Stipendium | |
geben: für Naturschriftsteller. Auf einer Insel bei Rügen. Die ist nicht | |
einmal einen Quadratkilometer groß. Eine Art Göhrener Ei unter den Inseln. | |
12 Mar 2016 | |
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