# taz.de -- Paralleluniversen überall | |
> Hohen Druck erzeugen: Mit übermenschlicher Geschwindigkeit rasen die | |
> Stücke von Roland Schimmelpfenning auf ihre Figuren zu und schlucken sie | |
> manchmal einfach von der Bildfläche weg. Porträt des Autors, dessen Stück | |
> „Auf der Greifswalder Straße“ morgen am Deutschen Theater herauskommt | |
VON KATRIN BETTINA MÜLLER | |
Von Gefühlen überfallen, von der Liebe überfahren werden. Selbst die | |
Umgangssprache kennt diese Formulierungen, und doch ist es schwer, zu | |
begreifen, was in solchen Situationen eigentlich abläuft. Das neue Stück | |
von Roland Schimmelpfennig, „Auf der Greifswalder Straße“, das morgen im | |
Deutschen Theater uraufgeführt wird, ist voll von solchen Momenten der | |
Plötzlichkeit. Nicht nur die Liebe wirft da eine Verkäuferin bei Obst und | |
Gemüse so heftig aus ihrer Bahn, dass keine der gewohnten Verhaltensweisen | |
mehr funktioniert. Es gibt noch ganz andere Anfälle. Ein | |
Tabakladenbetreiber wird von fremden Sprachen heimgesucht, und in einem | |
jungen Mädchen sehen andere plötzlich einen Wolf. | |
„Sieben Jahre lang bin ich die Greifswalder Straße langgelaufen,“ erzählt | |
Roland Schimmelpfennig, „vorbei an vielen Geschäften, die leer stehen. Als | |
die vage Idee entstand, ein Stück über diese Zeit zu schreiben, habe ich | |
gedacht, da steckt noch was anderes drin. Die Straße hat mehr verdient als | |
Küchenrealismus, das bin ich ihr schuldig.“ Sieben Jahre lang wohnte er in | |
der Nähe der Greifswalder Straße und zog erst in eine größere Wohnung, als | |
vor fünf Monaten das zweite Kind kam. Der Mann, der die Liebe in seinen | |
Stücken oft wie einen tödlichen Überfall schildert, lebt mit seinen Kindern | |
und seiner Freundin Justine del Corte, Drehbuchautorin und Schauspielerin, | |
zusammen. | |
Das Rätselhafte in seinen Stücken lässt mir beim Lesen keine Ruhe. Wie | |
schon Gestorbene den eigenen Tod nicht bemerken und zwischen den Lebenden | |
umhergehen („Auf der Greifswalder Straße“). Wie ein Mann in einem | |
Landschaftsbild verschwindet („Vorher/Nachher“). Wie die Einheit einer | |
Armee, die in einem Dschungelkrieg vernichtet wurde, in manchen Nächten | |
wieder mitmischt in einem Krieg, dessen Fronten nicht mehr zu durchschauen | |
sind („Für eine bessere Welt“). Paralleluniversen überall, die Existenzen | |
wie Schwarze Löcher schlucken. | |
Man kennt solche Motive aus fantastischen Filmen, aber in den Dramen ist | |
die Überraschung größer. Wahrscheinlich, weil Schimmelpfennig sie in den | |
Duktus einer Sprache einbettet, die aus dem Nahen und Vertrauten kommt. | |
Alltäglich und unspektakulär sind seine Figuren zunächst, auf sympathische | |
Weise aus dem Leben gegriffen – und schon rast Ungeheuerliches auf sie zu. | |
Das Vertraute und das Befremdliche wachsen in Schimmelpfennigs Stücken | |
ständig auseinander hervor, das eine pulsiert im anderen. | |
Oft werden Regieanweisungen zu Texten der Figuren, Dialoge wechseln mit | |
Bildbeschreibungen und Erzählungen, Zeitpunkte und Orte wechseln. In „Die | |
Frau von früher“ gleitet das Geschehen wie auf Schienen in der Zeit ständig | |
vor und zurück. Manchmal zoomt sich der Text einer Figur langsam an einen | |
Bildausschnitt heran, beginnt mit einem Satellitenbild und endet an einer | |
