| # taz.de -- Pillenalarm am Arbeitsplatz: Wir sind voll gut drauf! | |
| > Eine alarmierende Studie der Krankenkasse DAK zeigt: Immer mehr Menschen | |
| > greifen am Arbeitsplatz zu Medikamenten, um ihre Stimmung aufzuhellen | |
| > oder ihre Leistung zu steigern. | |
| Bild: Relativ harmloses Aufputschmittel in der Mittagspause: Kaffee. | |
| "Liebe Eltern und Geschwister, | |
| Da der Dienst sehr anstrengend ist, müsst ihr verstehen, dass ich nur alle | |
| zwei bis vier Tage an Euch schreiben kann. Heute schreibe ich mit der Bitte | |
| um | |
| Pervetin." | |
| Aus einem Brief des jungen Soldaten Heinrich Böll 1939 aus dem besetzten | |
| Polen | |
| Als "Marschierpulver", "Wachhaltmittel" oder "Schnellmacher" wurden | |
| Amphetamine jenseits privater Vergnügungen erstmals im zweiten Weltkrieg | |
| von der Wehrmacht eingesetzt. Millionenfach wurden Pervetin- und | |
| Isophanpillen an die Truppen weitergereicht, verbunden mit der Empfehlung, | |
| "nur von Zeit zu Zeit eine bis zwei Tabletten" zu schlucken, "um wach zu | |
| bleiben". Besonders groß soll die Nachfrage bei den Besatzungen deutscher | |
| Bomberstaffeln gewesen sein - hier galt es, die gewachsene Kluft zwischen | |
| der beschränkten menschlichen und der schier unbegrenzten technischen | |
| Leistungsfähigkeit der Maschinen wenigstens ansatzweise zu überbrücken. | |
| Dass Menschen heute mehr denn je versuchen, den Anforderungen eines Systems | |
| mit chemischen Mitteln zu entsprechen, belegt eine aktuelle Studie der | |
| Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK) mit dem Schwerpunkt "Doping am | |
| Arbeitsplatz". Laut einer bundesweiten Befragung von rund 3.000 | |
| Erwerbstätigen würden derzeit sechs von zehn Arbeitnehmerinnen "Mittel zur | |
| Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit nehmen". Dabei existieren für | |
| viele der geläufigsten Mittel noch gar keine Langzeitstudien, und die | |
| kurzfristigen Nebenwirkungen - Kopfschmerzen, Übelkeit oder Gewichtsabnahme | |
| - werden ignoriert oder in Kauf genommen. | |
| Zwei Millionen Menschen hätten am Arbeitsplatz schon einmal mit chemischen | |
| Schnell- oder Wachmachern nachgeholfen, knapp die Hälfte davon nehme | |
| entsprechende Medikamente gezielt und regelmäßig ein. | |
| Besonders häufig sei die Einnahme der Mittel in akademischen Kreisen | |
| verbreitet sowie allen Berufen, die Lampenfieber verursachten. Je nach | |
| Geschlecht würden unterschiedliche Wirkstoffe eingenommen, so DAK-Chef | |
| Herbert Rebscher: "Männer frisieren ihr Leistungspotenzial, Frauen polieren | |
| ihre Stimmungen auf". Wobei keineswegs von alltäglichen Substanzen wie | |
| Alkohol, Coffein oder Tetrahydrocannabinol die Rede ist, auch nicht von | |
| illegalen Amphetaminen wie Speed oder gar Kokain - sondern von "Neuro- und | |
| Psychopharmaka", die ursprünglich zur Behandlung von Krankheiten entwickelt | |
| wurden und überwiegend per Internet auch ohne Rezept bezogen werden können. | |
| Methylphenidat etwa soll im Rahmen einer therapeutischen Behandlung gegen | |
| die plötzlichen Schlafanfälle des Narkoleptikers helfen, unterdrückt aber | |
| auch bei Gesunden die Müdigkeit. Ebenfalls begehrt bei den "Dopern" ist | |
| Piracetam, das eigentlich der Therapie von Demenz-Kranken dient und durch | |
| Anregung des Hirnstoffwechsels kognitive Fähigkeiten steigert. | |
| Das eigentliche Problem besteht darin, dass es kein Problem gibt - oder | |
| doch ein schwindendes Problembewusstsein. Wenn Schönheitsoperationen | |
| inzwischen gesellschaftlich weitgehend akzeptiert sind, ist die Optimierung | |
| der Psyche nur der nächste, logische Schritt. Dem Körper folgt der Geist. | |
| In den Vereinigten Staaten werden die entsprechenden Mittelchen denn auch | |
| offen angepriesen und mit dem schönen Schlagwort vom "Neuro-Enhancement" | |
| verkauft. Ob der Student schnell lernen, der Manager sich konzentrieren | |
| oder die Oma sich die Namen ihrer vielen Enkel endlich mal merken will - | |
| für alles gibt's die passende Pille. | |
| Und damit mischen sich ethische Fragen in die Debatte: Warum sollte das | |
| chemische "Hirndoping" nicht, wie schon das chirurgische Herumschnippel am | |
| gesunden Körper, auch ohne medizinische Indikation erlaubt sein? Was | |
| spricht dagegen, wenn alle immer fit und lustig sind? Ist nicht selbst | |
| schuld, wer nichts einwirft? So findet sich der Mensch in seiner zusehends | |
| unwirtlicher werdenden Arbeitswelt unversehens in der Rolle des Radprofis | |
| wieder, der bei der Tour de France allen anderen hinterherstrampelt - weil | |
| er zu naiv war, sich zu dopen. Wo sich die Erwerbstätigkeit immer mehr den | |
| kapitalistischen Regeln des Wettbewerbs und der Konkurrenz unterwerfen | |
| muss, dort wird die Versuchung fast schon zum Zwang, sich einen | |
| medikamentösen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. | |
| Womit wir wieder beim Krieg wären, der - nach dem Sport - reinsten Form des | |
| Wettbewerbs. Das besonders beliebte Alltagsdopingmittel Modafinil steigert | |
| Durchhaltevermögen, Konzentration und Leistung - und entspringt der | |
| US-Militärforschung. | |
| 13 Feb 2009 | |
| ## AUTOREN | |
| Arno Frank | |
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