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# taz.de -- Der Unstete
> ENFANT TERRIBLE Der Schauspieler Birol Ünel hat nicht den besten Ruf.
> Doch wer mit ihm gearbeitet hat, weiß: Er hat eine große Kraft und eine
> beeindruckende Präsenz. Ein Porträt
VON CRISTINA NORD
Axel steht an einem Autobahnrastplatz in Belgien. Seine Schultern fallen
nach vorne, die Hände stecken in den Hosentaschen, es ist Sommer, das Licht
des frühen Abends fällt auf die Szene. Axels 13 Jahre alte Tochter steigt
in einen Lastwagen, der sie zurück nach Deutschland bringen wird. Lily, die
Mutter, hat die Mitfahrgelegenheit organisiert. Die Eltern sind auf dem Weg
nach Brescia, sie schmuggeln Haschisch; die Tochter, Stevie, hat dieses
Leben satt. Als Zuschauer erwartet man, dass Axel ihr lange hinterhersieht,
bedrückt, reumütig. Aber er hält nur kurz inne, macht auf dem Absatz kehrt
und verschwindet in seinem Wagen.
Der Schauspieler, der Axel Gestalt verleiht, heißt Birol Ünel. Der Film,
„Die Unerzogenen“, kam vor zwei Jahren in die Kinos, Regie führte Pia
Marais. Es ist Ünels stärkster Filmauftritt, seit er in Fatih Akins „Gegen
die Wand“ den lebensmüden Protagonisten Cahit spielte. Axel ist ein
Spät-Hippie, und Ünel macht das widersprüchliche Wesen der Figur, macht die
Gratwanderung zwischen Boheme und Verwahrlosung nachvollziehbar. Die
Darbietung ist so nuancenreich und fein, dass man nie den Eindruck bekommt,
die Figur würde denunziert. Die Szene auf dem Rastplatz etwa dauert nur ein
paar Sekunden. Eine unspektakuläre Totale, und doch steckt so vieles darin,
Verlorenheit, Resignation, Trauer über den Abschied, aber auch eine
frappierende Gleichgültigkeit.
„Ich hatte einen Heidenrespekt vor Birol Ünel“, erinnert sich Pia Marais.
„Er ist ein so toller Schauspieler.“ Dann sagt sie einen Satz, den man oft
über Birol Ünel hört: „Er hat eine so große Präsenz.“ Dabei dachte sie
ursprünglich an einen anderen Schauspieler für die Rolle. Bei einem Casting
stellte sich heraus, wie gut Ünel und die Darstellerin der 13 Jahre alten
Stevie, Céci Schmitz-Chuh, zusammenpassten, wie überzeugend sie einen Vater
und eine Tochter verkörperten. „Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, die
Figuren vor mir zu sehen“, sagt Marais. „Chemie ist Chemie.“ Die Freude
über die geglückte Verbindung überwog leise Sorgen. Sorgen, so Marais,
„dass sich doppelt, was man über ihn denkt und wie die Figur ist“.
Ünel weiß, was man über ihn denkt. „Ich habe ja einen relativ schlechten
Ruf“, sagt er, als wir uns an einem Novembernachmittag in einem
italienischen Restaurant neben dem Berliner taz-Gebäude gegenübersitzen.
Alkoholprobleme, Unbeständigkeit, Eigensinn werden ihm nachgesagt. Selbst
im sachlichen Munzinger-Personenarchiv heißt es: „In seinen über sechzig
Film- und TV-Auftritten handelte sich Ünel in der Filmbranche den Ruf ein,
impulsiv und schwierig zu sein und jemand, der sich bei vielen Engagements
mit den Produzenten oder Regisseuren überwirft.“ Als ein Reporter des
Zeit-Magazins 2005 ein langes und lesenswertes Porträt von Ünel
veröffentlichte, schrieb er ausführlich darüber, wie oft der Schauspieler
den Journalisten versetzte und wie unausstehlich er war, kam es
ausnahmsweise zu einer Begegnung.
Ünel sagt: „Ich liebe diesen schlechten Ruf. Er ist wie ein Sieb, das
Menschen von mir fernhält, die mit mir nicht arbeiten können und mit denen
ich nicht arbeiten möchte.“ Das klingt fast so, als wollte er prahlen. Oder
wie ein Schild, der dazu dient, etwas abwehren, was schmerzhaft ist.
