# taz.de -- „Sie werden gut leben können“ | |
> MISSION Madjiguène Cissé war Sprecherin der Sans Papiers in Paris. Zurück | |
> in Dakar gründete sie ein Frauennetzwerk – das gerade eine Frauensiedlung | |
> aufbaut | |
INTERVIEW WALTRAUD SCHWAB | |
taz: Frau Cissé, Sie haben in Ihrem Leben eine ganz persönliche Rallye | |
Dakar–Paris–Dakar gemacht. In Dakar geboren, gingen Sie nach Paris, | |
engagierten sich dort erfolgreich bei den Sans Papiers und sind nun wieder | |
in Dakar. Wie leben Sie heute? | |
Madjiguène Cissé: Wie ich heute lebe in Dakar, damit bin ich zufrieden, | |
obwohl die Welt nicht so schön ist. Aber ich tue, was ich kann, damit sie | |
schöner wird. | |
Wie wird sie schöner? | |
Die Armut dürfte nicht so hart sein. Leute sollten zu essen haben. Kranke | |
sollten sich heilen lassen können. Und Kinder sollten zur Schule gehen | |
können. Das alles müsste in unserem Land, dem Senegal, möglich | |
gemachtwerden. | |
Irgendetwas Schönes wird es doch auch jetzt schon geben. Wie ist Dakar? | |
Dakar hat große Armut, aber es hat auch das Meer und den Wind und die | |
Fische aus dem Atlantik. Die Stadt ist ganz lebendig. Drei Millionen | |
Menschen wohnen da. Es werden immer mehr. | |
Dort haben Sie das Frauennetzwerk für nachhaltige Entwicklung in Afrika, | |
Refdaf heißt es, gegründet. Mehr als zehntausend Frauen gehören | |
mittlerweile dazu. Was machen Sie? | |
Wir verbessern die Lebensbedingungen von Frauen im Senegal. Viele Frauen | |
sind Analphabetinnen. Viele kämpfen jeden Tag für ihr Essen. Wir | |
unterstützen sie mit Mikrokrediten, damit sie ökonomische Aktivitäten | |
unternehmen können. Viele Frauen verdienen ein wenig Geld, indem sie | |
Lebensmittel verkaufen. Deshalb verhandeln wir jetzt mit dem Magistrat, | |
weil wir eine Frauenmarkthalle in Dakar etablieren wollen. Damit Frauen | |
größere Mengen lagern und verkaufen können. Mit größeren Mengen können sie | |
etwas mehr Geld verdienen. Austauschraum nennen wir dieses Projekt. | |
Außerdem gründen wir eine Frauensiedlung in der Hauptstadt. Im Januar haben | |
wir angefangen, die ersten Häuser dort zu bauen. Ganz einfache Häuser sind | |
das. Die Frauen bauen selbst. | |
Eine Frauensiedlung – wozu wird diese gebraucht? | |
Bei einer Frauenversammlung in Dakar ist die Idee mit der Frauensiedlung | |
entstanden. Die Frauen sagten, ihr habt uns Geld geliehen, damit wir Handel | |
betreiben können. So können wir überleben. Aber wir wohnen unter schlimmen | |
Bedingungen. Ganze Familien nur in einem Zimmer ohne Strom, ohne Wasser. | |
Was kann das Netzwerk tun? | |
Warum muss es eine Frauensiedlung sein? | |
Wir sagen: Un toit, c’est un droit – ein Dach ist ein Recht. Aber nur ein | |
Prozent der Frauen im Senegal haben eine eigene Wohnung. Das ist sehr | |
wenig. Wir haben mit dreihundert Frauen, die ein Grundstück kaufen möchten, | |
vor ein paar Jahren eine Wohnkooperative gegründet und sie mit | |
Mikrokrediten unterstützt, damit sie ökonomische Aktivitäten entwickeln und | |
allmählich Geld sparen können. Jetzt ist es so weit, dass die ersten | |
hundert Parzellen für die Frauen gekauft werden konnten, auf einem | |
Grundstück, das die Stadt Dakar für die Wohnbebauung entwickelt hat – mit | |
Wasserzugang und Strom. Eine Parzelle kostet ungefähr 1.500 Euro. | |
Sollen nur Frauen da wohnen? | |
Nein. Aber die Häuser gehören den Frauen. Das macht ihr Leben sicherer. Sie | |
können nicht ihr Dach über dem Kopf verlieren, wenn die Männer sich | |
scheiden lassen und andere Pläne haben. Und die Häuser stehen zusammen, so | |
