# taz.de -- Starthilfe: „Wenn sie Mama sagen, sind sie angekommen“ | |
> Pflegefamilien geben Kindern ein Zuhause, die oft mit Hypotheken kommen. | |
> Was die Pflegeeltern vermissen: Wertschätzung für ihre Arbeit. | |
Bild: Sie werden händeringend gesucht, aber nicht so wertgeschätzt, wie es an… | |
HAMBURG taz | „Sie wollen Trubel?“, hat Lisa Martensen* am Telefon gefragt. | |
„Dann kommen Sie am besten mittags.“ Der Weg zum Haus der Familie Martensen | |
führt durch Felder und Wiesen, durch Dörfer, die am Ortseingang mit „Moin“ | |
und am Ausgang mit „Tschüs“ grüßen, dazwischen stehen reetgedeckte | |
Bauernhäuser. Dithmarschen sieht aus wie seine eigene Postkarte, idyllisch, | |
ländlich, friedlich. Die Geschichten, die Frauen wie Lisa Martensen zu | |
erzählen haben, klingen dagegen wie aus einer anderen Welt: Es geht um | |
Gewalt, um Eltern, die ihre Kinder vernachlässigen, Kinder, die sich mit | |
Wutanfällen oder eisiger Gefühlskälte wehren. Die Frauen sind Pflegemütter | |
– sie kümmern sich um ein, zwei oder mehr fremde Kinder. Bei Lisa Martensen | |
leben zurzeit vier. | |
In der gefliesten Wohnküche tickt eine Uhr, der Familienhund wedelt freudig | |
zur Begrüßung. Lisa Martensen belegt Vollkorn-Pizzateig, während sie | |
erzählt. Ihre leiblichen Kinder sind schuld daran, dass Familie Martensen | |
zur Pflegefamilie wurde: Nach einem Fernsehbericht über ein | |
vernachlässigtes Kind ging es am Abendbrottisch um die Frage, was in einem | |
solchen Fall mit dem Opfer geschehe. Als Lisa Martensen Pflegeeltern | |
erwähnte, war die Idee geboren. „Unser Haus ist groß genug“, sagt sie. | |
„Warum also nicht?“ | |
## Ordentliche Manieren | |
Der Uhrzeiger ist auf Mittag vorgerückt, und die Kinder trudeln ein. Justin | |
und Arielle* besuchen Schulen im Ort, Suse* geht in die Kita, Nico* hat | |
Förderunterricht. Sie platzten herein, legen ihre Ranzen ab, wollen eilig | |
von den Erlebnissen des Vormittags berichten. Martensen dirigiert, schickt | |
die Kleineren zum Händewaschen und bittet die Älteren, den Tisch zu decken. | |
Dass gemeinsam gegessen wird, ist für die Mutter wichtig – ordentliche | |
Manieren auch. Als Nico anfängt, mit seiner Pizza zu spielen, sagt Lisa | |
Martensen: „Lass das, oder du gehst raus.“ Sie meint diese Dinge ernst, die | |
Kinder wissen das. Nico setzt sich gerade hin und isst schweigend weiter. | |
„Bekannte finden es manchmal hart, wie ich mit den Kindern umgehe“, sagt | |
sie später. Als sie anfing als Pflegemutter, hatte sie ein weiches, rosiges | |
Kuschelbild: Die Kinder bräuchten vor allem Liebe und Verständnis. | |
„Quatsch“, sagt sie. „Die Kinder brauchen vor allem Sicherheit, also klare | |
Regeln.“ Hausaufgaben werden sofort erledigt, die ausgekippte Legokiste | |
noch vor dem Essen wieder eingeräumt: „Es ist harte Arbeit und dauert“, | |
sagt Martensen. Manchmal sei es „wie das Leben mit einem | |
Alzheimer-Patienten, man fängt ständig wieder von vorne an“. | |
## Last der Herkunftsfamilie | |
Kein Pflegekind sei einfach, sagt Claudia Nabert. Die Vorsitzende des | |
„Landesverbandes für Kinder in Adoptiv- und Pflegefamilien in | |
Schleswig-Holstein“, eine zierliche, energische Frau, hat neben ihren zwei | |
leiblichen sieben Pflegekinder betreut, das Jüngste ist drei Jahre alt. | |
Nabert kritisiert die Jugendämter, die Kinder oft zu spät von ihren | |
leiblichen Eltern trennten: „Da herrscht die Meinung, dass die Eltern das | |
Wichtigste sind.“ Familien müssten mehrfach Hilfsangebote ignorieren, bis | |
das Amt reagiere, berichtet sie: „Man hat manchmal den Eindruck, die | |
leiblichen Eltern dürften sich alles erlauben.“ Würden die Kinder endlich | |
geholt, seien sie schwer vernachlässigt, traumatisiert oder litten unter | |
unsichtbaren Behinderungen. | |
Tatsächlich ist die Gesetzeslage eindeutig: Eltern haben ein Recht auf | |
„Hilfen zur Erziehung“, der Erhalt der biologischen Familie geht vor. Das | |
Land Schleswig-Holstein startet gerade den Versucht, dieses Gesetz zu | |
reformieren – aus dem Elternrecht soll ein Kinderrecht werden. Hinter dem | |
Vorstoß steckt die ehemalige Sozialministerin Gitta Trauernicht (SPD), die | |
selbst eine Pflegetochter aufgezogen hat. | |
Lisa Martensen hat einen Familienrat einberufen, bevor sie das erste | |
Pflegekind aufgenommen hat. „Es ist wichtig, vorher herauszufinden, wo die | |
eigenen Grenzen liegen“, sagt sie: Traut man sich das Leben mit einem | |
