| # taz.de -- Brecht-Bibliothek: Der große Buch-Benutzer | |
| > Ein intensiver Leser muss kein großer Buchbesitzer sein. Das kommentierte | |
| > Verzeichnis der Bibliothek Bertolt Brechts zeigt: Er las viel – und besaß | |
| > wenig. | |
| Bild: Ein großer Leser, kein großer Sammler: Bertolt Brecht | |
| Eine große Bibliothek ist es nicht – jedenfalls nicht für einen Autor | |
| seines Rangs. Gut viertausend Titel umfasst Brechts Bibliothek. So mancher | |
| wird sagen, da hab ich mehr. Hat Brecht sich etwa wirklich, wie ihm einige | |
| nachsagen, mehr referieren lassen, statt selbst zu lesen? „Marx studiert | |
| hat er nicht. Korsch hat ihm alles Notwendige zusammengefaßt“, behauptete | |
| Peter Weiss. Ist Brechts Parole „Als ich 'Das Kapital’ von Marx las, | |
| verstand ich meine Stücke“ von 1928 nur ein Akt im Schauspiel genialischer | |
| Selbstinszenierung, das uns der große BB aufführte? | |
| Schaut man in das jetzt vorliegende kommentierte Verzeichnis der Bibliothek | |
| Brechts, scheinen die Zweifler recht zu bekommen. Da findet sich zwar | |
| gleich zwei Ausgaben des „Kapitals“, allerdings von 1932 und lediglich mit | |
| wenigen Anstreichungen und einer Widmung von Karl Korsch. | |
| Doch der Widerspruch lässt sich auflösen. Zum einen war Brecht kein Sammler | |
| von Büchern. Sie zu lesen war ihm wichtiger, als sie zu besitzen. Wenn ihm | |
| ein Buch imponierte, veranlasste er auch seine Freunde, es zu lesen. Die | |
| Bücher wanderten. Zudem war Brecht ein eifriger Benutzer öffentlicher oder | |
| privater Leihbibliotheken. Das allein aber erklärt die Lücken nicht. | |
| Erst die 15 Jahre Exil schlugen ins Kontor: jeder Umzug eine Dezimierung, | |
| keine Neuankunft ohne Verlustmeldung. Schon der lebensgefährliche Versuch | |
| von Brechts Mitarbeiterin Elisabeth Hauptmanns, in Berlin verbliebene | |
| Bücher und Arbeitsmaterialien aus Deutschland zu schmuggeln, scheiterte. | |
| Später, auf der Flucht von Schweden nach Finnland im April 1940, notiert | |
| Brecht: „Der Schlosser, der die Bücher nimmt, die niemand anders haben | |
| will.“ Peter Weiss machte daraus für seinen Roman „Die Ästhetik des | |
| Widerstands“ eine große Szene. | |
| Nicht mal ein Zehntel des heute erhaltenen Bestands befand sich bereits vor | |
| 1933 in Brechts Besitz. Die Lücken sind von einiger Prominenz. So fehlen | |
| Novalis, Rabelais, Heym, Trakl, Musil, Horvath, Roth gänzlich. Auch | |
| Rimbaud, den der frühe Brecht intensiv „verwertete“, was ihm gar | |
| Plagiatsvorwürfe einbrachte, vermisst man. Ebenso Kafka. Nach der | |
| Überlieferung Walter Benjamins war Kafka für Brecht der einzig echte | |
| bolschewistische Schriftsteller, sein „Prozeß“ ein prophetisches Buch: „… | |
| aus der Tscheka werden kann, sieht man an der Gestapo.“ | |
| Anderes, später Erworbenes überstand die Flucht vor den Nazis. Zum Beispiel | |
| die Schriften von Trotzki, den Brecht gegenüber Benjamin als den größten | |
| lebenden Schriftsteller Europas bezeichnete. | |
| Gut dabei ist auch – mit immerhin 21 Bänden – einer von Brechts | |
| Lieblingsfeinden: Thomas Mann. Allerdings ohne jede Anmerkung und an | |
| „gebührendem“ Platz: Als Hans Mayer, mit Brecht befreundet, für den | |
| Ostberliner Aufbau-Verlag eine Gesamtausgabe der Werke Thomas Manns 1955 | |
| herausgab, zeigte ihm Brecht beim nächsten Besuch, wohin sie gehörte: „Ihre | |
| Ausgabe besitze ich auch. Da unten steht sie“, sagte er und wies auf das | |
| unterste Bord einer zimmerhohen Bücherwand. | |
| Dass Brecht eigentlich kein Leser, sondern ein „Benutzer“ war, wie Günther | |
| Anders schrieb, zeigt sich an Beckett. Schon schwer krank, ließ sich Brecht | |
| im April 1956 Becketts „Warten auf Godot“ ins Krankenhaus bringen. Schnell | |
| in den Bearbeitungsmodus schaltend, ordnete er im Personenverzeichnis die | |
| Figuren soziologisch zu: „Estragon, ein Prolet / Wladimir, ein | |
| Intellektueller / Lucky, ein Esel oder Polizist / von Pozzo, ein | |
| Gutsbesitzer“. Auch Änderungen im Text zeigten die Tendenz hin zur | |
| Konkretisierung, die Umarbeitung blieb jedoch stecken. | |
| Auch die vielen Randnotizen in der „Poetik“ des Aristoteles zeigen Brechts | |
| intensives Studium – und seinen Anspruch, in Analogie zur nichteuklidischen | |
| Geometrie eine nichtaristotelische Dramaturgie aufzustellen, darunter | |
| machte er es nicht. | |
| Missvergnügen konnte Brecht ebenfalls zu Kommentaren reizen, so zu einem | |
| Band von Oskar Wilde: „Ärgerlich, daß dieser feine Schwätzer nicht die | |
| Abhängigkeit der Wahrheiten kennt! Der Prophet der Selbstverständlichkeit! | |
| Wie wenn sich einer auf den Marktplatz stellt u. mit viel Worten beweißt, | |
| daß heute schönes Wetter! Albern!“ | |
| Einen nicht kleinen Teil des Bestandes machen die von Brecht heißgeliebten | |
| Krimis aus, fast 300 an der Zahl, davon der Großteil Groschenhefte in | |
| englischer Sprache. | |
| Das sorgfältig in mehrjähriger Arbeit erstellte Bibliotheksverzeichnis | |
| schließt eine Lücke in der Brecht-Forschung. Nicht mehr ins Buch geschafft | |
| (Manuskripte liegen oft so lange in Verlagen!) hat es ein wahrer Schatz, | |
| 2005 angekauft von der Akademie der Künste: ein Exemplar des Erstdrucks von | |
| Kafkas „Prozeß“ von 1926 – mit gleich drei Besitzvermerken von Brecht. | |
| Die Bibliothek Bertolt Brechts. Ein kommentiertes Verzeichnis. Hrsg. vom | |
| Bertolt-Brecht-Archiv. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2007, 593 Seiten, 51 € | |
| 17 Sep 2007 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Mahlke | |
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