dass sich die Frauen unterstützen können. | |
Das Frauennetzwerk ist nicht das Einzige, was Sie gemacht haben. Sie hatten | |
schon viele verschiedene Leben – zum Beispiel als Sans Papiers, als | |
Papierlose in Paris. | |
Jeder kann verschiedene Leben haben. So verstehe ich das. Jetzt koordiniere | |
ich das Frauennetzwerk. In den Siebzigern war ich in Saarbrücken Studentin. | |
Geboren bin ich in Dakar im Senegal und dort zur Schule gegangen. | |
War es selbstverständlich, dass Sie zur Schule gehen konnten? | |
Ich bin in einem armen Viertel geboren. Glücklicherweise war mein Vater | |
fortschrittlich: Alle Kinder müssen zur Schule, sagte er. | |
Konnten Ihre Eltern lesen und schreiben? | |
Mein Vater hat es sich selbst beigebracht. Er kam vom Dorf, hatte ein | |
bisschen Abenteuerlust und ging in die Großstadt, die damals nicht so groß | |
war. Er konnte den Führerschein machen. Während der Kolonialzeit war er | |
dann Schulbusfahrer für französische Kinder. Das hat ihn vielleicht ein | |
wenig motiviert für die Bildung der Kinder. Meine Mutter wollte nicht, dass | |
ich zur Schule gehe. Sie kam auch aus einer armen Dorffamilie. Das war ja | |
noch vor dem Zweiten Weltkrieg, als die beiden nach Dakar gingen. Da konnte | |
sie nicht verstehen, dass ein Mädchen zur Schule gehen soll. | |
Was war das für eine Schule? | |
Die französische Schule, wo mein Vater die Kinder hinfuhr. Es gab nur | |
diese. Ich kam 1958, zwei Jahre vor der Unabhängigkeit des Senegal, zur | |
Schule. Als Senegalesen durften wir keine einheimische Sprache sprechen in | |
der Schule und es gab nur französische Lehrer. Aber ich war eine gute | |
Schülerin. Sobald ich schreiben konnte, habe ich den Leuten in unserem | |
Viertel geholfen beim Briefeschreiben. Und den Kindern, die nicht zur | |
Schule gingen, habe ich Lesen beigebracht. Nachts auf der Straße bei | |
Kerzenlicht. Strom gab es noch keinen. | |
Hat da Ihr soziales Engagement begonnen? | |
Soziale Gedanken sind mir früh gekommen. Das lag an dem armen Viertel, wo | |
wir wohnten. Weil ich die Leute immer beobachtet habe und nicht verstehen | |
konnte, warum sie so arm waren. Ich habe gesehen, dass die Frauen den | |
ganzen Tag arbeiten. Sie kochen, sie holen Wasser, sorgen für die Kinder. | |
Und die meisten Männer waren Handwerker oder arbeiteten in den | |
Fischfabriken, aber die verdienten sehr wenig. Das fand ich schockierend, | |
diese Armut. Das hat mich politisiert. Deshalb habe ich immer weiter | |
Unterricht gegeben, auch als ich auf dem Gymnasium und an der Universität | |
war. | |
Was haben Sie studiert? | |
Es wurde damals gerade die deutsche Abteilung an der Universität in Dakar | |
eröffnet. Ich habe zwei Jahre da Germanistik studiert und zwei Jahre in | |
Saarbrücken. | |
Wie war das? | |
Ich war vorher nie aus dem Senegal, noch nicht einmal richtig aus Dakar | |
rausgekommen. Ich flog zum ersten Mal. 1974 war das. Das war der erste | |
Schock. Und dann kam ich im Sommer an. Das war schön, aber ich fand es so | |
komisch, dass die Sonne nicht unterging. Wann kommt die Nacht, wann kommt | |
die Nacht – habe ich die ersten Tage immer gefragt. Und dann hat mich | |
erschrocken, wie die Leute sprachen. Saarländisch, das war ein Schock. Gudd | |
Morje, hand Se guud geschloofe? | |
Wie haben Sie es trotzdem ausgehalten? | |
Ich passe mich schnell an. Das ist mein Temperament. Ich liebe die Leute, | |
und egal, wo ich bin, in Dakar, in Paris, in Saarbrücken, es ist mir immer | |
gelungen, mit Leuten in Kontakt zu treten. Ich werde oft gefragt, hast du | |