behinderten Kind zu, wie alt soll es sein, welchen Kontakt pflegt man zu | |
der Herkunftsfamilie. Dort lag ganz klar eine ihrer Grenzen. „Ein | |
verurteilter Gewalttäter kommt mir nicht ins Haus“, sagt Lisa Martensen. | |
Pflegeeltern sind eine vergleichsweise preiswerte Lösung, Kinder | |
unterzubringen – ein Heim ist weit teurer als das Geld für den | |
Lebensunterhalt plus die rund 200 Euro, die die Pflegeeltern extra | |
erhalten. Keine Riesensumme für einen Job, der rund um die Uhr dauert und | |
keine Ferien kennt, trotzdem sorgt sie für Vorurteile, sogar Neid. Lisa | |
Martensen schüttelt den Kopf: „Dabei würden wir ohne die Kinder finanziell | |
besser dastehen. Ich könnte voll arbeiten statt nur stundenweise, und die | |
Kosten wären deutlich geringer.“ Claudia Nabert bestätigt: „Niemand macht | |
das wegen des Geldes.“ | |
Tatsächlich müssen Pflegefamilien ein eigenständiges Einkommen nachweisen. | |
Die Ehemänner von Nabert und Martensen verdienen gut, sie sind aber nur | |
selten zu Hause – um die Kinder kümmern sich die Frauen weitgehend alleine. | |
Sie finden, dass sie der Gesellschaft helfen, Geld zu sparen und dazu | |
beitragen, Kindern aus schwierigen Verhältnissen einen guten Start zu | |
geben. Darum sei es ärgerlich, „dass man nicht als Partner, sondern als | |
Bittsteller behandelt wird“, sagt Martensen. Gerade im Kreis Dithmarschen | |
ist das Verhältnis zwischen Pflegemüttern und Jugendamt angespannt – dabei | |
klagte im Frühjahr der Kreis darüber, dass sich zu wenig Familien fänden. | |
Davon kein Wort mehr: „Wir gehen davon aus, dass in jedem Gemeinwesen eine | |
bestimmte Anzahl von Familien leben, die sich für diese ehrenamtliche | |
Arbeit interessieren und die geeignet dafür sind“, heißt es lapidar aus der | |
Verwaltung in Heide – schriftlich, denn statt wie vorgeschlagen ein | |
Gespräch zu führen, schickt das Amt lieber eine E-Mail. Der Kreis habe ein | |
„ausgebautes Pflegekinderwesen“, heißt es darin, dessen „zufriedene | |
Pflegeeltern die besten Werbeträger“ seien. Auch die von den Eltern | |
geforderte „Augenhöhe“ wird erwähnt – allerdings nur im „Umgang der | |
Pflegefamilie mit den leiblichen Eltern“. Denn „Pflegeeltern können die | |
Überzeugung entwickeln, die ,besseren’ Eltern zu sein“, so der | |
Kreis-Sprecher. | |
## Willkür des Jugendamts | |
Claudia Nabert sieht sich in ihrer Kritik bestätigt: „Jugendämter agieren | |
frei, Beschwerden gegen Verwaltungshandeln sind kaum möglich.“ So würden | |
einige Kreise, darunter Dithmarschen, entgegen der Rechtslage keinen | |
Förderzuschlag für Kinder mit sozialen Störungen oder Behinderungen zahlen. | |
Stimmt, bestätigt der Kreis und argumentiert, dass besonders schwierige | |
Kinder von „besonders befähigten, belastbaren und qualifizierten | |
Pflegepersonen betreut“ würden. Martensen hält sich durchaus für belastbar | |
und erfahren, dennoch: Es sei grenzwertig, wenn eine Familie mehrere Kinder | |
mit Störungen, wie sie etwa durch Alkoholismus in der Schwangerschaft | |
entstehen, betreuen soll. „Aber das Jugendamt steckt einfach weitere Kinder | |
dazu, informiert die Eltern nicht richtig, was auf sie zukommt, und bei | |
Beschwerden heißt es, die Pflegeeltern seien emotional.“ | |
## Die Rückkehr tut weh | |
Dass die Kinder in vielen Fällen wieder zu ihren leiblichen Eltern | |
zurückgehen, wissen die Pflegemütter ebenso gut wie die Kinder. „Teils | |
steht es von vornherein fest, teils ergibt es sich“, sagt Lisa Martensen. | |
Aber so oder so: „Wenn eines geht, tut es immer weh.“ Auch, weil die Kinder | |
untereinander ein inniges Verhältnis entwickeln. Gerade ist der leibliche | |
Sohn im Auslandsjahr und die Pflegekinder vermissen ihn dringlich. | |
Alle ihre Pflegekinder nennen Lisa Martensen „Mama“ – das passiere | |
irgendwann von allein, sagt sie: „Dann weiß ich, dass sie angekommen sind.“ | |
Manchmal, sagt Martensen, frage sie sich, ob es richtig sei, den Kindern so | |
viel Einblick in ein Leben zu geben, das ihnen ihre leiblichen Eltern nicht | |
bieten könnten: „Ich zeige ihnen, was geht und was sie tun könnten – | |
vielleicht fragen sie sich eines Tages, was es ihnen nützt.“ Aber unterm | |
Strich findet sie es richtig: „Hätten meine Kinder in Pflege gemusst, hätte | |
ich mir gewünscht, dass die Pflegefamilie sich bestmöglich um sie kümmert.“ | |
* Namen geändert | |
29 Sep 2013 | |
## AUTOREN | |
Esther Geisslinger | |
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