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# taz.de -- Schmerz als ästhetische Kategorie
> Artisten des authentischen Augenblicks, keine Imitatoren ihrer selbst:
> Die Industrial-Pioniere Throbbing Gristle sind zum Jahreswechsel in
> Berlin gleich auf den vier Ebenen Ausstellung, Konzert, Konzert zum Film
> und Filmdokumentation präsent
VON CLAUS LÖSER
Die jüngere Geschichte der Popmusik ist reich an Wiedervereinigungen von
einst wegweisenden Bands. Nur selten kommen diese Ereignisse ohne
Peinlichkeiten aus. Wenn selbst Legenden wie Velvet Underground sich nicht
entblöden, dem Affen Nostalgie Zucker zu geben und dabei auch nur auf den
Geldbeutel ihrer in die Jahre gekommenen Klientel schielen, ist Skepsis
mehr als angebracht. Nun also Cosey Fanni Tutti, Chris Carter, Peter
„Sleazy“ Christopherson und Genesis P-Orridge – was soll das jetzt werden?
Schon mit den ersten Takten und Bildern von „TG live at the Astoria“, der
zum Auftakt des kleinen Throbbing-Gristle-Festivals im Arsenal als
Weltpremiere gezeigt wird, ist klar, dass hier alles anders ist. Der
angenehm prosaisch gestaltete Film dokumentiert das offizielle Konzert zur
Reunion vor einem Jahr in London und zeigt vier Künstler über fünfzig,
hochkonzentriert über ihre Apparaturen gebeugt. Eine Lawine von Tönen,
wimmernd, schmerzhaft, hinterhältig, dann wieder mit versöhnlichen Patterns
und überraschenden Harmonien durchsetzt, geht auf das Publikum nieder. Mit
„Hamburger Lady“, „Convincing People“ oder „Discipline“ sind zwar e…
berühmte Stücke zu hören. Aber sie werden gnadenlos durch den Fleischwolf
gedreht: Cosey an Steel Guitar und Trompete, Chris und Sleazy an Mixern und
PowerBooks, Genesis im knallroten Lackkostüm, die goldenen Zähne und die
Siliconlippen gegen das Mikrofon gepresst. Da Throbbing Gristle (kurz TG)
nie landläufige Hits produziert haben, die Tantiemen auf ihre Konten
spülen, verfallen sie auch nie in die senile Beschwörung verflossener
Glorie. Sie sind Artisten des authentischen Augenblicks, keine Imitatoren
ihrer selbst. Einige der Zuhörer begehen das Konzert wie einen
Gottesdienst, Tränen in den Augen – dies bleibt die einzige Peinlichkeit.
Andere tragen T-Shirts mit Namen wie Einstürzende Neubauten, Nine Inch
Nails, Klinik oder Ministry: alles Bands, die es ohne die Vorleistung des
Quartetts TG so nie gegeben hätte.
Wie unendlich weit Throbbing Gristle ihrer Zeit voraus waren, zeigt auch
eine parallele Ausstellung in den Kunstwerken, von Kurator Markus Müller
nach nur drei Monaten Vorbereitung sachkundig und kompakt zusammengestellt.
Die Exposition konzentriert sich auf die klassische Phase von 1975 bis 1981
und auf das hauseigene Label „Industrial Music“. Verblüffend dabei das
empirische Sendungsbewusstsein der Künstler, die auch alle
Verwaltungsarbeiten persönlich ausführten. Über jeden Kunden wurde eine
A6-Karteikarte angelegt, so genannte „Index cards“, auf denen Daten und
Vorlieben eingetragen wurden, um damit Konsumprofile zu erstellen. Einige
dieser Karten sind ausgestellt, darunter die von Moritz R. (Der Plan), Ian
Curtis (Joy Division) und Jon Savage („England’s Dreaming“). Ein zweites
Karteisystem protokolliert jeden einzelnen Auftritt mit Ort, Datum,
Titelliste, Länge und einer Art Wohlfühlskala, in der die Musiker die
eigene Qualität mit maximal 10 Punkten bewerten konnten. Anhand der
zahlreichen Artefakte und Dokumente wird zudem der hochkomplexe,
synästhetische Ansatz des Konzepts noch einmal deutlich: TG waren nie eine
mit multimedialen Effekten hantierende Band, sondern eine Künstlergruppe,
die sich bei ihren umfassenden Feldversuchen auch musikalischer Mittel
bediente. Hierin liegt das vielleicht nachhaltigste Missverständnis ihrer
Wahrnehmung. Die Texte von William S. Burroughs und seine Cut-up-Technik,
der esoterische Budenzauber von Crowley bis Wilson, maschinenerzeugte Töne,
Obduktionsvideos, das Spiel mit Uniformen und Sig-Runen (inzwischen
abgeschafft), selbst der spektakuläre Umbau des eigenen Körpers – all dies
summiert sich zu den Ingredienzen eines unablässig unter Hochdruck
stehenden Laboratoriums. Eigene Positionen werden dabei immer wieder
vermessen und in Frage gestellt. Geld wird danach meist von den
Trittbrettfahrern kassiert. TG erscheinen bisweilen, um in der Bildsprache
ihres Waffenfetischismus zu bleiben, wie die Panzerspitzen einer
angreifenden Armee, die weit ins Feindesland vordringen, vom Nachschub
abgeschnitten werden und zuletzt ohne Treibstoff in der Steppe liegen
bleiben. Jetzt, nach fast 25 Jahren, laufen die Maschinen wieder an.
Mit zwei Konzerten materialisieren die Künstler ihre ungebrochene
Kreativität. Am Silvesterabend in der Volksbühne werden auch Stücke der
neuen, im Februar 2006 erscheinenden Studioeinspielung „Part Two“ zu hören
sein. Einen Abend später am gleichen Ort gibt es dann ein besonderes
Ereignis zu feiern: Throbbing Gristle vertonen live Derek Jarmans
Underground-Klassiker „In the shadow of the sun“. Der Film basiert auf
Super-8-Aufnahmen der 70er-Jahre, 1980 erfolgte eine Transformierung auf
16mm, zu der TG bereits den Soundtrack lieferten. Nun werden sie nochmals
zu den sphärischen Bildern Jarmans (gest. 1994) improvisieren, die schon
alles enthalten, was ihn später mit Filmen wie „The Last of England“ (1987)
oder „The Garden“ (1990) berühmt machte. Peter Christophersen unterlief
beim Publikumsgespräch im Arsenal ein schöner Versprecher, als er äußerte,
sie hätten seinerzeit den Film gehört und danach spontan vertont.
Tatsächlich griffen sie die bereits angelegte Musikalität der Bilder auf
und schufen in einer kollektiven Konversation mit dem Filmemacher eine neue
ästhetische Ebene. Mit dem Neujahrskonzert erfährt dieses Gespräch 25 Jahre
später nun eine Fortsetzung.
bis zum 29. Januar, „Annual Industrial Report“, KW, Auguststraße 69; dort
die Filme „TG live at the Astoria, London“ (2005) und „Heathen Earth“
(1980); Konzert am 31. Dezember, 19.30 Uhr, in der Volksbühne,
Rosa-Luxemburg-Platz; dort Live-Improvisation zu Derek Jarmans „In the
shadow in the sun“ (1974/80), 1. Januar, 19.30 Uhr
31 Dec 2005
## AUTOREN
CLAUS LÖSER
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