keinen Rassismus angetroffen? Dann wundert man sich, wenn ich Nein sage. | |
Wahrscheinlich weil ich immer guten Kontakt gehabt habe mit den Leuten. | |
Haben Sie etwas lieb gewonnen in Deutschland? | |
Von der Literatur den Schimmelreiter. Er will was für andere machen, was er | |
richtig findet. Und sowieso die deutsche Sprache. Zwei Jahre war ich in | |
Saarbrücken. Dann bin ich zurück in den Senegal und wurde Deutschlehrerin | |
in Dakar am selben Gymnasium, wo ich zur Schule gegangen war. Aber den | |
armen Kindern habe ich immer weiter Schreiben und Lesen beigebracht. Und | |
den Frauen, die Analphabetinnen waren. | |
Wie kam es dann, dass Sie 1996 nach Frankreich gingen? | |
Ich habe lange unterrichtet, aber wegen dem Kreidestaub hatte ich immer | |
Asthmaanfälle. Das war schlimm. Als meine Tochter nach dem Abitur nach | |
Paris zum Studium ging, bin ich mitgefahren. Im März 1996 fing gerade die | |
Bewegung der Sans Papiers, der Leute ohne Aufenthaltspapiere, in Frankreich | |
an. Meine Tochter sah das im Fernsehen und sagte: Mama, da haben Afrikaner | |
eine Kirche besetzt und verlangen, dass sie anerkannt werden. Am nächsten | |
Tag ging ich hin und blieb vier Jahre. Ich habe verstanden, dass ich da | |
etwas tun kann, um die Welt schöner zu machen. | |
Wurden Sie selbst eine Sans Papiers? | |
Nachdem meine Papiere abgelaufen waren, wurden sie nicht mehr verlängert. | |
Die Polizei verlangte immer, dass ich aufhöre, bei den Sans Papiers | |
mitzumachen. Dann würden sie meine Papiere verlängern. Kommt nicht in | |
Frage, habe ich gesagt. | |
Warum war die Bewegung der Sans Papiers wichtig? | |
Weil die Sans Papiers mich an die Armut erinnert haben, in der ich | |
aufgewachsen war. Und vielleicht habe ich da verstanden, warum die Leute | |
damals so arm waren. | |
Warum? | |
Sie waren arm, weil unsere Länder ökonomisch und politisch abhängig waren. | |
Frankreich als Kolonialmacht hat die Interessen von Frankreich bei uns | |
verteidigt. Zum Beispiel hat die Landwirtschaft nicht für die | |
senegalesische Bevölkerung Nahrungsmittel produziert, sondern für die | |
französische. Statt Hirse und Reis und dem, was die Bevölkerung in Afrika | |
ernährt, wurden Erdnüsse für den Export angebaut. Nach der Unabhängigkeit | |
1960 ging das weiter. | |
Wobei die politischen Turbulenzen im Senegal sich nach der Unabhängigkeit | |
in Grenzen hielten. | |
Das ist vielleicht das Schlimmste. | |
Wieso? | |
Frankreich ging und blieb. Frankreich konnte gehen, weil es gut vertreten | |
war bei der neuen senegalesischen, schwarzen Bourgeoisie, die immer reicher | |
wurde und die Frankreichs Interessen verteidigte. Das ist das Schlimmste | |
meiner Meinung nach. Es gibt einen Witz: Ein paar Jahre nach der | |
Unabhängigkeit fragten sich die Leute: Wann geht diese Unabhängigkeit | |
endlich zu Ende? | |
Wie haben Sie diese Zusammenhänge dann bei den Sans Papiers thematisiert? | |
Schauen Sie, der damalige französische Innenminister kam zu uns in die | |
Kirche und sagte: Nein, das kommt nicht in Frage, dass Leute ohne gültige | |
Aufenthaltspapiere hier bleiben. Diese Leute müssen alle abgeschoben | |
werden. Da habe ich gesagt: Aber Monsieur Debré, die Sans Papiers, die | |
fallen nicht vom Himmel. Jeder von denen hat eine Geschichte und die ist | |
mit Frankreich verbunden. Die Afrikaner, die die Kirche Saint-Bernard | |
besetzt hatten, die kommen fast alle aus ehemaligen französischen Kolonien. | |
Es ist doch kein Zufall, dass wir frankophone Sans Papiers heute in | |
Frankreich sind. Die Armut treibt die Leute dazu, ihre Länder zu verlassen. | |