Kaffeetafel („Für eine bessere Welt“). All das erzeugt einen Sog, als ob | |
man einen Film lesen würde. | |
Für den Film zu schreiben, aber sagt Roland Schimmelpfennig, hat ihn nie | |
interessiert. Wohl aber, sich mit der Unmöglichkeit der Beschreibung von | |
Realität und mit der Überfütterung von Bildern, die an ihre Stelle treten, | |
auseinander zu setzen. „Über kurze Strecken nah ranzugehen und hohen Druck | |
aufzubauen, das macht für mich gerade das Theatralische aus. Das ist auch | |
eine Herausforderung für das Theater.“ | |
Wie in „Angebot und Nachfrage“, im November letzten Jahres in Hamburg | |
uraufgeführt: Erzählt wird vom ungleichen Paar Ruby und Joseph und ihren | |
Versuchen, neue Muster der Identität aufzubauen, wenn die alte Sinnstiftung | |
Arbeit nicht mehr funktioniert. Ruby bewirbt sich als Krokodildarstellerin, | |
und darüber wird die Arbeit am eigenen Persönlichkeitsprofil auf sehr | |
verquere Weise sichtbar. Beide sind zudem Sammler von Eindrücken und listen | |
endlos gesehene Situationen aus zweiter Hand auf – zum Beispiel Todesarten | |
und Tierbilder aus dem Fernseher –; ein Wirklichkeitsüberfluss in den | |
Bildern steht einem erfahrungsarmen Leben gegenüber. | |
Roland Schimmelpfennig, 1967 in Göttingen geboren, hat seit Anfang der 90er | |
fast 20 Stücke und Hörspiele geschrieben. Heute werben Theater in Berlin, | |
Hamburg oder Bochum für sich mit einer Uraufführung von Schimmelpfennig, | |
als „dem meistgespielten deutschen Dramatiker“. Ein solches Leben stellt | |
man sich bewegt vor und nach außen gerichtet. Tatsächlich aber bevorzugt | |
Schimmelpfennig die Zurückgezogenheit. So ein Prädikat wie „meistgespielter | |
Autor“, sagt er, sei eigentlich irreal: „Mein Leben hat sich dadurch nicht | |
geändert.“ | |
Schimmelpfennig kann seine Stücke loslassen. Obwohl oder vielleicht gerade | |
weil er einige Jahre am Theater gearbeitet hat, als Regieassistent an den | |
Kammerspielen München und als Dramaturg an der Schaubühne Berlin, ist er an | |
einer Beteiligung an den Proben nicht interessiert. „Das erzeugt doch nur | |
beklommene Stimmung, niemand traut sich dann zu sagen, was ihm stinkt.“ | |
Komödie oder Tragödie – das lässt sich von seinen Stücken nicht so einfach | |
sagen. Ihre Anziehungskraft liegt nicht zuletzt darin, im Verlauf öfter ihr | |
Temperament zu verändern. Sie beginnen leichtfüßig, sind spielerisch und | |
werden plötzlich erschreckend. „Wenn sich das Stück wie eine Wanderdüne | |
bewegt, ist es gut; alles andere würde mich misstrauisch machen“, | |
beschreibt er das Spiel mit dem, was man nicht auf der Rechnung hat. Auch | |
wenn viele Motive wiederkehren, die Themen seiner Stücke umfassen ein | |
großes Spektrum. „Ich suche immer wieder Stoffe, die andere Formate | |
brauchen“, sagt Schimmelpfennig. Obwohl man viele Spuren von aktuellen | |
Schieflagen des Politischen und Sozialen in ihnen findet, sind sie trotzdem | |
weder Sozialdrama noch Debattenstück. Ihre Qualität ist vielmehr, solche | |
Kategorien zu unterlaufen. | |
„Auf der Greifswalder Straße“. Nachzulesen in Theater heute, Januar 2006. | |
15 weitere Stücke in: Roland Schimmelpfennig: „Die Frau von früher“. | |
Fischer Taschenbuch 2004 | |
26 Jan 2006 | |
## AUTOREN | |
KATRIN BETTINA MÜLLER | |
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