Vielleicht aber ist es anders, vielleicht sind die Sätze Teil von Ünels
Selbstinszenierung als Enfant terrible. Oder alles auf einmal, Prahlerei,
Schutz, Schauspiel. Pia Marais vermutet: „Er spielt mit diesem Bild, er ist
schon auch ein Rebell. Das ist vielleicht nicht immer sehr klug, aber das
ist ihm dann auch egal.“
Vor allem ist der Ruf nur eine Seite von Birol Ünels Geschichte. Der
Regisseur Thomas Heise, der ihn 1994 für eine Inszenierung von Heiner
Müllers Stück „Der Bau“ am Berliner Ensemble verpflichtete, erinnert sich
an eine heftige Auseinandersetzung zwischen dem Schauspieler und dem
Kantinenwirt. „Es gab was auf die Mütze.“ Während der Proben musste Ünel
aus seiner Wohnung ausziehen, er wohnte dann im Probenraum und stellte dort
auch seine Möbel unter. Aber was viel wichtiger ist: Indem Heise Ünel mit
den Gepflogenheiten des Berliner Ensembles konfrontierte, ließ er zwei
Arbeitsweisen kollidieren, die sprachbezogene der Bühne am Schiffbauerdamm
und die körperbezogene Ünels. „Er versuchte, alle möglichen Sachen
auszuprobieren“, sagt Heise, „ich bestand auf dem Text.“ Die Spannung war
nicht leicht auszuhalten, aber sie war produktiv. Und dann sagt Heise den
Satz, den auch Pia Marais verwendet: „Er hat eine ungeheure Kraft und eine
irre Präsenz.“
An dem Nachmittag im November trägt Ünel ein schwarzes Sakko, darunter ein
tief ausgeschnittenes T-Shirt, eine grobgliedrige Kette, das graue, etwas
längere Haar ist verwuschelt, der Bart neun Tage alt. Vor unserem Gespräch
hat er in einem fast leeren Kino Fatih Akins neuen Film gesehen, „Soul
Kitchen“. Im September präsentierte Akin die Boulevardkomödie im Wettbewerb
der Filmfestspiele von Venedig, ab Freitag läuft sie in den deutschen
Kinos. Ünel war weder in Venedig noch bei der Hamburger Premiere dabei,
obwohl er in „Soul Kitchen“ mitspielt. Seine Figur, der Koch Shayn, geht
keine Kompromisse ein und neigt zum Jähzorn, hat aber leider nicht viele
Auftritte. „Soul Kitchen“ bietet eher wenig Gelegenheit, Ünels berückende
Mischung aus Intensität und Subtilität zu erleben; in Akins „Gegen die
Wand“ ist das anders, genauso wie in Pia Marais’ Film. Shayn kommt und
geht, und irgendwann in der Mitte von „Soul Kitchen“ ist er verschwunden.
„Der Reisende ist noch nicht am Ende, er hat sein Ziel noch nicht erreicht“
steht auf einem Zettel, den er zum Abschied an die Tür heftet.
Birol Ünel hat einen weiten Weg zurückgelegt. Er kam 1961 im Süden der
Türkei zu Welt; als er sieben war, zogen seine Eltern mit ihm in ein Dorf
bei Bremen, er besuchte die Hauptschule, ließ sich zum Parkettleger
ausbilden, legte Parkett. 1982 wurde er an der Schauspielschule von
Hannover aufgenommen, er studierte dort nach der Strasberg’schen Methode.
Beim Method-Acting mobilisiert der Schauspieler eigene Gefühle und
Erinnerungen, um die Regungen der Figur zum Vorschein zu bringen. Auf die
Frage, ob das nicht viel Kraft koste, zitiert Ünel einen Satz, den eine
seiner Lehrerinnen gerne sagte: „In tausend Messer fallen und sich dabei
nicht verletzen.“ Und wie geht das? „Das braucht Übung“, erklärt Ünel,…
braucht Training, Selbstkenntnis und viel Mut zur Unsicherheit.“ Vor ihm
liegt ein Beutel Tabak. Manchmal spielt er damit, einmal macht er eine
Rauchpause. Er steht auf der Rudi-Dutschke-Straße im diffusen Novemberlicht
und fröstelt. Seine Schultern fallen leicht nach vorne.
Für seine Rolle in „Gegen die Wand“ hat Ünel den Deutschen Filmpreis in
Gold gewonnen, trotzdem arbeitet er manchmal noch im Messebau. Außerdem
kümmert er sich um Jugendliche, die aus ähnlichen Verhältnissen kommen wie
er. Aktuell plant er einen Kaspar-Hauser-Workshop mit jungen Straftätern.
„Eine Sehnsucht nach Kreativität“ erkennt er in diesen jungen Männern,
etwas, was ihm selbst nicht fremd sein dürfte. Das Bedürfnis, sich
auszudrücken, artikuliert er immer wieder: „Schauspieler werden diejenigen,
die einen Drang verspüren, aus ihrem Leben eine Quintessenz zu ziehen, und
sagen: Das möchte ich in einer künstlerischen Form vermitteln an andere.
Ich möchte, dass Menschen, die ich nicht kenne, daran teilhaben – natürlich
aus einem gewissen Narzissmus heraus. Ich bin gerne eine Rampensau.“
Als ich eine kürzlich veröffentlichte Studie erwähne, die besagt, dass sich
die deutschen Kultureinrichtungen schwertun, ein Publikum mit
Migrationshintergrund für sich zu gewinnen, fällt er mir ins Wort: „Sie
meinen Sarrazin-Texte? Um Gottes willen. Bitte lassen Sie uns das nicht
diskutieren, dann fress ich gleich den Tisch auf.“
19 Dec 2009
## AUTOREN
CRISTINA NORD
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