Wie wurden Sie Sprecherin der Sans Papiers? | |
Gleich am ersten Tag, als ich da war, habe ich zwei Versammlungen | |
organisiert. Sie hatten den ältesten Besetzer zu ihrem Sprecher gemacht. | |
Ich habe sofort gesehen, dass er es nicht alleine schafft. Ich schlug ein | |
Team von Sprechern vor, in dem auch Frauen sein sollten. Nein, nein, Frauen | |
nicht, war die erste Reaktion. | |
Woher kommt Ihre Parteinahme für die Frauen? | |
In der besetzten Kirche Saint-Bernard haben auch Männer feststellen müssen, | |
wie wichtig die Frauen in diesem Kampf der Sans Papiers waren. Die Männer | |
sagten oft: Vielleicht sollten wir es lassen und zurückgehen in die Heimat. | |
Aber da sagten die Frauen: Nein, wir haben angefangen und wir werden | |
weitermachen. Wenn ihr Männer gehen wollt, geht. Wir bleiben hier. Ohne die | |
Frauen hätten wir es am Ende nicht geschafft, dass die Sans Papiers damals | |
fast alle legalisiert wurden. | |
Vier Jahre lang waren Sie bei den Sans Papiers. In der Zeit waren Sie | |
Demonstrantin, Putzfrau, Gefangene, Streitschlichterin, auf Bewährung | |
Verurteilte und Preisträgerin – Sie haben die Carl-von-Ossietzky-Medaille | |
der Liga für Menschenrechte erhalten. | |
Ja, ich war das alles. Sogar Hebamme war ich. Einmal brachte eine der | |
Besetzerinnen in der Kirche ihr Kind zur Welt. Madjiguène, komm, komm, | |
riefen die Frauen. | |
Im Jahr 2000 sind Sie in den Senegal zurück. Warum? | |
Ich wollte schon viel früher nach Hause. Ich war ja nicht nach Paris | |
gefahren, um dort vier Jahre zu bleiben. | |
Und dann? | |
Als ich zurückkam, sind die Frauengruppen, die ich früher unterstützt | |
hatte, gekommen und haben gesagt, wir sind stolz auf dich. Wir haben immer | |
Fernsehen geguckt. Das war toll, wie ihr den Protest organisiert habt. Und | |
da haben sie gefragt: Aber was machen wir jetzt? Da kam die Idee, alle | |
diese Gruppen zu vernetzen und das Frauennetzwerk für nachhaltige | |
Entwicklung in Afrika zu gründen. | |
Das klingt alles so einfach. Wie gelingt es Ihnen, die Frauen über so lange | |
Zeiträume zu motivieren? | |
Die Frauen sind motiviert, weil sie ihre Interessen darin wiederfinden. Sie | |
wissen, am Ende werden sie was für sich haben. Wenn es uns gelingt, die | |
Frauensiedlung und die Austauschräume aufzubauen, dann werden Frauen | |
wirklich finanziell unabhängig vom Staat und den Männern. Sie werden gut | |
leben können und ihre Kinder zur Schule schicken können. | |
Wenn man Sie hört, hat man den Eindruck, nur die Frauen tun was. | |
Ja, die Männer machen nicht viel. Die Frauen arbeiten viel. Auch in der | |
Landwirtschaft, obwohl sie kein Land besitzen. Wenn ich in die Regionen | |
fahre, dann sehe ich nur Frauen auf den Feldern. Im Reisanbaugebiet, da | |
stehen nur Frauen im Wasser. In den Tomatenfeldern im Norden, da arbeiten | |
nur Frauen auf Feldern, die ihnen nicht gehören. | |
Erfinden Sie die Ökonomie neu aus der Perspektive von Frauen? | |
Männer haben im Senegal seit fünfzig Jahren die Macht. Und da sehen wir die | |
Ergebnisse. Es ist Zeit, Frauen endlich Erziehung und Ausbildung zu | |
garantieren und ihnen auch Verantwortung zu übertragen. Wenn genügend | |
Frauen in jeder Instanz vertreten sind, dann können wir sagen, Afrika hebt | |
den Kopf aus dem Wasser. | |
Sie meinen, Frauen in Afrika haben nichts zu verlieren? | |
Ja, das meinen wir. | |
■ Waltraud Schwab ist sonntaz-Reporterin und Feministin | |
6 Feb 2010 | |
## AUTOREN | |
WALTRAUD SCHWAB | |
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